Drei Probleme für Zauberer Der "Fluch der guten Tat" lastet auf DFB-Star Wirtz
28.06.2024, 12:02 Uhr
Von Florian Wirtz werden unmögliche Dinge erwartet.
(Foto: picture alliance/dpa)
Bislang spielt Florian Wirtz eine gute Heim-Europameisterschaft. Aber der kleine Zauberer in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft hat ein Problem: Von ihm werden unmögliche Dinge erwartet.
Das mit den Erwartungen ist so eine Sache. Manchmal kann das komplett befreiend sein. Niemand rechnet ernsthaft damit, bei einer Fahrt mit der Deutschen Bahn quer durchs Land auch wirklich pünktlich anzukommen. Bundeskanzler Olaf Scholz muss keine völlig euphorisierende Reden halten, die zu Tränen rühren. Und Bundestrainer Julian Nagelsmann ist im Prinzip schon ein Held, weil er die DFB-Elf, die vor acht Monaten noch am Boden lag, in die K.-o.-Runde geführt hat. Also eigentlich.
Manchmal können Erwartungen auch zum Problem werden. Nämlich dann, wenn sie zu groß werden. So ist es ein bisschen bei Florian Wirtz. Der 21-Jährige spielt derzeit eine Heim-Fußballeuropameisterschaft auf gutem Niveau. Wenn man das so formuliert, schreit niemand empört laut auf. Er hat direkt im Eröffnungsspiel gegen Schottland sein Tor gemacht, danach fiel er etwas ab. Trotzdem hat Wirtz brillante Pässe gespielt, Chancen kreiert, Zweikämpfe gewonnen. Seine Passgenauigkeit liegt bei fast 94 Prozent.
Also eigentlich alles okay, oder? Irgendwie schon und irgendwie nicht so richtig. Am Mittwoch saß Rudi Völler im EM-Quartier der deutschen Fußball-Nationalmannschaft in der riesigen Presseturnhalle und schlürfte auf dem Pult seinen Kaffee. Auf Wirtz angesprochen, sagte der DFB-Sportdirektor relativ verklausuliert, dass da noch Luft nach oben ist. Es sei "der Fluch der guten Tat", dass seine Auftritte, wie beim 1:1-Remis gegen die Schweiz, "als Durchschnitt bewertet" werden, so formulierte er es.
Das erste Problem: die Position
Denn, das ist das Problem mit Erwartungen, irgendwie könnte er noch besser sein. Wirtz war in der abgelaufenen Saison das Herzstück der Sensationsmannschaft Bayer Leverkusen. Der kleine Magier verzauberte die Fußballnation immer wieder aufs Neue: hier ein kluger Pass, da ein unmögliches Dribbling, dort seine unfassbare Handlungsschnelligkeit. Er brachte Leute ins Schwärmen, die schon die ganze Fußballwelt gesehen haben: "Es geht nicht immer darum, die brillanteste Aktion zu machen, sondern die beste und klügste. Florian kann das", sagte sein Trainer Xabi Alonso über ihn. Doch bei der Nationalelf hat man nicht immer das Gefühl, dass da auch der Leverkusen-Wirtz auf dem Platz steht. Nach dem Schottlandspiel stachen noch zwei überragende Pässe gegen die Schweiz hervor. Vielmehr dann auch nicht.
Wirtz selbst kann dafür gar nicht mal so viel, es hängt eher mit seiner Position zusammen. Er wirbelt im Nagelsmannschen Rollensystem an der Seite von Jamal Musiala. Die beiden "Zauberer" bekommen Hilfe von Kapitän İlkay Gündoğan und Fußball-Papa Toni Kroos. Das Vierergespann hat bislang ausreichend bewiesen, dass es funktioniert. Doch es ist eine andere Aufteilung als bei Bayer Leverkusen. Auch dort lenkt mit dem Schweizer Granit Xhaka die Geschicke der Werkself auf Kroos-Art. Das war's aber mit den Gemeinsamkeiten: Im Klub spielt Wirtz in der zentralen Zehnerrolle, ist ein Freigeist, dort fühlt er sich am wohlsten. Bei der DFB-Elf weicht er dagegen ein bisschen auf den Flügel aus. Die Mitte gehört Gündoğan und Mittelstürmer Kai Havertz. Wirtz' kongenialer Partner, Musiala, scheint damit deutlich besser klarzukommen, weil der auch beim FC Bayern immer mal wieder auf eine Außenposition rückt.
Es ist nicht der einzige Unterschied zur Werkself. Auch die Grundstruktur ist eine andere: Bei Bayer Leverkusen hat Wirtz pfeilschnelle Flügelstürmer an seiner Seite, die ihm viel Platz verschaffen. Die beiden Schienenspieler Jeremie Frimpong und Alejandro Grimaldo beackern die Seitenlinien, Wirtz kann so in der Mitte viele Wirtz-Dinge tun. Nagelsmann spielt mit einem anderen System, er setzt nicht auf solch schnelle Flügelspieler. Das macht das DFB-Spiel auch berechenbarer, gegen Ungarn ließ sich das gut beobachten: Das Spiel ballt sich dann vor allem rund um den Strafraum, teilweise sogar mit den drei ungarischen Angreifern, die mit verteidigen. Wenig Platz also für Wirtz und Musiala.
Das klassische Problem
Hinzu kommen dann noch zwei klassische Probleme: Die meisten EM-Stars kommen aus einer sehr, sehr langen Saison. Bei Wirtz war das aber noch einmal eine Ecke kräftezehrender. Die Werkself machte die Meisterschaft zwar schon früh klar, jagte aber noch die sagenhafte Ungeschlagenserie. Das Alonso-Team musste deshalb häufig bis tief in die Nachspielzeit noch viel investieren.
Das bedeutete auch: Obwohl Wirtz in den vergangenen Wochen angeschlagen war, wechselte der Trainer ihn immer wieder doch noch ein. Es wurde schon seine Aura gebraucht, wie im Europa-League-Halbfinale gegen die AS Rom, als die Partie im Rückspiel zu kippen drohte. Wirtz selbst war da schon sichtlich gehemmt, nicht mehr ganz so handlungsschnell und dynamisch. So stand er am Ende in 49 Pflichtspielen auf dem Rasen, nur Kapitän Gündoğan kommt auf mehr Einsätze (51).
Klar, auch die Real-Madrid-Stars Kroos und Antonio Rüdiger sind nicht weit von diesen Zahlen entfernt. Es gibt aber einen Unterschied zu Wirtz: Der verpasste die Katar-WM wegen eines Kreuzbandrisses, den er sich Anfang 2022 zugezogen hatte. Die aktuelle Spielzeit ist seitdem die erste Saison, die er weitestgehend verletzungsfrei übersteht - und dann auch noch auf höchstem Niveau. Ein Fußballerkörper kann ein fragiles Gebilde sein und braucht vor allem viel Spielrhythmus, um nicht im Verletzungskreislauf zu landen.
Und, was man auch gerne vergisst: Klar, wenn Wirtz bei der Pressekonferenz neben Musiala sitzt, versprühen beide eine Lockerheit, die ansteckend ist. Aber: Er ist erst 21 Jahre alt und schon jetzt ein Publikumsliebling, einer der Hoffnungsträger der Heim-EM. Die Autogrammstunden mit ihm sind komplett überlaufen, rund um die DFB-Spiele lassen sich viele Fans beobachten, die Trikots mit seiner Nummer 17 auf dem Rücken tragen. Auch auf ihm lastet mit der Heim-Europameisterschaft ein gewaltiger Druck, wie alle anderen DFB-Stars steht er im Dauerfokus. Gegen Dänemark (21.00 Uhr/ZDF, MagentaTV und im ntv.de-Liveticker) spielt er erst sein erstes K.-o.-Spiel bei einem großen Turnier.
Einer, der all das schon hinter sich hat, ist Rudi Völler. Als er sein erstes Turnier spielte, die EM 1984, war er schon 24 Jahre alt. Da war er schon Fußballer des Jahres, deutscher Vizemeister und Torschützenkönig. Heute ist er vor allem eines: äußerst zufrieden, was die Nationalelf angeht. Und auch über das Spiel von Wirtz. Gemeinsam mit Musiala sei das "immer mit einem gewissen Risiko verbunden", sagte er unter der Woche, "aber das ist das, was wir brauchen - den Mut, in die Dribblings zu gehen". Und das machen in der Fußballwelt gerade nicht viele so wie das DFB-Duo. Auch deshalb sind die Erwartungen so hoch.
Quelle: ntv.de