Nur Liebe für Ronaldo und Pepe Die "GOAT"-Väter beenden die riesige Türken-Party

Die türkische Fußball-Nationalmannschaft kassiert einen ersten herben Dämpfer bei der EM. Auf den Auftaktsieg gegen Georgien folgt eine Niederlage gegen Portugal. Gegen den Mitfavoriten ist die Türkei in allen Belangen unterlegen. Auch wegen zwei "Opas".

Am späten Samstagvormittag hatte sie sich bereits gelöst, fortan war sie mit immer größerer Wucht auf das alte Westfalenstadion zugerollt, die türkische Lawine der Glückseligkeit. 30.000 Fans waren mitgelaufen, flankiert von einem Autokorso, der über den Innenstadtring rauschte. Hupen, singen, schreien. Nach dem nicht zu fassenden EM-Spektakel gegen Georgien am Dienstag stand der nächste Feiertag an. Im zweiten Spiel der Gruppe wartete das Spitzenteam Portugal. Ein großer Gegner, ein nächster großer Gig im Tempel. Wobei die Frage erlaubt sein darf, ob die Party seither überhaupt eine Pause eingelegt hatte. Dieses Mal kübelte es nicht, die Sonne knallte. Blau-Weiß von oben, Rot-Weiß am Boden. Im schwarz-gelben Land keine bevorzugten Kombinationen.

Aber Borussia Dortmund hat dieser Tage nichts zu melden, die wichtigsten Dinge hatten sie ja ohnehin direkt vor dem Start der Europameisterschaft erledigt. Trainer weg, Mats Hummels weg. Am Nachmittag, drei Stunden vor Anpfiff, hatte die Lawine das Stadion erreicht. Dieses Mal knisterte, knallte und rappelte es allerdings nicht ganz so aberwitzig wie noch am Dienstag. Vielleicht doch ein paar Post-Party-Vibes? Richtig laut wurde es zum ersten Mal, als der Name Cristiano Ronaldo etwa 30 Minuten vor Spielbeginn aufgerufen worden war. Eine emotionale Wallung entlud sich, irgendwo zwischen Freund-Feind-Atmosphäre. Der, Pardon, alte Mann stand wieder in der Startelf und wurde in der ersten Halbzeit zum entscheidenden Spieler für sein Team, weil in den entscheidenden Situationen alles gegen ihn läuft. Nach 90 Minuten stand ein klarer 3:0-Sieg und vorerst das Ende der Party.

Beim 1:0 rutscht der 39-Jährige im Zentrum aus. Der abgefälschte Ball flutscht bis zu Bernardo Silva durch, der erledigt die Dinge staubtrocken (21.). Vor dem 2:0, dem dümmsten Tor dieser EM, läuft Ronaldo beim Konter den falschen Weg. Oder João Cancelo spielte eben falschen Pass. Beide heben die Arme, schalten für den Moment ab. Als die Blicke noch auf dem frustrierten Superstar lasten, der hart genervt vor sich hin schnaubt, ist der Ball aber plötzlich drin. Samet Akaydin hatte ihn ohne Not zu seinem Torwart zurückspielt, aber nicht geschaut, wo der steht. Das sieht blöd aus. Altay Bayindir hastet zurück, vergebens, 0:2 (28.). Die Fans heben die Arme, die Trainer, die Betreuer. Sie alle können nicht fassen, dass ihre große Party so krachend, so bitter, so doof endet.

Türkei-Coach muss sich Güler-Verzicht rechtfertigen

Türkei - Portugal 0:3 (0:2)

Tore: Tore: 0:1 Silva (22.), 0:2 Akaydin (29., Eigentor), 0:3 Fernandes (56.)
Türkei: Bayindir - Çelik, Akaydin (76. Demiral), Bardakcı, Kadioglu - Çalhanoğlu, Ayhan (59. Yüksek) - Akgün (70. Güler), Kökçü (46. Yazici), Aktürkoğlu (59. Yildiz) - Yilmaz. - Trainer: Montella
Portugal: Costa - Cancelo (69. Semedo), Dias, Pepe (83. Antonio Silva), Mendes - Palhinha (46. Rubén Neves), Vitinha (88. Joao Neves), Fernandes - Bernardo Silva, Ronaldo, Leão (46. Neto). - Trainer: Martínez
Schiedsrichter: Felix Zwayer (Berlin)
Gelbe Karten: Bardakcı (2), Akaydin, Çelik - Leão (2), Palhinha
Zuschauer: 62.000 (ausverkauft) in Dortmund

Anders der portugiesische Block. Nach einem nicht sehr inspirierten Auftritt gegen die Tschechen war die Titelfähigkeit des Teams, das nahezu ausnahmslos aus Spielern zusammengestellt ist, die bei Topvereinen tragende Rollen spielen – und Pepe (mehr dazu später), zumindest diskutiert worden. Aus dem Lager der Zweifler werden viele wieder verschwinden. Das Spiel gegen die Türkei war vielleicht nicht mitreißend, aber dermaßen seriös und souverän durchgespielt, dass man sich hernach in dieser Mannschaft ohne große Fantasie einen Champion vorstellen kann. Auf den Rängen verschoben sich die Stimmengewichte. Die Portugiesen sangen, die Türken schoben Frust. Nein, so hatten sie sich diesen Abend nicht vorgestellt. Auch wenn sie sich vorher sehr einig gewesen waren, dass dieses Spiel sehr schwer werden würde.

Den ersten Dämpfer hatten sie erhalten, als die Aufstellung im Stadion verlesen worden war. Mit Mert Müldür und dem Juwel Arda Güler fehlten zwei der Besten aus dem ersten Duell gegen Georgien in der Startelf. Und auch Kenan Yildiz, ein weiteres großes Talent, durfte dieses Mal nicht von Beginn an ran. Ein leises Murren. Was war da los? In Güler hat sich der türkische Anhang spätestens am Dienstag schockverliebt. Der 19-Jährige, der bei Real Madrid unter Vertrag steht, dort aber erst in der Schlussphase der Saison auf nennenswerte Minuten kam, die er mit sechs Toren sehr gut zu nutzen wusste, hatte sich beim EM-Auftakt in die Herzen gedribbelt. Seine Aktionen sind von einer anderen Dynamik und technischen Finesse als die vieler seiner Kollegen. In der Türkei sehen sie ihn dem jungen Mann schon einen potenziellen Weltstar. Nach solch einem sehnen sie sich.

Was wäre das für eine schöne Geschichte gewesen: Der Junge, der die Welt erobern will, gegen den Mann, der die Welt fast zwei Jahrzehnte erobert hat. Aber nein, Vincenzo Montella entschied sich dagegen und durfte sich danach kritische Fragen anhören. "Wenn man verliert, ist der erste Feind immer der Trainer", redete sich der 50-Jährige in eine kleine Rage. "Die, die nicht gespielt haben, sind oft die wichtigsten Spieler für die Medien. Arda war einfach nicht fit genug. Er konnte nicht mehr als 30 Minuten ohne größeres Risiko spielen." Sein Verhältnis zu Güler sei intakt, betonte Montella. "Wir haben eine großartige Beziehung. Er ist ein kluger Kopf. Er ist sehr leidenschaftlich für sein Land. Obwohl er wusste, dass er eine Verletzung riskiert, wollte er spielen."

Die "GOAT"-Väter

In der 70. Minute kam er schließlich. Ein kleiner Koffein-Boost gegen die Post-Party-Vibes. Großes gelang dem Youngster nicht mehr. Das galt auch für Ronaldo. Die Partie hatte längst in den Ruhemodus geschaltet. Einzig die Flitzer sorgten noch für aufsehenerregende Momente. Die portugiesische Fußball-Herde hatte sich zurück auf die Favoritenweide getrieben. Angeführt von zwei Alphamännchen, für die eine neue Kategorie im Weltfußball geschaffen werden muss: die "GOAT"-Väter, oder aber die "größten Opas aller Zeiten." Der Abwehrmann Pepe, mittlerweile geschlagene 41 Jahre und nicht den Hauch müde, seit Generationen bekannt für seine knallharten Tacklings und zur Saison (noch) vereinslos, verzauberte das ganze Stadion. Und Ronaldo, den lieben sie, egal wo auf diesem Planeten. Ja, am Anfang hatten sie gepfiffen, aber als der Wüsten-Star das 3:0 vorbereitete, als er generös zu Bruno Fernandes weitergeleitet hatte, da waren sie sich im Kollektiv einig: Diesen Ausnahmespieler gesehen zu haben, das ist es wert, den Frust über das Ergebnis zu überwinden. Sie riefen seinen Namen.

Vermutlich gibt es weltweit keinen Spieler, der so sehr polarisiert, aber der es eben auch schafft, die Menschen mit seinen magischen Momenten zu vereinen. Die legendäre Siuuuuuu-Geste sprangen vor dem Spiel nicht nur die Portugiesen ein, auch türkische Fans mischten sich dazu. Dabei ist Ronaldo sportlich längst nicht mehr der Schlüsselspieler seiner Mannschaft. Vieles läuft über Rafael Leão, der nun aber wegen seiner zweiten Schwalbe (jeweils Gelb) gesperrt ist. Der überragende Vitinha öffnet das Spiel immer wieder über den Außenstürmer.

Etwas, das Ronaldo durchaus nervt. 30 Ballkontakte hatte er nur. Es hätten viele mehr sein sollen. Das machte er immer wieder deutlich. Er sprang frustriert in die Luft, winkte ab. Auf der letzten Linie der Türken tanzte er als lauernder Derwisch. Wann immer sich einer seiner genialen Vorderleute mit dem Ball am Fuß offensiv aufdrehte, trat er, sprintete erst quer, dann tief. Es waren absurd viele Läufe für wenig Ertrag. Aber egal. Den Fans reicht mittlerweile eine Aktion von ihrem Giganten, um dahinzuschmelzen. Er lieferte sie. Und sogar noch eine zweite. Als ein kleiner Bub in einer kleinen Unterbrechung aufs Feld lief, für ein Selfie, beugte sich Ronaldo zu ihm hinab, lächelte. Das Stadion tobte. Was für ein Typ ihre Legende doch ist.

"Ich glaube, wir haben heute etwas ganz Besonderes gesehen", sagte Nationaltrainer Roberto Martinez: "Ein großartiger Stürmer geht auf den Torwart zu und sucht nach einem Assist. Was für ein großartiges Beispiel!" Damit stieg CR7 zum Spieler mit den meisten EM-Assists auf (acht Vorlagen). In seinem 27. EM-Spiel - auch diese Bestmarke festigte er - hätte er den Treffer selbst erzielen können, aber er entschied sich anders. Nicht immer in seiner Karriere wäre das sicher so gewesen. "Das sollte in den Akademien in ganz Portugal gezeigt werden, diese Selbstlosigkeit - die Tatsache, dass es immer um das Team geht", lobte Martinez. Ronaldo sei "Torjäger durch und durch". Aber: "Pässe zu spielen, ist manchmal wichtiger, als Tore zu schießen."

Ein wunderbares Vorbild für Portugals Fußball

Eine Legende ist auch Pepe. In Portugal sowieso, aber auch in der Türkei. Dort hatte er nach seinen erfolgreichen Jahren bei Real Madrid ein kurzes Intermezzo bei Besiktas gegeben. Pepe knallte nach 21 Minuten, es stand noch 0:0, in den ansprintenden Orkun Kökcü. Was für eine Grätsche! Was für ein Timing! Einen Hauch später und man hätte über Rot für den Routinier und großen Schmerzen für seinen Gegenspieler reden müssen. Aber das ist halt Pepe. Immer robust am Mann, nicht immer fehlerfrei in seiner Karriere, aber doch so zuverlässig, dass er bei den Königlichen um Ronaldo nicht wegzudenken war. Er interpretiert das Handwerk des Innenverteidigers anders als die eleganten Centurios Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci, die 2021 mit Italien Europameister wurden. Der 41-Jährige schwingt die grobe Klinge, nicht unfair.

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Und in Portugal können sie kaum fassen, dass der Mann nicht zu altern scheint. "Wenn ich neutral wäre und Pepe sehen würde, würde ich nie glauben, dass er 41 ist", sagte Martinez später. Nach 83 Minuten nahm er ihn vom Feld. Die Fans beider Teams sangen seinen Namen. "Er ist ein Vollprofi. Ein wunderbares Vorbild für Portugals Fußballs." Pepe hatte dirigiert, war in den wenigen kritischen Phasen in der ersten Halbzeit da. Wenn seine Mitspieler kurz die Orientierung verloren, behielt er sie. Nach jeder erfolgreichen Aktion verneigte sich der portugiesische Block und sang seinen Namen. Eine Heldenehrung. Zwei offensiv richtig gute Momente hatten die Türken, nach sechs Minuten, als Kerem Aktürkoğlu bedrängt nicht sauber aus kurzer Distanz abschließen konnte. Und nach 31 Minuten, als der gleiche Spieler nach einem Dribbling aufs kurze Eck schoss.

Für die Türken geht es nun ins Gruppenfinale gegen die Tschechen. Ein Punkt reicht, um als Zweiter der Gruppe weiterzukommen. Nach aktuellem Stand würde es dann in Leipzig gegen die Niederlande gehen. Portugal trifft zum Abschluss auf Georgien. Womöglich rotiert der Trainer, gönnt seinen "GOAT"-Vätern eine Pause. Er braucht sie noch. Portugal hat Großes vor, daran haben sie an diesem Samstagabend keine Zweifel gelassen.

Quelle: ntv.de

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