Deswegen liebt man Fußball Türkei und Georgien hauen sich unfassbares Spiel um die Ohren
18.06.2024, 21:32 UhrDas DFB-Team zerlegt Schottland, die Spanier zeigen es Kroatien, Österreich liefert Frankreich einen großen Kampf: Aber kein Spiel dieser Fußball-EM ist bisher so atemberaubend wie das Duell der Türken gegen Georgien.
Der alte Fußballtempel Westfalenstadion hat schon so einiges in den Knochen. Rauschhafte Derbys, magische Europapokalabende. Viel ist hier passiert, Denkwürdiges, Atmosphärisches, Historisches. Borussia Dortmund und seine Fans haben das Fundament der Arena in den Grundfesten erschüttert. Mehrfach. Dortmund, das ist ein ikonisches Kraftzentrum dieses Spiels, das auf der ganzen Welt im Großen wie im Kleinen gelebt und geliebt wird. Und dieses Kraftzentrum hat an diesem Dienstagabend zwei Nationalmannschaften in einen aberwitzigen Rausch getrieben. Die 97 Minuten voller Kampf, Kunst, Leidenschaft, Lust und wundervoller Tore sind eine ultimative Liebeserklärung an das Spiel Fußball.
Die Türkei und Außenseiter und EM-Debütant Georgien lieferten sich ein Duell, das 62.000 Fans auf den Rängen und Millionen anderen den Atem raubte. Keine Pause, immer nur volle Lotte. Schiedsrichter Facundo Tello aus Argentinien hatte mitgeholfen und dieser EM-Partie eine robuste Linie verordnet. Es knallte, rappelte und rauschte in jeder Sekunde. Fußball ist immer dann am schönsten, wenn es nicht um Taktik geht. Anspruchsvolle Gigantenduelle, das Lauern auf denen einen Fehler, das alles ist meist kaum zu ertragen. Viel schöner ist es, wenn zwei Mannschaften aufeinander losrennen und nichts anderes im Sinn haben, als zu kicken.
Was war das für eine gigantische Kulisse gewesen, vor der die beiden Teams ihr Schauspiel aufführten! Über den ganzen Tag hatte sich die Stadt bereits in die Farben Rot und Weiß gefärbt. Hier, wo an Spieltagen sonst Schwarz und Gelb herrscht, wo die Stadt den Rhythmus des großen BVB lebt. Am Mittag ging teilweise nichts mehr in der Stadt. Über den Ring rollten die ersten Autokorsos. Auf den großen Straßen zum Stadion machten sich zwei Fanmärsche auf den Weg. 15.000 Türken sollen es laut Polizei gewesen sein, friedlich, emotional, sehr laut. Sie kamen noch trocken an. Die Georgier, in der Masse klar unterlegen, wurden vom Starkregen am frühen Nachmittag voll erwischt.
Höchstes Tempo, atemlos
Im Stadion fielen "Westfalen-Fälle" vom Dach, Ordner schoben die Wassermassen mit allem, was sie hatten, in Gullys. Als es trocken wurde, als die Mannschaften den Rasen betraten, brach es richtig los. Es wurde laut und lauter. Und es hörte gar nicht mehr auf. Der Herzschlag des Stadions raste und die Spieler ließen sich voll anstecken. Nicht eine Sekunde des Abtastens gönnten sie sich.
Nach zehn Minuten knallte Kaan Ayhan einen Ball an den Pfosten. Spätestens da gab es kein Halten mehr. Das Momentum hatte mit dieser Szene jede Kontrolle über sich und das Spiel verloren. Eine Minute später scheiterte Ansor Mekvabishvili mit einem abgefälschten Versuch am stark reagierenden Mert Günok. Die Türkei hatte viel den Ball, Hakan Calhanouglu orchestrierte das Spiel. Es ging von links nach rechts, immer im höchsten Tempo. Dann probiert es Kenan Yilmaz, das Top-Talent, das der FC Bayern einst für zu leicht befunden hatte. Sein Schuss prallt an der Hand von Giorgi Mamardashvili ab. Die Georgier brauchten ein paar Minuten, um sich auf der großen EM-Bühne und in diesem absurden lauten Stimmungstempel zu orientieren.
Dann wurde es spektakulär. Es wurde laut, leise, wieder laut. Jubel hier, Verzweiflung dort. Verzweiflung hier, Jubel dort. Die besten zehn Minuten dieses noch jungen Turniers begannen in Minute 25 - mit einem Traumtor. Eine vom georgischen Abwehrmann Lasha Dvali unglücklich verlängerte Flanke künstlerte Mert Müldür volley ins Netz. Ein Unterschnitt mit dem Außenrist. Im Tennis würde man sagen: Slice. Die Südtribüne, sonst schwarz-gelb, heute rot-weiß, explodierte. Die Stimmapparate der türkischen Fans, in der Anfangsphase gut geölt und mehrfach vor der Eruption, schlugen endgültig aus. Roter Bereich.
VAR-Abseits nur kurzer Stimmungskiller
Nur zwei Minuten später wiederholte sich das Schauspiel. Der kaum zu bremsende Yildiz schob eine von Orkun Kökcü verlängerte Hereingabe unters georgische Dach - kein Halten mehr im türkischen Block. Doch der Jubel verstummte jäh. Ein Zipfel von Yildiz' Schuh war außerhalb der kalibrierten Linie. Abseits. Der VAR erwies sich als unerbittlicher, unbestechlicher, pedantischer Stimmungskiller - und hielt die georgischen Kreuzritter über Wasser. Die EM-Debütanten berappelten sich und griffen lustvoll an. Georgien war nur dabei, weil die UEFA das Turnier aufgestockt und die Nations League eingeführt hatte. Beides war höchst umstritten. Als Sieger ihrer Sektion des Nationen-Turniers hatte sich die Mannschaft von Willy Sagnol überhaupt erst qualifiziert. Dieses Spiel lieferte reichlich Argumente, dass die Idee trägt.
Zurück ins Spiel, Georgien war dran. Weil ihnen die Türken Räume ließen. Ein Schuss aus dem linken Halbfeld (30.) war noch keine Prüfung für Günok. Den nächsten Härtetest bestand er allerdings nicht. Statt den nach toller Kombination aus kurzer Distanz von Georges Mikautadze abgegebenen Schuss mit dem linken Fuß abzuwehren, versuchte er seine linke Pranke nach unten zu bekommen. Zu spät. Ausgleich. Auf dem falschen Fuß erwischt, sah blöd aus. Und auf einmal tobte die weiß-rote Schar der Georgier, die 15, vielleicht auch 20 Prozent der Ränge belegten. Die Außenseiter hatten auf einmal Oberwasser. Drei Minuten nach dem Tor verpasste Mikautadze den Doppelschlag, seine Volleyabnahme schlug Zentimeter neben dem türkischen Kasten ein.
Real-Juwel Güler mit zweitem Traumtor
Dann Pause. Doch an Temperatur verlor dieser feurige Tanz nicht. Die Türken griffen mit Wucht an, verzweifelten aber an sich selbst und den georgischen Abwehrriesen. Deren Vorderleute hatten längst den ganz großen Spaß am Spielen und Schnicksen entdeckt. Ein Doppelpass hier, ein Lupfer dort, ganz viel Tempo, ganz viel Technik. Giorgi Chakvetadze tat sich besonders hervor. Der Techniker hatte richtig Bock und Selbstvertrauen. Seine Pässe waren kraftvoll, seine Dribblings voller Mut. Beide Mannschaften feuerten aus allen Lagen, blieben aber fast immer irgendwo hängen. Die Türken mussten immer wieder im vollen Sprint nach hinten arbeiten, um nicht böse überrascht zu werden. Die Party, die sie sich für den Abend ausgemalt hatten, stand plötzlich auf der Kippe.
Doch dann schlug die Elf von Vincenzo Montella eiskalt zu. Wieder war es ein Traumtor, das ein wahnwitziges Hin und Her einleitete. Das türkische Juwel Arda Güler, bei Real Madrid noch nicht ganz angekommen, senste die Murmel mit dem Gefühl chirurgischer Präzision gen georgisches Tor. Mamardashvilli streckte und reckte sich - bis die Elastizität seines rechten Arms erschöpft war. Im Giebel schlug der Ball ein. Minute 67. Puls 180 plus x.
Verzweiflung, Krämpfe, Erschöpfung
Doch wieder nahmen die Georgier Herz und Beine in die Hand. Giorgi Kochorashvili tänzelte nach Doppelpass mit Mikautadze die türkische Defensive aus - traf aber nur die Latte. Zwischen türkischer Freud und georgischem Leid lagen fünf Minuten. Es schüttete wieder wie wild. Auf den Rängen machten sie Handylichter an, Konzertatmosphäre, während unten auf dem Rasen weiter der wilde Kampf tobte. Grätschen flogen über den Rasen, im Kopfballduell knallte es. Keine Mannschaft steckte zurück. Die Türken liefen auf den finalen Konter, die Georgier tricksten sich zur puren Verzweiflung. Die ersten Spieler hatten Krämpfe. Das Duell ging an die Substanz, physisch, psychisch. Der erste Spieltag ist bereits eine Grenzerfahrung, am Limit der totalen Erschöpfung. Aber es hörte einfach nicht auf.
In der 87. Minute drückte der eingewechselte Yusuf Yazici einen Ball aus kurzer Distanz aufs Tor, Mamardashvilli reagierte überragend. Die Entscheidung, vertagt. Dann hätte das 2:2 fallen müssen, Georgiens Superstar Khvicha Kvaratskhelia ließ seinen Gegenspieler stehen, flankte in die Mitte, wo sich aber zwei Mitspieler aus kurzer Distanz selbst die Chance raubten. Haare raufen auf den Rängen. Dann die nächste unfassbare Szene: Ein Freistoß von Kvaratskhelia aus dem Halbfeld rutschte an allen vorbei an den langen Pfosten. Von dort prallte die Kugel zu Zuriko Davitashvili, der sie auf das eigentlich leere Tor brachte. Ein türkischer Verteidiger hatte jedoch irgendwie noch seinen Kopf dazwischen. Wieder Haare raufen. Niemand saß mehr, alles stand, alles tobte. Pyrofackeln brannten. Das Stadion bebte und wackelte.
Ecke für Georgien. Der Keeper kam mit nach vorn in den Strafraum. Abgewehrt. Nächste Ecke. Wieder abgewehrt. Dieses Mal in den Lauf von Kerem Aktürkoglu, der sprintete über den ganzen Platz und schloss am Sechzehner auf das leere Tor ab. Party, nur noch Party. Alle türkischen Spieler sprinteten auf dem Platz, auf den Rängen wusste kaum noch jemand, wo sein Platz war, so sehr tobten sie durcheinander. Abpfiff. Der alte Tempel Westfalenstadion braucht nun dringend Erholung. "Es fällt mir schwer, das zu sagen, als Mann von Bayern. Dieses Stadion ist eines der besten der Welt, es ist wirklich für Fußball gemacht. Die Atmosphäre war fantastisch", sagte Sagnol. Die EM hatte ihr bestes Spiel erlebt. Eine Liebeserklärung an das Spiel namens Fußball.
Quelle: ntv.de