Das Tagebuch zur WM in Katar Neues Glücksspiel treibt Fußballfans in den Ruin

Wer nicht in der Metro zerquetscht werden will, flüchtet früh aus dem Stadion.

Wer nicht in der Metro zerquetscht werden will, flüchtet früh aus dem Stadion.

(Foto: IMAGO/Moritz Müller)

In Katar ist Glücksspiel verborten und dennoch treibt ein neues Wettspiel bei der WM im Wüstenstaat sein Unwesen. Fast jeder Stadionbesucher macht mit, es gibt kein Entkommen. Einsatz und Gewinn sind hoch - und es gewinnen nur die Allerschnellsten.

Eigentlich ist Glücksspiel in Katar haram. Verboten also aufgrund der Religion. Wetten auf alte traditionelle Kamelrennen zum Beispiel mal ausgenommen. Und doch verbreitet sich eine neue Wette mit hohem Einsatz wie ein Lauffeuer bei dieser WM. Jeder Stadionbesucher macht mit bei diesem Glücksspiel, es gibt kein Entkommen.

Da sitzt der Familienvater mit seinen drei Kindern nervös an den Fingernägeln kauend auf seinem Schalensitz. Da checken die Teenager-Gruppen ungeduldig ihre Smartphones im Sekundentakt. Auch Journalistinnen und Journalisten können sich dem Rausch nicht entziehen und planen genauestens, wie sie das neue Wettspiel mit ihrer Arbeit im Stadion in Einklang bringen.

Es läuft die 75. Minute. Alles entschieden im Lusail Stadion? Im Al Thumama? Im Khalifa? Wer weiß das schon genau, immerhin steht es 2:1. Zeit für den Wetteinsatz, der alle in Katar rasend macht. Und der geht so: Wie viele Minuten halte ich es noch im Stadion aus, um dann rechtzeitig zur Metro oder zum Bus zu gelangen, bevor die Massen einen zerdrücken? Bevor tausende Fans in ein einziges Nadelöhr strömen. Bevor ein vollgestopftes Metallgitter-Labyrinth fiese Albträume oder Beklemmungen auslöst.

Klosterhalfen und Lückenkemper wären stolz

Manch einer pfeift bei dieser WM der überlangen Nachspielzeiten schon auf die letzten regulären 15 Minuten. 20 vielleicht sogar. Sie spielen die so genannten "Safe Bets". Sicherer Gewinn, wenig Ertrag. Andere reizen das Ganze mehr aus, harren auf den Sitzen noch ein paar Fußball-Minuten länger aus. Bis es fast kein Entkommen mehr gibt.

Letztere werden bei dieser WM zu Dauerläuferinnen und Dauerläufern. Koko Klosterhalfen wäre stolz. Aber auch Gina Lückenkemper dürfte ihre Freude an den durchaus beachtlichen Geschwindigkeiten haben, die die Fans auf die Strecke bringen. Im Laufschritt geht es bereits waghalsig die Treppen im Stadion hinunter. Wer nicht mindestens zwei Stufen auf einmal nimmt, hat eh schon verloren.

Dann beginnt der Dauerlauf vom Stadion zum U-Bahnhof. Es ist eine spannende Mischung, die so nicht bei Olympia zu finden ist. Halb Gehen, halb Sprint. Niemand will sich dem Spurt komplett hingeben, aber ebenso will niemand zu langsam sein. Es ist eine Art Stechschritt, bei dem heftig mit den Armen Schwung geholt wird. Vielleicht vergleichbar mit dem Gang manches deutschen Touristen, wenn am Pool nur noch eine einzige Liege frei ist. Oder wenn das All-You-Can-Eat-Buffet eröffnet wird. Wenn beim Ryanairflug das Boarding beginnt. Unbedingt erster werden, ohne sich komplett die Blöße zu geben.

Während man noch aus der Arena das WM-Spektakel hören kann, sind bereits Tausende auf dem Rückweg. Auf der Laufstrecke sind bekanntlich alle gleich. Alter, Religion, soziale Klasse, Geschlecht - das alles macht hier keinen Unterschied. Alte Menschen entdecken ungeahnte Sprintfähigkeiten. Frauen in Burkas hasten eilig über den Bürgersteig. Der Familienvater trägt nun eins seiner Kinder. Die Jacke fällt runter. Panik. Schnell muss der kleine Bruder aushelfen. Rollstuhlfahrer werden geschoben, wie bei einem Wettrennen.

Doha ist für den Glitzer gebaut

Auch Journalistinnen und Journalisten sind in der Halbsprint-Masse gefangen. Zerren sich womöglich ihre vom vielen Sitzen untrainierten und zurückgebildeten Muskeln. Sie haben zwar ihre Medienbusse, aber die fahren teilweise genau in die falsche Richtung oder exakt ein bis zwei Metrostationen weiter, sodass einen spätestens dort die Massen in der vollgestopften Waggons zerdrücken. Wenn etwa auch weitere Hundertschaften von Fanfesten in die Bahnen drängen. Widerstand ist zwecklos.

Katar hat zwar eine hochmoderne U-Bahn für die Weltmeisterschaft gebaut, die auch hochfrequentiert bis drei Uhr nachts fährt. Aber das Streckennetz erlaubt immer nur einen Weg zum Stadion und genau den gleichen zurück. Die Scheichs reisen mit Edelkarossen an, FIFA-Boss Infantino mit dem Hubschrauber und alle "Normalos" eben mit der Metro. Weil der Verkehr auf den Straßen zu den Stadien oft unerträglich ist, versuchen sie die Busse vom Souq-Markt zu vermeiden. Wenn ein Stadion keinen direkt Metro-Zugang bietet, wie etwa das Al Thumama im Süden Dohas, beginnt sogar ein kleiner Marathonlauf kurz vor Spielende. Die Shuttle-Busse zur Metro stehen etwa 15 Minuten von der Arena entfernt. Im zügigen Halb-Sprint, versteht sich.

In der Bauweise der Stadt Doha ist schlichtweg kein Platz für Praktisches. Die Stadtplanung ist diesbezüglich missglückt, in ihr ist schlichtweg kein gesellschaftliches Zusammenkommen vorgesehen. Außer vielleicht auf touristischen Amüsiermeilen und in überdimensionalen Malls. Rund um die Stadien gibt es sonst aber meist nur Wüste. Und fast alle rennen davor auf einmal weg. Aber in Katar geht es eben um Glitzer und Pomp, nicht um "Benutzerfreundlichkeit", nicht um eine fußgängergerechte oder metrofreundliche Stadtplanung.

Glücksspiel geknackt

Damit ruiniert das Emirat einigen Fans das Turnier. Das ist schade. Denn oft wird es ja gerade in den letzten Minuten noch mal richtig spannend. Manch einer verpasste so etwa die späte Aufholjagd der Niederländer im Viertelfinale gegen Argentinien und die anschließende Verlängerung mit Elfmeterschießen. Zurück ins Stadion geht es nicht mehr, wenn man einmal raus ist. Möglicherweise auch den japanischen Doppelpack (75. und 83. Minute) gegen Deutschland im Auftaktspiel.

Die Hartgesottenen aus der Kurve wissen natürlich, wie man das Glücksspiel ganz einfach knackt. Wie man dem faulen Sprint-Zauber einen Strich durch die Rechnung macht. Ob nun marokkanische Fans oder argentinische, sie feiern stundenlang nach Abpfiff noch im und am Stadion. Dauertanz statt Dauerlauf. Bevor sie sich irgendwann gemeinsam in die U-Bahn quetschen.

Quelle: ntv.de

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