
Thomas Tuchel verändert den FC Bayern München und passt ihn an die Realität an.
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Der FC Bayern München gewinnt auch sein drittes Spiel in der diesjährigen Gruppenphase der Champions League. Niemand kann sich mehr an eine Niederlage zu diesem frühen Zeitpunkt erinnern. Überzeugend wirkt es auf den ersten Blick nicht, dabei führt Trainer Thomas Tuchel den Rekordmeister nur in die Zukunft.
"Wer Kackspiele gewinnt, muss erstmal kacke spielen", schrieb ein aufgebrachter Bayern-Fan in das Meer der Empörung im Internet. Es war eine Meinung, der ohne Weiteres zuzustimmen ist. Vielleicht muss der Fußball spätestens nach diesem Dienstag neu gedacht werden. Bayern München spielt "kacke" und gewinnt. Union Berlin spielt wie Union Berlin und verliert doch (alles dazu lesen Sie hier beim Kollegen Sebastian Schneider). Nichts ist mehr, wie es noch vor wenigen Monaten war. Die Welt steht kopf und normalisiert sich doch. Denn alles gleicht sich plötzlich an, nur die Statik hat sich verändert.
"Wir sind als Team gewachsen. Heute war es sehr intensiv auf dem Platz. Es ist wichtig, dass man solchen Gegebenheiten auch mal gemeinsam trotzt. Das haben wir. Letzte Saison, glaube ich, hätten wir solche Spiele oft hergeschenkt", jubelte dann auch der bis auf einen kleinen Patzer überzeugende Bayern-Keeper Sven Ulreich nach dem 3:1 (1:1) bei Galatasaray in der Champions League. Das Team aus der türkischen Metropole Istanbul hatte sich den Rekordmeister in der ersten Halbzeit zurechtgelegt. Mit dem Orkan der Zuschauer im Rücken waren die Angriffe auf Ulreichs Tor gerollt wie die Wellen eines vom Unwetter aufgepeitschten Ozeans auf die Küste.
Doch immer wieder stand da eben der Noch-Ersatz von Manuel Neuer, dessen Rückkehr nach der Leistung seines Vertreters durchaus risikobehaftet ist. Zu sicher wirkt der 35-Jährige, zu unsicher erscheint ein Comeback in einer kritischen Saisonphase. Nicht ohne Grund ließ Trainer Thomas Tuchel später die Rückkehr des ehemaligen Kapitäns der Nationalmannschaft im Spiel gegen Darmstadt offen. Ulreich war an diesem Abend in Istanbul nur durch einen Elfmeter zu überwinden. Mauro Icardi überwand ihn mit einem Panenka (30.), einem klassischen Lupfer in die Mitte des Tores.
Sieg Nummer 16 in der Gruppenphase
Die restliche Zeit flog entweder Ulreich zum Ball oder der am Tor vorbei. Schon in den ersten 45 Minuten, in denen das Pressing Galatasarays tief in der Münchener Hälfte begann, in der Joshua Kimmich in kritischen Positionen den Ball herschenkte, gelangen dem FCB viele Momente der Entlastung. Allein: Die Bayern spielten ihre Konter selten gut aus. Der frühe Führungstreffer durch Kingsley Coman (8.) wirkte da noch wie ein Wunder.

Jamal Musiala und Harry Kane sorgten für den Sieg in Istanbul.
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"Galatasaray hatte in dieser Saison von 17 Spielen noch keins verloren. Wir hatten große Probleme vor der Pause, haben zu viele Zweikämpfe verloren und waren nicht gut in Eins-gegen-eins-Situationen. Galatasaray hatte zu viele Chancen", sagte Thomas Tuchel nach dem Spiel bei Prime. In dieser ersten Halbzeit sah man ihn immer wieder gedankenverloren auf der Bank sitzen. Bald schaute er seinem Assistenten in die Notizen und bald überlegte er, wie der Gegner weiter vom Tor wegzuhalten sei: "In der zweiten Hälfte haben wir besser verteidigt, standen etwas tiefer. Da hatten wir dann vorne gute Situationen. Am Ende haben wir es geschafft, das Spiel zu drehen."
Es waren Galatasarays Müdigkeit und Bayerns Anpassungen sowie Erfahrung, die das Spiel zugunsten der Gäste drehten. Immer wieder stießen die Offensivspieler in die größer werdenden Räume, fanden sich hinter der letzten Linie zurecht, drangen über die Außen in den Strafraum und fanden den bis dahin nicht existenten Harry Kane. Der hatte sich 74 Minuten auf seinen Auftritt vorbereiten können, traf im Nachschuss nach Vorarbeit des bemerkenswert guten Jamal Musiala und verwandelte damit den tosenden Ozean im "Ali Sami Yen Spor Kompleksi Rams Park" in einen beschaulichen Bergsee an einem milden Herbstabend. Wenig später traf Musiala (80.), der von Kane bedient worden war. Der 16. Sieg in Folge in der Gruppenphase einer Champions League war den Münchenern nicht mehr zu nehmen.
Fehlt dem FC Bayern das Selbstvertrauen?
"Selbst wenn wir eine sehr, sehr schwache erste Halbzeit spielen, können wir unsere Qualität trotzdem auf den Platz bringen und in der zweiten Halbzeit ein anderes Gesicht zeigen", stimmte Joshua Kimmich in die Worte seines Torhüters ein. Auch die Torgarantie Kane betonte: "Es war wirklich schwierig. In der zweiten Halbzeit waren wir ruhiger, besser am Ball. Dann haben wir unsere Chancen genutzt. Solche Siege geben uns Selbstvertrauen."
Hapert es wirklich daran? Hadert der FC Bayern München immer noch mit den Nachwirkungen des so desolaten und Vereins-verändernden ersten Halbjahres 2023? Eine Antwort darauf lässt sich nicht so leicht finden. Die konstante Unruhe, ausgelöst durch den Dauerzwist rund um die Kaderplanung. Die hat nicht nur zu einem sehr öffentlichen Dialog zwischen Tuchel und Klub-Patron Uli Hoeneß geführt, sondern aufgrund ständig brechender Arme, schwacher Muskeln und anderer Misslichkeiten des Tagesgeschäfts zu einer erheblich verdünnten akuten Personalnot geführt. Eine, die aber wegen der tatsächlichen Qualität der noch spielfähigen Profis zumindest kurzfristig abgefedert werden kann. Wenn auch nur unter erheblichen Anstrengungen.
Ausgelöst wurde die konstante Unruhe jedoch auch durch die zahlreichen Brandherde abseits des Platzes, die mal lichterloh lodern und mal kraftlos glimmen. All das hat beim FC Bayern den FC Hollywood wiederbelebt. Ging es früher in der geschützten Welt des Fußballs um eigene Befindlichkeiten im Klubleben, werden nun die großen gesellschaftlichen Themen am Beispiel des FC Bayern verhandelt. Es geht um sexuelle Belästigung, wie im Falle Rubiales und der Äußerungen des Aufsichtsrats Karl-Heinz Rummenigge, es geht um häusliche Gewalt, wie im Falle des Gastspielers Jérôme Boateng, und es geht ganz aktuell um den Umgang mit höchst umstrittenen Äußerungen zum Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel.
Es geht um alles. Der Fußball kann und darf sich der Welt nicht mehr entziehen. Zu sehr ziehen die großen Kräfte an ihm, zu sehr wird er von geopolitischen Überlegungen zerrissen und zu sehr muss er sich vollkommen zu Recht auch einer sich wandelnden Gesellschaft stellen. Die Frauen holen sich das, was ihnen bis hierhin verwehrt wurde, sie holen sich Gleichberechtigung und werfen dadurch ein erschütterndes Schlaglicht auf das Verhalten eben jener, die den Sport schon immer dominiert haben.
Erinnerungen an Guardiolas Fußball schwinden
In diesem aufgeheizten Zustand bewegt sich die Mannschaft von Trainer Thomas Tuchel, der, wie es beim FC Bayern schon Tradition geworden ist, auch als Repräsentant des Vereins zu all diesen Themen Rede und Antwort stehen muss. Dabei macht er nicht selten eine maximal unglückliche Figur. Es sind Fragen, die sich der in der Vergangenheit für die moralisch zumindest in diesen Fragen streitbaren Klubs Paris Saint-Germain und Chelsea Arbeitende nicht entziehen kann, die aber eben nicht zu seinem Kerngebiet zählen.
Das ist der Fußball, der, wie der Fan im Internet schrieb, auf den ersten Blick von frustrierten Beobachtern mit "kacke" beschrieben werden kann. Doch genau das ist er nicht. Der Fußball des FC Bayern München hat sich nur von der Dominanz früherer Jahre verabschiedet. Er ist unsteter und wilder geworden. Er ist aber, Stand jetzt, eben nicht weniger erfolgreich. Bis auf eine Niederlage im unbedeutenden Supercup gegen den RB Leipzig ist der FC Bayern München Mitte der Hinrunde ungeschlagen und hat sich eine starke Ausgangsposition für den Jahresendspurt erarbeitet.
Die Angriffe mögen dabei auf das Tor der Bayern zurollen. Die Verteidigung mag dabei instabiler als in den vergangenen Jahren wirken. Das Spiel selbst mag sich meilenweit von der unter dem Übervater Pep Guardiola erlangten Kontrolle wegbewegt haben, doch sonst ändert sich wenig. Vielleicht ist es an der Zeit, den Fußball neu zu denken. Vielleicht ist es wichtig, sich dabei bewusst zu machen, dass sich Klubs verändern und mit ihnen auch ihr Spielstil.
Der Stil der Bayern steht in dieser Saison exemplarisch für das, was der Verein auch außerhalb des Platzes darstellt. Er ist nicht gefestigt und kann sich doch immer wieder befreien, indem er Schwächephasen weglächelt, die tosenden Wellen auf sich zukommen lässt und sie mit großer Macht doch noch für seine Zwecke interpretiert.
Quelle: ntv.de