Flick verwundert Was für Kimmich gilt, gilt für Süle noch lange nicht
16.06.2023, 13:27 Uhr
Joshua Kimmich ist ein Anführer, Niklas Süle gibt sich zu wenig Mühe. Findet der Bundestrainer.
(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)
Hansi Flick steht unter Druck: Auf seinem Weg zu einer erfolgreichen EM im kommenden Jahr scheint der Bundestrainer keinen Meter voranzukommen. Er wähnt sich immerhin in der richtigen Richtung, doch der Kompass rotiert offenbar.
Fußball-Deutschland kann sich glücklich schätzen: Mit Joshua Kimmich führt ein Mann die deutsche Nationalmannschaft aufs Feld, der es mental mit den Allergrößten des Sports aufnehmen kann. Sagt Hansi Flick, der Bundestrainer: Der 28-Jährige habe eine Gewinner-Mentalität wie die Basketball-Superstars Michael Jordan und Kobe Bryant, sagte Flick vor dem Testspiel am Freitag (20.45 Uhr/ARD und im Liveticker auf ntv.de) in Warschau gegen Polen. "Einfach voranzugehen, zu sagen, ich gebe alles, um das Beste aus mir herauszuholen. Das ist er, und er geht voran und ist ein Vorbild für alle Spieler." Der 2020 tödlich verunglückte Bryant und Jordan sammelten Titel um Titel, sie sind Ikonen ihres Sports. Beide waren größer als das Spiel. Ihre Namen strahlen bis in die letzten Winkel des Planeten.
Kimmich, ohne Zweifel einer der besten deutschen Fußballer seiner Generation, muss als Anführer schon mehrere deutsche Fußball-Desaster mitverantworten. Sein Name steht, vor allem, weil er selbst den Anspruch hat, qua seiner Qualität einen Unterschied zwischen Triumph und Enttäuschung machen zu wollen, sinnbildlich für das Scheitern bei den letzten drei Turnieren. Er weiß es. "Das ist schon für mich persönlich nicht so einfach zu verkraften. Weil ich persönlich mit dem Misserfolg in Verbindung gebracht werde", sagte er nach dem Vorrunden-Aus bei der Winter-WM in Katar. Kimmich muss sich Kritik gefallen lassen, nicht erst seit dem jüngsten 3:3 der DFB-Elf gegen die Ukraine.
Das nervt nicht nur sein Umfeld, das unliebsame Artikel bisweilen mit Anrufen bei der Presse beantwortet, sondern offenbar auch den Bundestrainer derart, dass er für seinen Kapitän ein Plädoyer hielt, ohne dass jemand danach verlangt hätte.
"Er muss sich zurücknehmen!"
Provoziert wurde Flick von einem Angriff seines Freundes Lothar Matthäus, der eine Beobachtung teilte: "Die Nebenleute wurden neben ihm zuletzt konstant schlechter: egal, ob Goretzka, Sabitzer oder Gravenberch. Weil sie für Kimmich - ungewohnte - Arbeit mitmachen mussten", sagte Matthäus der "Sport Bild". "Ich sehe Joshua Kimmich nach wie vor als absoluten Leader. Aber er muss sich zurücknehmen! Ab und zu übertreibt er es mit seinen Ansagen, mit seiner Gestik", erklärte der Sky-Experte. Matthäus ergänzte: "Das kann Mitspielern auch häufig auf die Nerven gehen."
Kritik an ihm selbst, sagte Flick in einer bemerkenswerten Pressekonferenz, sei okay, "aber bitte lasst die Spieler draußen." Eine Forderung, die nach einem spielerisch und vor allem defensiv komplett defizitären Auftritt gegen die Ukraine doch reichlich kurios daherkommt. Flick will einen Persilschein für alle Profis, die er für die drei letzten Länderspiele der Saison um sich versammelt hat. Schließlich sei "jeder bereit, alles zu geben am Ende einer langen Saison." Man kann diese Haltung so verstehen, dass der Bundestrainer sein Team zur Wagenburg formieren will. Schließlich prasselt viel auf die Nationalmannschaft ein, bei der man derzeit darüber diskutieren kann, wovon sie sich am weitesten entfernt hat: von der Weltspitze oder von den Herzen der Fans.
Wagenburg-Architekt Flick hatte allerdings vor dem Beginn der laufenden DFB-Maßnahme überrascht, indem er einen einzelnen Spieler öffentlich opferte, der es trotz einer starken Saison nicht in den Kreis des Vertrauens geschafft hatte: "Ich finde, er lässt noch einiges liegen. Ich will, dass er von seiner Einstellung, von seiner Mentalität einen Schritt nach vorne macht", sagte Flick über den Dortmunder Verteidiger Niklas Süle, dem nach "Kicker"-Noten hinter Torhüter Gregor Kobel und Veteran Mats Hummels drittbesten Spieler des Vizemeisters in der Saison 2022/2023. Er fehlt trotzdem im aktuellen Aufgebot: "Für mich könnte Niki einer der besten Innenverteidiger sein, die es gibt. Sein Potenzial ist riesig." Aber eben nicht die Qualität, die er auf den Platz bringt, so der Subtext. Ein Süle ist eben kein Kimmich. Ein Dortmunder vielleicht auch kein Bayer.
"Natürlich fehlt Süle"
Die Maßnahme stieß nicht nur bei den Verantwortlichen des Vizemeisters auf Unverständnis, auch innerhalb des aktuellen Kaders wunderte man sich: "Natürlich fehlt er, weil für mich ist er qualitativ ein sehr guter Spieler. Ich verstehe mich gut mit ihm und hoffe, dass er bald wieder mit an Bord ist", sagte Abwehrchef Antonio Rüdiger. Süles Mannschaftskollege Emre Can sagte der FAZ: "Ich habe Niklas die letzten Monate bei uns im Verein extrem stark gesehen. Er ist vorangegangen und hat sich persönlich sehr weiterentwickelt, was Führungsstärke angeht. Ich kann das beurteilen, da ich ihn sehr lange kenne."
Doch Flick statuiert am massiven Innenverteidiger, dem ein permanenter, nicht immer erfolgreicher Kampf gegen die Versuchungen nachgesagt wird, und der mit einer vergleichsweise geringen Lobby ausgestattet ist. "Wir befinden uns genau ein Jahr vor der EM, und es ist die Basis, dass jeder Spieler in Topform ist", legte Flick noch nach. "Fitness am Limit ist die Basis. Und wir wissen, dass in einem Turnier vieles möglich ist, wenn diese Basis gelegt ist." Kritik an seinem gesetzten Personal moderiert der Bundestrainer auf der Suche nach einem funktionierenden Kompass in Richtung EM handstreichartig ab.
Niklas Süle spielte eine starke, erste Saison für Borussia Dortmund. Dass sie am Ende doch nicht mit dem ersten Meistertitel seit 2012 veredelt wurde, fiel nicht in die Verantwortung des Verteidigers. Trotzdem ließe sich der Verzicht auf den Hünen auf vielerlei Art verargumentieren: Schließlich kennt man sich aus Flicks Zeit in München gut, auch die Kollegen wissen, was Süle kann und was nicht. Bei der WM in Katar kam er in allen drei Spielen zum Einsatz, er ist Teil der belasteten DFB-Generation.
Flick bleibt "überzeugt"
Stattdessen ließ Flick sich dazu hinreißen, ausgerechnet am 45-fachen Nationalspieler seine Idee vom Leistungsprinzip zu erproben - und stattdessen eine ganze Reihe im Meisterschaftsendspurt formschwache Spieler aufzubieten. Und hat auch die längst überholte Idee wieder hervorgekramt, mit Lieblingsspieler Joshua Kimmich und Bayern-Kollege Leon Goretzka in der Mittelfeldzentrale zu spielen. Besonders Goretzka wirkt überaus unglücklich mit dieser Konstellation, von einstiger Durchschlagskraft ist der wuchtige Mittelfeldspieler längst meilenweit entfernt.
Der Bayern-Spieler aber vertraut seinem ehemaligen Klub- und heutigem Nationalcoach, der ihn durch die Krise schleppt. Bei Sport1 sprach er ihm das Vertrauen aus. Flick sei es schon beim Triple-Triumph mit dem Rekordmeister 2020 gelungen, "elf Freunde" auf den Platz zu stellen, erklärte Goretzka: "Das war eine der großen Leistungen von Hansi. Er hat es geschafft, diesen Teamgeist zu fördern und zu formen. Das kann innerhalb der Nationalmannschaft genauso funktionieren."
Was auch immer die vergangenen Turniere und jüngeren Spiele an Enttäuschungen bereithielten, Flick ist "von unserem Weg überzeugt, den wir gehen wollen. Und wir sind überzeugt, dass wir nächstes Jahr im Juni eine Mannschaft stehen haben, die mit Sicherheit top vorbereitet ist auf die EURO", sagte der Bundestrainer. Die Zweifel daran wachsen außerhalb der Mannschaft unterdessen minütlich an.
Quelle: ntv.de