Fußball

Alarmstimmung bei der DFB-Elf Wo soll das bloß hinführen, Hansi Flick?

Das Mittelfeldzentrum um Kapitän Joshua Kimmich ist eine der Baustellen des DFB-Teams.

Das Mittelfeldzentrum um Kapitän Joshua Kimmich ist eine der Baustellen des DFB-Teams.

(Foto: IMAGO/Revierfoto)

Aufbruchstimmung möchte die DFB-Elf erzeugen, doch knapp ein Jahr vor der Heim-Europameisterschaft weitet sich die Krise mit dem Unentschieden gegen die Ukraine aus. Bundestrainer Hansi Flick spricht zwar von Lösungen, auf dem Platz aber dominieren die Probleme. Das wirft Fragen auf.

Das wohlwollende Fazit dieses 3:3 (1:2)-Unentschiedens gegen die Ukraine könnte lauten, dass sich die deutsche Nationalmannschaft als guter Gastgeber erwiesen hat. Auf die frühe Führung durch Niclas Füllkrug folgten im Bremer Weserstadion gleich mehrere freundliche Einladungen zum Toreschießen an die ukrainischen Fußballer, die diese im neunten Aufeinandertreffen vom ersten Sieg gegen den vierfachen Weltmeister träumen ließen.

In den Schlussminuten holte die Elf von Bundestrainer Hansi Flick einen 1:3-Rückstand auf, wendete die eigentlich verdiente Niederlage gerade noch ab. Und erarbeitete sich so etwas späten Applaus von den Rängen für eine Leistung, die wenig Ansätze dafür lieferte, warum die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes nach drei enttäuschenden Turnieren in knapp einem Jahr bei der Heim-Europameisterschaft plötzlich wieder zu den Titelfavoriten zählen sollte.

Füllkrug, der mit seinem siebten Tor im siebten Länderspiel die Führung erzielt hatte, sagte anschließend, es habe "Phasen" gegeben, "in denen wir Spieler dachten: 'Wie kann das jetzt gerade sein, dass wir in dieser Situation sind? Und was geht hier gerade ab?'" Ein bitterer Einblick, denn ähnliche Gedanken dürften auch viele gehabt haben, die es mit der DFB-Elf halten. Wie kann es sein, dass die Defensive noch immer so fragil ist? Wie kann es sein, dass im Zentrum noch immer kaum Stabilität zu erkennen ist? Wie kann es sein, dass die offensive Effektivität oftmals von Einzelaktionen abhängig ist? Füllkrug dankte Kai Havertz, der in der Schlussphase das 2:3 selbst erzielte und den Elfmeter zum 3:3 herausholte, "dass wir mit individueller Qualität [...] von Kai dieses Spiel doch noch zu einem Unentschieden drehen konnten".

Politik lenkt nicht mehr vom Sport ab

Flick dagegen resümierte: "Das Spiel zeigt die Verfassung der Mannschaft." Er wirkte etwas ratlos in diesen 90 Minuten, die deutlich mehr Fragen aufgeworfen haben dürften, als sie Antworten lieferten. Wenn dieses Spiel die Verfassung der Mannschaft spiegelt, dann ist auch rund sieben Monate nach dem desaströsen Vorrunden-Aus bei der Weltmeisterschaft in Katar kein Fortschritt erkennbar. Auch wenn es sich in letzter Konsequenz "nur" um ein Benefizspiel handelte gegen eine Mannschaft aus der Ukraine, deren Heimat seit mittlerweile 475 Tagen, seit dem 24. Februar 2022, gegen die völkerrechtswidrigen Invasion Russlands in ihrer Existenz bedroht ist.

Die Partie setzte erfolgreich ein Zeichen für die Solidarität, für den Zusammenhalt gegen den Aggressor, darum soll es an dieser Stelle aber gar nicht gehen. Sondern um die sportlichen Erkenntnisse, und die sind einmal mehr ernüchternd: Wieder kassierte die DFB-Elf drei Gegentore, wie schon gegen Belgien im März, wieder hatte sie Glück, dass es nicht noch mehr wurden. In nur 2 der jüngsten 14 Partien spielte sie zu null - beim 1:0 gegen den Oman im November und beim 2:0 gegen Peru im März -, kassierte in dieser Zeit aber 21 Gegentore, also 1,5 pro Partie.

Fast schon verzweifelt wirbt der DFB um Aufbruchstimmung vor dem Heim-Turnier, in Bremen musste sich das Premiumprodukt des schwer kriselnden Verbandes lautstarke Pfiffe und Buh-Rufe gefallen lassen, die "Werder Bremen"- und "Hier regiert der SVW"-Sprechchöre waren deutliche Ausdrücke des Unmuts über die enttäuschende Leistung. Die Politik mag Oliver-Bierhoff-Nachfolger Rudi Völler erfolgreich vom Rasen verdrängt haben, symbolisiert durch die Rückkehr zur Kapitänsbinde in Schwarz-Rot-Gold. Das allerdings lenkt den Fokus nur noch mehr darauf, wie düster es zwölf Monate vor der Heim-EM sportlich aussieht.

Was wird aus Kimmich und Goretzka?

Flick sprach von "individuellen Fehlern", die nach guter Anfangsphase die Partie hätten kippen lassen. Beim 1:1 ließ sich die deutsche Abwehr von einem schnellen Konter überrumpeln, beim 1:2 verteidigte sie ähnlich dilettantisch, das 1:3 resultierte aus einem katastrophalen halbhohen Rückpass und einem Ausrutscher - doch es wäre zu kurz gegriffen, allein die Profis für den einmal mehr erschreckenden Auftritt verantwortlich zu machen. Stattdessen rückt immer mehr die Frage in den Fokus, welchen Plan eigentlich der Bundestrainer verfolgt, ob es wirklich nur an der Umsetzung scheitert - oder Flick die falschen Ideen verfolgt.

Gegen die Ukraine spielte die DFB-Elf erstmals unter Flick mit einer Dreierkette, die sich aber so wacklig präsentierte, dass der Bundestrainer schon kurz nach dem Seitenwechsel wieder zur Viererkette zurückkehrte, um ein Debakel zu verhindern. "Wir brauchen noch ein anderes System", sagte Flick hinterher, warum er auf die alternative Abwehr-Formation setzte: "Das hat heute in verschiedenen Situationen nicht so gut geklappt." Dennoch dürfte die Dreierkette auch bei den vor der Sommerpause noch folgenden Partien in Polen und gegen Kolumbien zum Einsatz kommen.

"Ich glaube, da hat der eine oder andere heute, das muss man leider ansprechen, ein bisschen Pech gehabt und nicht den besten Tag erwischt", resümierte Füllkrug, der allerdings niemanden herausheben wollte und die Mannschaft als Ganzes kritisierte. "Das war auch für die Jungs das erste Mal Dreierkette in der Nationalmannschaft, eine Konstellation, die wir so noch nicht hatten", sagte Füllkrug. Flick wiederum sprach von einem "langen Prozess", Kapitän Joshua Kimmich benannte "das, was wir abstellen müssen: die Fehler hinten und vorne, die Chancenverwertung".

Flick wiederum musste sich in Bremen auch den Fragen stellen, was er mit der Umstellung im zentralen Mittelfeld hatte erreichen wollen. Der Bundestrainer hält dort trotz wachsender Kritik am Duo Joshua Kimmich/Leon Goretzka fest, diesmal allerdings mit Goretzka in der defensiveren Rolle und Kimmich in der offensiveren. Spielkontrolle brachte diese Neuordnung nicht, stattdessen verwies Flick auf die Eindrücke des nicht-öffentlichen Trainings. "Was ich im Training sehe, ist auf sehr hohem Niveau", sagte der Bundestrainer, "aber die Mannschaft verliert relativ schnell das Vertrauen in ihre Qualität." Ein alarmierendes Eingeständnis.

Das Ziel ist klar, der Weg dahin überhaupt nicht

Flick, seit August 2021 als Bundestrainer im Amt, versuchte, die wachsende Kritik an seiner Führung mit Zweckoptimismus zu beantworten: "Wenn wir etwas Positives herausziehen wollen: Mit zwei Einzelleistungen von Kai Havertz haben wir das Spiel noch mal ausgeglichen." Sicher, es ist ein Länderspiel nach dem Saisonende im Vereinsfußball, dessen sportlicher Wert überschaubar ist. Nur: Als automatisch qualifiziertem Gastgeber der EM sind es vor allem diese Spiele, in denen die DFB-Elf ihre Form für das Turnier entwickeln muss.

Mehr zum Thema

"Trotzdem gilt jetzt", so Flick weiter: "Kopf hoch, es geht weiter am Freitag, da wollen wir die Fehler einfach abstellen." Allerdings ziehen sich eben jene Fehler seit Monaten durch das Spiel der deutschen Mannschaft, praktikable Lösungen dafür scheint Flick bislang nicht entwickelt zu haben. Stattdessen suchte er - für viele überraschend - den Rückbezug zur WM 2006, damals "hat man im März 1:4 in Italien verloren und es war eine wahnsinnig negative Stimmung. Trotzdem ist es ein Sommermärchen geworden." Teamchef war damals Jürgen Klinsmann, dem es tatsächlich rechtzeitig zu Turnierbeginn gelang, eine Aufbruchstimmung zu erzeugen.

Davon aber ist die aktuelle Ausgabe der deutschen Fußball-Nationalmannschaft weit entfernt. Auch der Ukraine gelang es, die Schwächen der DFB-Elf offenzulegen und auszunutzen, die weit über individuelle Unzulänglichkeiten hinausgehen. "Wir haben einen Plan, was das Ganze betrifft", sagte Flick angesprochen auf das wenig überzeugende Experiment mit der Dreierkette, "den werden wir weiter durchziehen." Vor dem Dreierpack gegen Ukraine, Polen und Kolumbien hatte er betont, "in einem Prozess zur Euro" zu sein und "die drei Spiele nutzen" zu wollen, um am Ende dieser Reise andere Erkenntnisse zu haben". Mit den Eindrücken aus Bremen stellt sich umso mehr die Frage, wohin dieser Weg eigentlich führen soll.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen