Zitterpartie des Wahnsinns Kerbers große Karriere endet auf dramatischste Weise
31.07.2024, 17:19 Uhr
Das olympische Märchen von Angelique Kerber ist vorbei: Der deutsche Tennis-Star beendet seine große Karriere ohne Medaille, aber mit einem epischen Match. Kerber kann am Ende kaum noch laufen - und verliert im Pariser Glutofen gegen die Chinesin Qinwen Zheng in drei unglaublich dramatischen Sätzen.
Welch ein Hitzedrama, welch eine Zitterpartie: Nach einem ergreifenden Kampf im Viertelfinale des Tennisturniers bei den Olympischen Spielen ist Angelique Kerber in Paris gegen Qinwen Zheng aus China ausgeschieden und hat damit ihr olympisches Märchen und ihre große Tennis-Karriere beendet.
"Ich habe mein Herz hier in Paris gelassen. Es ist vorbei. Aber ich liebe es, Tennis zu spielen, und diese Atmosphäre: besser hätte man sich kein letztes Spiel vorstellen können", schwärmte Kerber bei Eurosport. 7:6 (7:4), 4:6, 6:7 (6:8) hieß es am Ende aus ihrer Sicht gegen die Nummer sieben der Welt. Die deutsche Tennisspielerin zeigte gegen die 21-jährige Chinesin, die zu Beginn der Saison das Finale der Australian Open erreicht und zuletzt in Palermo auch ein Turnier auf Sand gewonnen hatte, eine schier unfassbare Willensleistung. Am Ende wehrte sie nach 3:04 Stunden sogar noch drei Matchbälle ab, bevor sie unter tosendem Applaus ein letztes Mal vom Tennisplatz verabschiedet wurde.
Wieder war es ein olympischer Glutofen: Wie schon am Vortag, als Kerber im Einzel und Doppel sogar zweimal ran musste, brannte die Sonne in Paris von oben gnadenlos runter. Wieder herrschten Temperaturen von weit über 30 Grad Celsius. Diesmal war es eine drückende Hitze, wegen Gewittern wurde das Dach irgendwann geschlossen.
Kerbers Bogenlampen-Taktik
Und über allem thronte bedrohlich das mögliche Karriereende, denn Kerber hatte verkündet, dass nach Olympia Schluss ist. Vor dem Turnier hatte kein einziger Experte oder Fan etwas von der 36-Jährigen erwartet, ihre Wettquote war eine der höchsten vor Olympia-Start, also mit niedriger Gewinnchance. Am Ende wurde das finale Kapitel des Märchens so dramatisch, wie keiner es sich je hätte ausmalen können.
Deutschlands Tennis-Teamchef Rainer Schüttler hatte Kerber vor dem Viertelfinale den nächsten Überraschungssieg zugetraut. "Sie fühlt sich wohl, hat sehr viel Selbstvertrauen gesammelt. Ich glaube, dass sie eine Chance hat", sagte der Ex-Profi, warnte aber auch vor der Gegnerin Zheng. "Das ist jetzt schon eine unglaubliche Geschichte, es ist gigantisch, wie sie sich durchgefightet hat", sagte Schüttler. Wie recht er (teilweise) behalten sollte.
Mitte des ersten Satzes passte Kerber ihre Taktik an - mit Erfolg. Um der Chinesin ihren besten Schlag, die starke Vorhand mit Topspin, zu nehmen, setzte die Deutsche auf langsame, hohe Bälle, regelrechte Bogenlampen, die sie tief ins Feld hob. "Moonball" nennt man so etwas im Tennis; ein Ball, der fast den Mond erreicht. Die völlig untypische Kerber-Spielweise fruchtete, indem sie Zheng damit immer wieder zu unnötigen Fehlern zwang. Die Fans antworteten mit "Angie"-Sprechchören.
Gleichzeitig hämmerte die Kielerin ihrer Gegnerin ein aufs andere Mal ihre kraftvolle Vorhand longline, also geradeaus, um die Ohren für direkte Punkte. Ihr Paradeschlag. Kerber reckte jedes Mal die Faust in die Höhe. Puschte sich nach vorne. Wirkte wie absolute Weltklasse. Nervenstark bewies Kerber im Tiebreak, dass sie mit Kopf, Technik und unglaublichem Siegeswillen ihre nicht mehr ganz so starken Schläge und die nicht mehr ganz so vorhandene Fitness, im Gegensatz zu einer 21-Jährigen, die kein Kind auf die Welt gebracht hat, wettmachen kann. 53 Minuten dauerte der hart erkämpfte erste Satz. In dieser Zeit haben andere schon ganze Endspiele gewonnen.
Urschrei von Kerber und Drama
Im nächsten Durchgang sah Kerber mehr und mehr körperlich gezeichnet aus. Ihr schier ewig andauerndes Aufschlagspiel beim Stand von 1:1 verlor sie am Ende. Auch, weil Zheng immer öfter Stopbälle einstreute, die Kerber immer seltener erlaufen konnte. Zwar gelang der Deutschen das Rebreak mit ihrer Taktik der Bogenlampen, aber sie wirkte von Spiel zu Spiel platter.
Die Beine wie Blei, der Kopf überhitzter, die Schläge kraftloser: Weil Kerber sich nur noch über den Platz schleppen konnte, manchmal gar energielos auf dem Sand stehen blieb, gewann Zheng den Satz verdient nach einem erneuten Break.
Im finalen Durchgang folgte das große Drama. Erst hatten sich beide Profis mürbe gespielt, die Körperspannung war anfangs komplett raus. Kerber berappelte sich als Erste, mit einem Break zu Null zum 3:1. Anschließend gewann sie eine unglaubliche mentale Zitterpartie mit ihren verrückten Bogenlampen. Mit allerletzter Kraft holte Kerber sich das 4:1 - aber die Chinesin wachte rechtzeitig auf und glich schnell zum 4:4 aus.
Mit einem Urschrei stellte Kerber auf 5:4. "Ich kann nicht mehr", sagte sie im nächsten Spiel in Richtung ihres Trainerteams - und Zheng glich erneut aus. Wie es sich für solch eine Zitterpartie gehört, ging es erneut in den Tiebreak. Dort wehrte Kerber drei Matchbälle ab, um das Drama noch einmal auf die Spitze zu treiben. Doch beim vierten Matchball behielt die Chinesin gegen die körperlich leidende Kerber die Nerven.
Eindrucksvoller Abgang Kerbers
Bereits in der ersten Runde hatte Kerber überrascht, denn einige hatten ihr sofortiges Aus und das damit einhergehende Karriereende gegen die Japanerin Naomi Osaka erwartet. Auch in den darauffolgenden Partien war die Deutsche, die in der WTA-Weltrangliste nur noch auf Platz 212 geführt wird, der Underdog, aber biss sich durch. "Ich hätte vor einer Woche nicht gedacht, dass das jetzt alles hier so laufen wird. Besser hätte ich es mir nicht vorstellen können", sagte Kerber nach dem Achtelfinale gegen die frühere kanadische US-Open-Finalistin Leylah Fernandez selbst.
In Paris spielte Kerber fast wie in besten Zeiten auf. Da lag auch daran, dass sie nach ihrer Ankündigung, nach Olympia die aktive Laufbahn zu beenden, befreit aufspielen konnte. Zum ersten Mal nach der 18-monatigen Babypause und dem Comeback Ende vergangenen Jahres. Nach der Geburt ihrer Tochter wollte sie es allen noch einmal beweisen, wollte vielleicht auch zu viel zu früh. Fast immer flog sie nach ihrem Comeback in der ersten Runde raus. "Nach der Entscheidung bin ich wirklich erleichterter geworden", sagte Kerber in Paris. "Und ich habe das Gefühl, dass ich tatsächlich ein bisschen entspannter bin." Sie erklärte, sie könne "alles hier lassen, weil ich danach einen etwas längeren Urlaub habe und dann regenerieren kann".
Diese besten Zeiten von Kerber liegen schon eine ganze Weile zurück. Ihren ersten Grand-Slam-Sieg 2016 in Melbourne feierte sie mit dem Sprung in den Yarra-River. Im selben Jahr gewann sie die Silbermedaille bei den Olympischen Spielen in Rio und im Anschluss die US Open. Es war ihr bestes Profi-Jahr, im September wurde sie als erste Deutsche nach Steffi Graf die Nr. 1 der Weltrangliste. 2018 triumphierte sie im Wimbledon-Finale über Serena Williams und sagte anschließend immer wieder, dies sei ihr größter Erfolg gewesen. Nur auf Asche, da wollte es nie wirklich klappen. Die French Open für sie meist alles andere als ein erfolgreicher Schauplatz. Bei Olympia konnte sie doch noch Frieden mit dem Sand schließen.
Am Vortag hatte Kerber schon ein Karriereende zu verkraften. Im Doppel mit Laura Siegemund absolvierte sie ihr letztes Profispiel mit einer Partnerin an ihrer Seite bei der deutlichen Pleite gegen Großbritannien. Nun hat die beste deutsche Spielerin seit Steffi Graf und die populärste deutsche Tennisspielerin der vergangenen Jahre nach grandiosem Kampf auch ihre Einzelkarriere abgeschlossen. Eindrucksvoller hätte es kaum passieren können.
Quelle: ntv.de