Wirtschaft

Trotz großen Sanktions-Kalibers "Ein Kollaps steht Russlands Wirtschaft nicht bevor"

277846030.jpg

Gleich nach Beginn des Krieges haben sehr viele große internationale Unternehmen angekündigt, sich aus Russland zurückzuziehen, weil sie keine Zukunft mehr sahen oder Reputationsschäden befürchteten.

(Foto: picture alliance/dpa/SOPA Images via ZUMA Press Wire)

Den Einmarsch Russlands in die Ukraine vor einem Jahr bestrafen die EU und ihre Verbündeten mit den heftigsten Sanktionen, die ein Land wohl jemals gesehen hat. Die Wirtschaft ächzt, doch die erhoffte Schockwirkung bleibt aus. Warum? Über das "russische Experiment" und warum die Kreml-Regierung immer noch durchhält, spricht ntv.de mit dem Osteuropa-Experten Janis Kluge.

ntv.de: Im Mai - drei Monate nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine - haben Sie gesagt, dass die Sanktionen "drastisch werden für Russland". Tatsächlich hält Russland aber überraschend gut stand. Wie erklären Sie diese Fehleinschätzung?

Janis Kluge: Ich würde weiterhin an dieser Einschätzung festhalten. Die Wirkung der Sanktionen ist drastisch, allerdings entfaltet sie sich deutlich langsamer und einige extreme Szenarien sind nicht eingetreten. In den ersten zwei Wochen nach Einführung der Sanktionen wankte das russische Bankensystem, eine Finanzkrise schien im Bereich des Möglichen. Aber nach einigen Tagen sind die Bank Runs, also die Menschenschlangen vor den Geldautomaten, dann wieder verschwunden, die russische Zentralbank hat die Liquiditätsprobleme bei den russischen Banken wieder in den Griff bekommen.

Die Geldpolitik war also ein wichtiger Faktor, aber niemand hatte sie auf dem Schirm?

Dass die russische Zentralbank keine größeren Fehler gemacht hat, war sicherlich wichtig. Aber wenn es zu einer Finanzkrise kommt, wirken dabei auch psychologische Prozesse, die schwer zu prognostizieren sind. Es kommt ein Teufelskreis in Gang, weil niemand mehr den Institutionen vertraut und die Institutionen dann wirklich zusammenbrechen. Im russischen Fall ist so ein Teufelskreis nicht in Gang gekommen.

Russland wurde wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine von westlichen Staaten mit immer heftigeren Sanktionen belegt. Warum bringen sie bislang nicht das gewünschte Ergebnis?

Das große Kaliber der Sanktionen, die in den ersten Kriegstagen eingeführt wurden, kam überraschend. Welchen Schaden es anrichten würde, war schwer zu beziffern. So harte Maßnahmen gegen eine so große, international vernetzte Volkswirtschaft waren neu, ein wirtschaftliches Experiment. Es gab ein hohes Maß an Unsicherheit. Selbst einige russische Institute erwarteten damals einen Einbruch des BIP für 2022 um zehn Prozent oder mehr. Heute wissen wir mehr über die Wirkung der Sanktionen - und dass es auch noch andere externe Faktoren gibt, zum Beispiel die internationalen Rohstoffmärkte, ...

... die Russland im vergangenen Jahr sehr geholfen haben.

Das Einfrieren der Zentralbankreserven war deshalb eine Maßnahme, die erst sehr drastisch aussah, die letztlich aber im ersten Jahr keine große Wirkung hatte. Russland hatte durch den fortgesetzten Öl- und Gasexport sehr hohe laufende Deviseneinnahmen. Moskau war gar nicht auf diese Reserven angewiesen. Damit war auch klar, dass es unglaublich schwierig sein würde, auf diese Weise Druck auszuüben. Zudem war die russische Zentralbank sehr kreativ. Als sie keinen Zugriff mehr auf ihre Dollar und Euro hatte, hat sie die großen russischen Exporteure verpflichtet, ihre Dollar und Euro in Rubel zu tauschen. Damit schuf sie eine künstliche Nachfrage nach der fallenden Währung, was sie stabilisierte.

Welche Sanktionen waren denn erfolgreich?

Kluge_Janis_presse.jpg

Janis Kluge ist Russland-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

(Foto: Stiftung Wissenschaft und Politik)

Wirkungsvoll war eine Kombination aus dem Technologieembargo, also dass der Westen bestimmte Technologien nicht mehr nach Russland exportiert, und der Rückzug westlicher Unternehmen. Im russischen Fahrzeugbau und in Branchen wie der Luftfahrt gab es dadurch starke Produktionseinbrüche. Ein Nebeneffekt davon war aber auch, dass Russland weniger Devisen ausgab. Der Einbruch der Importe sorgte also für noch höhere Überschüsse in der Handelsbilanz. Man sieht, wie die Sachen ineinandergreifen.

Die stärksten Maßnahmen sind voraussichtlich die, die zuletzt ergriffen wurden: das Ölembargo der EU von Dezember sowie das Embargo für Ölprodukte von Anfang Februar. Hier sieht man jetzt einen deutlichen Effekt im Haushalt. Diese Maßnahmen schwächen zum einen den Rubel, zum anderen drosseln sie die Öl- und Gaseinnahmen des Staates. Das ist wichtig, weil mit dem Geld der Krieg finanziert wird. Wir müssen aber noch ein paar Monate abwarten, um zu sehen, ob dieser Effekt auch von Dauer ist.

Sie haben es angesprochen: Gleich nach Beginn des Krieges haben sehr viele große internationale Unternehmen ihren Rückzug aus Russland angekündigt. Wie hat sich die russische Wirtschaft dadurch verändert?

Wie sich gezeigt hat, ist der Rückzug teilweise gar nicht so einfach. Moskau will möglichst viele ausländische Investoren im Land behalten und macht es ihnen deshalb so schwer wie möglich. Käufer sind nicht mehr leicht zu finden. Sanktionierte Personen und Unternehmen kommen schon mal nicht infrage. Für die wenigen finanzkräftigen Oligarchen oder Unternehmer Russlands, die noch nicht sanktioniert sind, entpuppt sich der Exodus jedoch als Einkaufs-Eldorado, denn die ausländischen Unternehmen sind relativ günstig zu haben. Viele Investoren verkaufen zu einem symbolischen Euro, vielleicht noch mit einer Rückkaufklausel, falls es in den nächsten sechs Jahren gewünscht sein sollte, dass man wieder zurückkehrt. Auch der russische Staat hat Firmen aufgekauft.

Um Lücken zu füllen, haben Russlands Unternehmen im vergangenen Jahr so viel investiert wie nie zuvor. Das signalisiert eine aus westlicher Sicht nicht beabsichtigte Stärke.

Die Investitionen überraschen erstmal, lassen sich aber gut erklären: Die Unternehmen müssen wegen der Sanktionen für Ersatz für die fehlenden Materialien und Maschinen aus dem Westen sorgen. Wichtig ist, dass es sich hierbei aber um eine ungewöhnliche Art von Investitionen handelt. Wenn in Deutschland investiert wird, geht es den Unternehmen um mögliche Profite in der Zukunft. In Russland sind es dagegen erzwungene Investitionen durch den Mangel von Gütern oder Zulieferern. Sie signalisieren keine Stärke, sondern füllen Lücken - und das häufig mit Produkten schlechterer Qualität. Dadurch wird zwar das Bruttoinlandsprodukt in der Gegenwart gesteigert, aber es bringt kein dauerhaftes Wachstum.

Nach einem Jahr Ukraine-Krieg klafft inzwischen doch ein großes Loch im russischen Staatshaushalt. Wie lange kann Kreml-Chef Putin die Wirtschaft unter dem Druck der Sanktionen noch am Laufen halten?

Ein Kollaps steht der russischen Wirtschaft definitiv nicht bevor. Das alles sind graduelle Entwicklungen über die nächsten Jahre. Es gibt weiterhin große Unsicherheiten, verschiedene Maßnahmen wurden ja gerade erst eingeführt. Fest steht: Russland hat weniger Haushaltseinnahmen und die Ausgaben - vor allem die für den Krieg - sind in die Höhe geschnellt. Die Situation hat sich verschlechtert. Kritisch ist sie aber noch nicht. 2023 wird sie das auch noch nicht werden. Russland könnte dieses Jahr noch ein Haushaltsdefizit von fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts kompensieren.

Und wie?

Auch wenn die Zinsen gestiegen sind, kann das Finanzministerium immer noch weiter neue Schulden aufnehmen - auch weil Russland vor dem Krieg so eine geringe Staatsverschuldung hatte. Eine zweite Möglichkeit wären Steuererhöhungen. Es wird eine Extrasteuer für Unternehmen diskutiert. So etwas gab es im vergangenen Jahr schon für Gazprom.

Eine dritte Lösung ist der sogenannte Nationale Wohlfahrtsfonds. Auch wenn damit letztes Jahr schon das Haushaltsloch gestopft wurde, sind immer noch ungefähr vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts an liquiden Mitteln vorhanden. Darüber hinaus stellt Russland alle Ausgaben zurück, die jetzt nicht dringend nötig sind. Es wird beispielsweise weniger in Straßenbau investiert. Zur Not könnte die Zentralbank sogar noch Geld drucken. Auch das kann den russischen Haushalt noch eine ganze Zeit lang über Wasser halten. Natürlich hätte das Nebenwirkungen, in Form einer steigenden Inflation beispielsweise. Für die nächsten Jahre wird es deshalb sehr wichtig sein, darauf zu schauen, weil das den Spielraum der Regierung in Zukunft bestimmen wird.

Transparency International hat in Großbritannien immer noch große Geldströme aus dubiosen russischen Quellen ausgemacht. Mangelt es dem Westen bei den Sanktionen auch am nötigen Durchsetzungswillen?

Die westlichen Finanzplätze sind tatsächlich ein integraler Bestandteil des Putin-Systems und der russischen Korruption. Aus verschiedenen Gründen ist es aber nicht so leicht, dem beizukommen. Da ist zum einen die Frage nach dem politischen Willen, weil es auch geschäftliche Interessen vor Ort in den Finanzplätzen gibt. Zum anderen zeigt uns unser Rechtssystem aber auch Grenzen auf. Um festzustellen, ob Geld aus Russland schmutzig oder sauber ist, brauchen wir Datenleaks. Ein internationales Gütesiegel für sauberes Geld würde helfen, aber so viel Transparenz gibt es nicht. Wir wollen nicht auf Verdacht enteignen. Nach unserem Rechtsverständnis bedeutet das: Lieber einen korrupten Oligarchen tolerieren und dafür nicht unschuldige Russen enteignen.

Heißt das, wir müssen uns auf einen langen Konflikt mit Russland einstellen?

Mehr zum Thema

Wir erleben eine Zeitenwende. Das ist kein vorübergehender Zustand, der in zwei Jahren vorbei ist. Einige Dinge, die im letzten Jahr passiert sind, werden uns auch in 10 und 20 Jahren noch beschäftigen. Der Bruch mit Russland wird wohl von Dauer sein. Wir werden eine sehr starke Militarisierung und "Versicherheitlichung" des Kontinents sehen, ganz unabhängig davon, wie dieser Krieg sich weiterentwickelt.

Mit Janis Kluge sprach Diana Dittmer

Quelle: ntv.de

ntv.de Dienste
Software
Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen