Punktekonten und schwarze Listen Wie Peking verschuldete Chinesen bestraft


Kameras mit Gesichtserkennung sind in China allgegenwärtig.
(Foto: picture alliance / Caro)
Die totale Kontrolle: Mit dem Sozialkreditsystem werden die Menschen in China kontinuierlich bewertet. Wer negativ auffällt oder Schulden hat, landet auf der schwarzen Liste und darf zum Beispiel keine Flug- oder Schnellzug-Tickets kaufen. Doch das System ist noch lange nicht flächendeckend eingeführt.
In China müssen sich die Menschen gut überlegen, was sie tun oder lieber lassen. Kaum ein Land kontrolliert seine Einwohner so stark wie die Volksrepublik. Gutes Verhalten wird belohnt, schlechtes bestraft. Alles wird festgehalten im Sozialkreditsystem. Je mehr Punkte, desto besser. Pluspunkte gibt es für gemeinnützige Arbeit, für gute Leistungen im Job oder für Ordnung auf dem Grundstück.
Auf Fotos sind große Tafeln zu sehen, die für jeden sichtbar mitten in einem Dorf hängen. Darauf sind die Bewohner abgebildet, neben ihren Bildern sind die Punkte, die sie gesammelt haben. Teilweise führen die Kommunen auch digitale Listen - eine Art Verhaltenskonto.
Wer sich nach chinesischen Maßstäben vorbildlich verhält, landet auf einer roten, wer sich nicht gut benimmt, auf einer schwarzen Liste. So wie der chinesische Unternehmer Tao Ming Jian, der Kredite im Wert von 100.000 US-Dollar nicht pünktlich zurückgezahlt hat. Dass er auf der Liste steht, habe er erst bemerkt, als er keine Fahrkarte für den Schnellzug habe kaufen können, erzählt er bei ntv. "Ich kam vor Gericht. Nachdem das Urteil gesprochen wurde, blieb mir nicht viel Vermögen, das beschlagnahmt werden konnte. Also konnten sie mich nur auf die schwarze Liste setzen, um mir möglichst viele Unannehmlichkeiten zu bereiten und mich unter Druck zu setzen."
"Mit totaler Registrierung nicht zufrieden"
Tao Ming Jian ist einer von über acht Millionen Chinesen, die auf der schwarzen Liste gelandet sind. Weil sie ohne Ticket gefahren sind, eine Rote Ampel nicht beachtet haben, in eine Schlägerei verwickelt waren oder an der Universität abgeschrieben haben. Dort landet auch, wer in sozialen Medien die Kommunistische Partei kritisiert oder eben Schulden nicht zurückzahlen kann. Auch Unternehmen werden bewertet.
Die Idee für das Sozialkreditsystem ist vor zehn Jahren entstanden. Im Juni 2014 hat der Staatsrat der Volksrepublik China das "Planungsvorhaben für den Aufbau eines sozialen Bonitäts-Systems" veröffentlicht. Das Ziel war, "die Ehrlichkeit und Qualität der Nation" zu steigern und zu einer "harmonischen sozialistischen Gesellschaft" beizutragen. Der Plan war eine riesige landesweite Datenbank, in der alle Verwaltungsdaten erfasst werden. In 28 Modellstädten wird das Sozialkreditsystem momentan getestet und ausgewertet.
Eigentlich sollte es schon vor vier Jahren, 2020, im ganzen Land eingeführt werden. Doch davon ist China noch weit entfernt, sagt der Sinologe und Publizist Helwig Schmidt-Glintzer im ntv-Podcast "Wieder was gelernt": "Die Frage der Gesamtvernetzung ist noch längst nicht gelöst. Und man kann auch nicht genau sagen, wie sich das weiterentwickelt, weil manche ihre Kontrollsysteme auch wieder verändern. Einige Universitäten schaffen ihr Gesichtserkennungssystem wieder ab, weil sie es für übertrieben halten. Auch in der Bevölkerung gibt es nicht wenige, die mit dieser totalen Registrierung nicht zufrieden sind."
Schwarze Listen sollen Zahlungsausfälle vermeiden
Chinesinnen und Chinesen, die auf den schwarzen Listen landen, müssen mit Konsequenzen rechnen. Sie dürfen keine Flugtickets oder Fahrscheine für Schnellzüge kaufen. Identifizieren lassen sie sich leicht, da sie beim Kauf ihre Ausweisnummer angeben müssen. Sie bekommen keine Führungspositionen oder staatliche Jobs, sie werden nicht befördert und ihnen werden soziale Hilfen gekürzt. Kredite dürfen sie auch nicht mehr aufnehmen. Die Listen existierten aber eher auf der regionalen Ebene, weiß Schmidt-Glintzer. Ein Eintrag sei aber dennoch eine große Hürde: "Wenn Sie kein Taxi mehr bestellen oder keine Fahrkarte mehr kaufen können, weil Sie da gelistet sind, dann ist das tatsächlich ein großes Problem."
Die chinesische Regierung selbst sagt, dass sie nur diejenigen ins Visier nimmt, die ihre Schulden nicht zurückzahlen, obwohl sie das eigentlich könnten. "Diese Listen haben das Ziel, Vertrauen herzustellen, um keine Zahlungsausfälle in höherem Maße zu haben, weil natürlich jeder, der Zahlungsausfälle hat, dann auch selbst wieder in Schwierigkeiten geraten könnte", so der Sinologe.
Die Bonitätsmarkierungen tauchen auch in den sozialen Medien wie Wechat auf, berichtet Schmidt-Glintzer, die könne jeder mit einer entsprechenden Software sehen. "Ein Geschäftsmann in einer Provinz konnte so feststellen, wer in seiner näheren Umgebung Schulden hat."
Schuldenberge bei Privathaushalten
Es existieren verschiedene schwarze Listen für unterschiedliche Straftaten. Für Unternehmen gibt es laut Table.Media allein 25 für Steuern, Produktqualität oder Arbeitsrechte.
Privatpersonen landen meist auf einer schwarzen Liste, wenn sie Kredite oder Geldstrafen nicht zurückzahlen, obwohl sie zahlungsfähig sind, steht in einer Analyse des Merics-Instituts von 2021. Nicht nur Firmen, Provinzen und Städte, sondern auch Privatpersonen haben in den vergangenen Jahren riesige Schuldenberge angehäuft. Die Verschuldung der privaten Haushalte ist in den vergangenen fünf Jahren auf rund elf Billionen Dollar gestiegen.
Die Privatleute in China seien in einer Kreditkrise, sagt Schmidt-Glintzer im Podcast, auch durch die Immobilienkrise. "Viele Menschen hatten geglaubt, in Betongold zu investieren, nun stellen sie fest, dass sie die Kredite nicht zahlen können, dass die Wohnungen nicht fertiggestellt werden und sie keine erwarteten Mieteinnahmen haben." Zudem hätten viele Kleinunternehmer oder Restaurantbesitzer während der Corona-Epidemie keine Einnahmen gehabt.
Alibaba mit eigenem Ratingsystem
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Das Problem der Schwarzen Listen ist: Die Verwaltungen legen den Begriff Straftat ganz unterschiedlich aus. Während der Corona-Pandemie haben einige Städte auch mal Menschen darauf gesetzt, weil sie keine Schutzmaske getragen haben, schreiben die Merics-Experten.
Auch bei der Digitalisierung hakt es noch: Die Daten werden teils mit Excel-Arbeitsblättern oder per Wechat-App erfasst. Die kommunalen Bewertungssysteme ähnelten den Treueprogrammen von Fluggesellschaften. Die Modellstädte sammelten zwar Daten ohne Ende, viele davon seien aber qualitativ schlecht oder für den Sozialkredit nicht relevant, analysiert Merics.
Kein Wunder, dass Chinas Internetriesen längst eigene Kreditbewertungs-Systeme eingeführt haben: Beispielsweise Alibaba mit dem Sesame Credit. Das Unternehmen hat einen Datenaustausch mit den Behörden vereinbart.
Ähnlich wie bei der Schufa wird dort erfasst, was man einkauft, und ob Rechnungen pünktlich bezahlt wurden. Ein hoher Punktestand bringt Vorteile, man müsse zum Beispiel keine Kaution hinterlegen, wenn man ein Fahrrad oder Auto ausleihen möchte, berichtet eine Reporterin beim chinesischen Auslands-Fernsehsender CGTN.
Schwarzmarkt für Fahrkarten
Während die westliche Welt entsetzt ist von der totalen Kontrolle, erhoffen sich die Chinesinnen und Chinesen von solch einem Punktesystem eine bessere Lebensqualität. In einer Studie der Freien Universität Berlin haben mehr als zwei Drittel das Sozialkreditsystem in ihrem Land als positiv bewertet.
Und auch wenn man auf einer schwarzen Liste landet, gibt es Schlupflöcher. Längst existiert ein Netzwerk von Schwarzmarkt-Händlern. Über diese kann man Fahrkarten für Hochgeschwindigkeitszüge buchen.
In China gebe es immer wieder Versuche, das System zu unterlaufen, sagt Schmidt-Glintzer im Podcast. Deshalb glaube er nicht, dass sich das zentralisierte allwissende Überwachungsnetz auf Dauer wirklich durchsetzen wird.
Quelle: ntv.de