Uigure schildert Alltagsterror Fieberhafte Todesträume von Chinas Verfolgungsmaschine


Polizisten trainieren in Xinjiang für den Kampfeinsatz im Falle eines Aufstands.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Schulen werden zu Umerziehungslagern, Nachbarn zu Spitzeln, das eigene Zuhause zu einem Ort der Angst: In "Erwartung meiner nächtlichen Verhaftung" erzählt der uigurische Lyriker Tahir Hamut Izgil von Chinas Verfolgung, von der Zerstörung seiner Heimat - und davon, wie ihm die Flucht vor den Unterdrückern gelang.
Tahir Hamut Izgil wacht schweißgebadet in seiner Washingtoner Wohnung auf. Ihn plagen quälende Albträume von Verhören, Gefangenschaft und sogar von seiner eigenen Beerdigung: "Ich war gestorben", beschreibt er einen dieser fieberhaften Träume, wenige Monate nachdem ihm die Flucht vor der Gewaltherrschaft Chinas gelungen war. Er weiß zwar, dass er nun in Sicherheit ist. Doch das Leben in permanenter Angst, das Bangen um sein Leben und das seiner Familie, die andauernden Sorgen der letzten Jahre verfolgen ihn noch immer.

Tahir Hamut Izgil war Mitte der 1990er-Jahre in einem chinesischen Umerziehungslager inhaftiert. 2017 floh er mit seiner Familie aus Xinjiang ins US-amerikanische Exil.
(Foto: Asena Tahir Izgil)
Izgil ist Uigure, eine turksprachige Minderheit im Westen Chinas. Im uigurischen autonomen Gebiet Xinjiang arbeitet er als Lyriker und Filmemacher, lebt ein ruhiges Leben mit seiner Frau und zwei Töchtern. Doch die politische Lage in seiner Heimat spitzt sich weiter zu. Mit beispielloser Überwachung und Unterdrückung verfolgen die Behörden die Assimilierung der Uiguren in die Han-chinesische Kultur. Besonders unter Staatspräsident Xi Jinping nehmen die Repressalien ab 2013 massiv zu.
Das "Jüngste Gericht" schien nicht mehr fern
Wie sich diese Unterdrückung äußert und was sie mit der Psyche der Menschen macht, beschreibt Tahir Hamut Izgil in seinem bewegenden Buch "In Erwartung meiner nächtlichen Verhaftung": "Innerhalb von nur ein paar Tagen hatte man Schulen, Ämter und sogar Krankenhäuser in 'Studienzentren' umgewandelt und hastig mit Eisentüren, Gitterstäben vor den Fenstern und Stacheldraht versehen (...). Die Bevölkerung war starr vor Angst; man sagte, der Tag des Jüngsten Gerichts sei nicht mehr fern."
Mit den sogenannten "Studienzentren" sind die rund 1000 Umerziehungslager in Xinjiang gemeint, in denen laut Schätzungen von Human Rights Watch mehr als eine Million Uigurinnen und Uiguren inhaftiert sind. Den brutalen Lageralltag schildert die ebenfalls ins Ausland geflohene ehemalige inhaftierte Uigurin Gulbahar Haitiwaji in ihrem 2022 erschienenen Erfahrungsbericht "Wie ich das chinesische Lager überlebt habe". Schonungslos erzählt die heute 57-Jährige darin von Folter, Zwangssterilisierung und Isolation.
Ein Leben in permanenter Angst
Auch Tahir Hamut Izgil war bereits in solch einem "Studienzentrum". Mitte der 1990er-Jahre wird ihm vorgeworfen, sensible Daten ins Ausland geschmuggelt haben zu wollen. Drei Jahre verbringt er in Haft. Doch er erwähnt die Zeit im Lager eher beiläufig und widmet sich nicht den grausamen Details des Lageralltags. Izgil konzentriert sich auf die Zeit danach, in der die zunehmende Überwachung in seiner Heimat in scheinbar jeden Winkel des Lebens vordringt. Es ist die alltägliche Angst, die Izgil mit beeindruckender Genauigkeit beschreibt und untersucht.
Denn der Überwachungsapparat China geht weit über Kameras, Mikrofone und Scharen an Polizistinnen und Polizisten hinaus. Mitte der 2000er-Jahre gehört es für die Menschen in Xinjiang längst zum Alltag, von Beamten in Zivil auf einen kleinen "Plausch" zum Tee eingeladen zu werden. Ob einem irgendetwas aufgefallen sei, in der Nachbarschaft, im Freundeskreis, in der Familie vielleicht? Falls ja, solle man dies sofort melden. Ansonsten mache man sich selbst verdächtig. Mit der Angst als Druckmittel werden aus Nachbarn, Freunden und Familienmitgliedern Spitzel.
"'Studienzentren waren Konzentrationslager"
Auch Izgil bleibt nach seiner Lagerhaft im Fokus der Behörden, als Intellektueller mit guten Kontakten ins westliche Ausland ist er ihnen ein Dorn im Auge. Er wird selbst einige Male "zum Tee" eingeladen. Treffen mit anderen Lyrikern und Intellektuellen werden von Polizisten aufgelöst, täglich verschwinden um ihn herum Menschen in den sogenannten "Studienzentren", die Izgil "Konzentrationslager" nennt.
Er bemerkt, dass sich die Schlinge um seinen Hals immer enger schnürt, bangt um seine Sicherheit und vor allem um die seiner Frau und seiner beiden Töchter: "Was zunächst nur ein laues Lüftchen gewesen war, entwickelte sich zu einem Sturm, einem Sturm, der alles verschlang, was sich ihm in den Weg stellte." Und so beschließt die Familie, Xinjiang zu verlassen und in die USA zu flüchten.
Was folgt, ist eine Odyssee durch kafkaeske Behörden-Labyrinthe; eine mehrjährige Jagd nach Unterschriften, Stempeln und Visa, die sich wie ein Thriller liest. Und obwohl Izgil und seine Familie immer wieder Schikanen ausgesetzt sind und ihnen die Zeit allmählich davonzurennen droht, klingt der Autor nie zornig oder anklagend. Still, in sich gekehrt und melancholisch beschreibt er diesen zermürbenden Fluchtversuch, währenddessen seine Heimat um ihn herum zerstört wird, nicht als Kampf. Izgil beschreibt ihn als einen "tiefen, andauernden Schmerz".
Schweiß getränkte "Exilträume"
Als der Gipfel der Angst erreicht zu sein scheint und Izgil in schlaflosen Nächten jederzeit mit seiner plötzlichen Verhaftung rechnet, gelingt der Familie schließlich die Flucht. Unter dem falschen Vorwand, eine der Töchter benötige in den USA eine medizinische Behandlung, wird ihnen die Ausreise gestattet: "Wir waren frei."
In Washington bauen sich die vier mit viel Mühe und Geduld ein neues Leben auf. Izgil verdient zunächst als Uber-Fahrer Geld, "eine häufige Beschäftigung für uigurische Immigranten in der D.-C.-Region (...). Unter den uigurischen Uber-Fahrern in Amerika waren frühere Ärzte, Professoren, Juristen, Ingenieure und sogar Regierungsangestellte."
Die neu gewonnene Freiheit geht jedoch mit dem schmerzhaften Verlust der Heimat einher. Tahir Hamut Izgil weiß, dass er niemals nach Xinjiang zurückkehren wird. Aus Angst vor Verhaftung brechen Freunde und Familie in China den Kontakt zu ihm ab. "In unserem Leben in Amerika folgten Freude und Kummer geradezu schwindelerregend schnell aufeinander", beschreibt er die ersten Monate im Exil.
Seit seiner Flucht in die USA wird Izgil regelmäßig von fieberhaften "Exilträumen" heimgesucht. Auch sie verkörpern diesen Gefühlsmix: "Wir sind endlich frei, doch die, die wir am meisten lieben, leiden noch immer, in diesem geschundenen Land (...). Wir werden diese geliebten Menschen nur mehr in unseren Träumen wiedersehen." Auch seine Frau Marhaba schwankt in ihren Träumen zwischen Erleichterung, Heimweh und Trauer und fasst zusammen: "Unsere Körper sind hier (...), aber unsere Seelen sind noch immer in unserer Heimat."
Quelle: ntv.de