Mercedes Pagode feiert Jubiläum Alt oder neu? Mercedes 230 SL trifft auf SL 63 4Matic


Beide SL baggern mit ihren großen Zentralsternen. Der sogenannte Panamericana-Grill passt zum neuen, performanten SL. Er gilt als Hommage an den unglaublich schnellen Mercedes 300 SL der Baureihe W194, der in den Fünfzigern an der Carrera Panamericana teilnahm.
(Foto: Mercedes/Dirk Weyhenmeyer)
Nach 60 Jahren SL-Baureihe 113, besser bekannt als Pagode, ist der Mercedes-Roadster wie viele andere Autos auch größer, schneller und stärker geworden. Inzwischen hat AMG die Entwicklungshoheit über die offene Modellreihe, was ihr den sportlichen Touch zurückgibt, den sie verdient hat.
Zum Thema Mercedes SL sind eigentlich alle Geschichten erzählt? Weit gefehlt, die offene Mercedes-Ikone ist derart vielfältig, dass man immer neue Wendungen finden kann. Außerdem ist sie so beliebt bei Neuwagen- wie Klassiker-Interessenten, dass man sich an ihr gar nicht satt schreiben kann. Und es gibt sowieso immer genügend Anlässe.

Die Pagode ist deutlich zierlicher als der aktuelle SL. Beide sind aber traumschön.
(Foto: Mercedes/Dirk Weyhenmeyer)
Dieses Jahr ist es der 60. Jahrestag der beliebten Baureihe 113. Diese ist inzwischen sogar derart gefragt, dass die Preise in den letzten Jahren in den sechsstelligen Bereich geklettert sind. Und das, obwohl knapp 50.000 Exemplare des 113 vom Band gerollt sind (viele davon dürften noch existieren). Das sind doppelt so viele wie vom Vorgänger 190 SL in einem ähnlich langen Bauzeitraum. Rund die Hälfte davon ging an US-Käufer. Im Vergleich zu den späteren SL-Ausführungen fällt die Pagode optisch recht zierlich aus.
Die Pagode ist verhältnismäßig sportlich

Eine wunderschöne Cabriolinie hatte der SL früher schon. Und Überrollbügel? Gibt es nicht.
(Foto: Mercedes/Dirk Weyhenmeyer)
Ein richtiges Leichtgewicht ist dieser frühe SL allerdings nicht - jedenfalls im Verhältnis zu den Abmessungen betrachtet. Der 4,28 Meter lange Tourer wiegt bis zu 1,5 Tonnen als 280 SL. Ein bisschen leichter dürfte der aus dem Mercedes-Museum entliehene 230 SL frühen Baujahrs sein. Gut so, denn der mit 2,3 Litern Hubraum gesegnete Reihensechszylinder M127 II ist nach heutigen Maßstäben nicht überbordend kräftig mit 150 Pferdchen sowie 196 Newtonmetern Drehmoment.
Paart man den Zwodreißiger allerdings mit dem ZF-Fünfganggetriebe, macht er einen durchaus sportlichen Eindruck. Vor allem bei höheren Drehzahlen wird der Sechsender munter und entwickelt zudem ein kerniges Timbre. Schön auch, dass die Fünfgang-Box recht leichtgängig bedienbar ist. Und auch hier Vorsicht - bitte immer in Altautomaßstäben denken.

Klare Rundinstrumente zeichnen die Pagode aus. Der Schaltknauf gleicht einem Golfball.
(Foto: Mercedes/Dirk Weyhenmeyer)
Nach einer ausgiebigen Runde 113 tausche ich das Auto ein gegen den SL der Neuzeit. Man hätte jetzt einen Vierzylinder nehmen können angesichts des riesigen Leistungsunterschiedes, wie er im Vorgänger des 113 (190 SL) auch gewerkelt hat. Aber nee, das würde nicht zum SL passen. Und es besteht der Verdacht, dass auch Mercedes im Grunde seinen Herzens denkt, dass das nicht passt, und wieder revidieren wird. Mal abwarten.
Ob für den Vergleich ein 63er hätte sein müssen und der etwas schwächere 53er ebenfalls gereicht hätte, darf diskutiert werden. Aber die Untertürkheimer hatten es eben gerade nicht kleiner. Also auf zur Probefahrt mit wohlbekanntem Vierliter-V8 unter der Haube. Auf Knopfdruck erwacht der Doppelturbo mit schön leichter V8-Tonalität, aber nicht prollig-laut wie früher in Affalterbach üblich. Fein. An Lautstärke mag AMG vielleicht eingespart haben, an Power keinesfalls. Der 585 PS starke Zweitonner legt urgewaltig los. Er kann zudem willig drehen, aber fast noch eindrucksvoller ist, wie wuchtig das achtzylindrige und von jedem Endmonteur persönlich auf einer am Motor angebrachten Plakette unterschriebene Kunstwerk unter der Haube mit 800 Newtonmetern (ab 2500 Touren) im mittleren Drehzahlbereich schon bei der geringsten Gaspedalbewegung schiebt.
Ein aktueller SL ist absolut alltagstauglich

Die schöne Cabriolinie gibt es beim SL nach wie vor. Sollte sich der Wagen überschlagen, fährt blitzschnell ein Überrollbügel raus. Diese Technologie wendet Mercedes seit 1989 an.
(Foto: Mercedes/Dirk Weyhenmeyer)
Doch Motor ist nicht alles. Der Unterschied zwischen SL früher und heute besteht vor allem in seiner Multifunktionalität. Und obwohl das Modell seit 2021 wieder eine schicke Stoffkapuze trägt, herrscht im Innenraum absolute Ruhe. Außerdem kann man sich auf den kommoden Sesseln durchkneten lassen, wenn es auf längere Reise geht. Lange Strecke mit dem SL, echt? Klar, falls man mit 213 Litern Kofferraumvolumen auskommt, dann schon.
Wenige Sekunden entfernt liegt das Frischluftvergnügen. Wenn das dreilagige Verdeck fällt, fährt man auf der Sonnenseite des Lebens (sofern die Sonne scheint) und kann sich traditionellerweise ein bisschen Warmluft in den Nacken pusten lassen vom sogenannten Airscarf, falls die Außentemperaturen nicht so recht mitspielen. Ist sogar inzwischen serienmäßig. Von so etwas konnten die Cabrio-Kunden in den Sechzigerjahren natürlich nur träumen.

Der Innenraum des neuen SL ist vor allem geprägt von viel Display. Und feinen Materialien natürlich ebenso.
(Foto: Mercedes/Dirk Weyhenmeyer)
Dafür geht es in der Pagode rauer zu, denn die Position hinter der steilstehenden Frontscheibe liegt weniger geschützt. Doch manch jemand mag ja genau das. Übrigens gab es beim 113 im Laufe des Bauzyklus irgendwann die Möglichkeit, auf ein Verdeck gänzlich zu verzichten. Die im Volksmund California-Version genannte Ausführung bekam dafür eine Fondsitzbank und das markant gewölbte Hardtop (daher auch der Name Pagode) auf den Weg.
Neuer oder alter SL? Eine Frage der Philosophie. Das Fahren in der Pagode geht zumindest einfach von der Hand, wenngleich nicht so einfach wie bei modernen SL. Er bremst nicht so gut, lenkt schwergängiger, fährt nicht so satt - all das muss man berücksichtigen. Dafür ist der kleine Mercedes übersichtlich, braucht also nicht einmal Parkpiepser, um bequem im Parkhaus klarzukommen.
Allerdings ist auch die neueste SL-Version kein riesiges Auto mit 4,70 Metern Länge. Aber man fühlt sich schon deutlich mehr eingepackt und abgeschottet von der Außenwelt bei geschlossenem Verdeck und auch bei offenem weiter weg vom Straßengeschehen.
Die Pagode war seinerzeit übrigens ein sehr sicheres Auto. Der Roadster verfügt über Knautschzonen, da er technisch abgeleitet ist vom damals hochmodernen W111 - wenn man so will, eine frühe Form der S-Klasse. Crashtests waren hier bereits an der Tagesordnung.
Der R232 strotzt vor Features für Sicherheit und Komfort
An Sicherheits- und Komfortfeatures schöpft das auf die interne Bezeichnung R232 hörende Baumuster freilich aus den Vollen. Ohne Frage lenkt der SL auch mit den Hinterrädern und gleicht Wankbewegungen hydraulisch aus. Alles Maßnahmen, die ihn zusammen mit seiner präzisen Lenkung zügig durch die Kehre stürmen lassen. Auch geradeaus geht es richtig druckvoll: Nach 3,6 Sekunden stehen 100 km/h auf dem Tachodisplay und AMG lässt den Boliden 315 km/h rennen.
Um Traktionsprobleme erst gar nicht entstehen zu lassen, kommt der SL in dieser Form erstmals mit vier angetriebenen Rädern. Schaut man auf die Zahlen, schneidet aber auch der 230 SL nicht so schlecht ab. Auch er läuft trotz schlechter Aerodynamik 200 Sachen, braucht dafür logischerweise deutlich länger. Allein das Beschleunigen auf Landstraßentempo nimmt selbst bei der Variante mit Schaltgetriebe rund zehn Sekunden in Anspruch.
Doch das soll nicht weiter stören, der betagte SL muss keinen heißen Reifen hinlegen. Die meisten Interessenten dürften ihn als Wertanlage oder Genussfahrzeug nutzen, das am Wochenende Auslauf bekommt. Der Vorteil bei Mercedes-Klassikern besteht in der überaus guten Ersatzteillage.
Ein moderner SL ist so ein bisschen die eierlegende Wollmilchsau unter den Luxusfahrzeugen. Denn abgesehen von den knappen Transportmöglichkeiten ist er in vollem Maße alltagstauglich - selbst im kalten Winter. Dazu gehört natürlich ebenso das volle Infotainment. Die Schwaben bieten die komplette MBUX-Dröhnung inklusive eines beweglichen Zentralbildschirms plus Head-up-Display mittlerweile. Ein Schaltgetriebe gibt es hingegen schon lange nicht mehr, diese Aufgabe übernimmt der Automatik in gleich neunfacher Manier. Und obwohl es sich um die drahtige Ausgabe ohne Drehmomentwandler (als Anfahrkupplung dient ein Lamellenpaket) handelt, agiert der Automat relativ komfortabel. Ist ja irgendwie auch logisch - der SL ist in seinem Naturell mehr Tourer denn Racer, obwohl er unglaublich performant ist.
Zum Schluss einer Gegenüberstellung von Alt und Neu kommt unweigerlich die Frage: welchen nehmen? Kann aber nur rhetorisch gemeint sein, denn eigentlich eint beide nur der Modellname und vielleicht der Kühlergrill mit dem großen Zentralstern. Na ja, und die Möglichkeit des offenen Fahrens. Und die Tatsache, dass Passanten ziemlich sicher hinterhersehen. Ein richtig häufig auf der Straße anzutreffendes Modell ist auch der R232 nicht - dieses Jahr wurden nicht einmal 3000 Exemplare zugelassen in Deutschland. Eine Pagode ist mittlerweile ein veritables Sonntagsauto, das man nicht im Alltag verschleißt.
Preislich müssen Interessenten der Baureihe 113 heutzutage mindestens um die 85.000 Euro einplanen, und dafür bekommt man auch noch kein Topauto. Für den neuen SL werden wenigstens 127.146 Euro fällig, für diesen Kurs gibt es den unbeliebten Vierzylinder mit 381 PS. In den V8-Genuss kommt man ab 166.737 Euro (SL 55 4Matic mit 476 PS). Der starke SL 63 4Matic erfordert 194.654 Euro. Wer in den nächsten Wochen bestellt, kann vielleicht im Frühjahr schon offen fahren.
Leider bleiben beide SL für die meisten Menschen bloß ein Traum. Bürgerfreundliche Kurse sind das schließlich nicht. Aber man muss ja auch noch Träume haben dürfen.
Quelle: ntv.de