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Eine Frage des "Wir"-GefühlsWas eine Gesellschaft zusammenhält

02.08.2020, 17:37 Uhr
imageVon Stefanie Waldschmidt
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Die Autoren plädieren in ihrem Buch für mehr öffentliche Orte der Begegnung wie zum Beispiel verkehrsfreie Straßen, Cafés oder offene Gebetshäuser. (Foto: picture alliance/dpa)

Wie gespalten ist die deutsche Gesellschaft? Und wie lassen sich die Gräben überbrücken? In ihrem Buch "Die Vertrauensfrage - Für eine neue Politik des Zusammenhalts" suchen zwei Soziologen nach Antworten - und plädieren für ein neues "Wir"-Gefühl.

Spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 hat sich etwas verändert in Deutschland: Die politischen Gräben haben sich vertieft, Gleichgesinnte bleiben mehr unter sich. Empfindet sich die Gesellschaft überhaupt noch als ein "Wir"? Besteht sie aus Einzelgängern und Kleingruppen, die ihre Werte vor allem in Abgrenzung von anderen verstehen? Gibt es Möglichkeiten, das kleine "Wir" wieder in das große "Wir" der Gesellschaft zu übertragen? Genau diesen Fragen stellen sich die Soziologin Jutta Allmendinger und Jan Wetzel in ihrem kurzen Werk "Die Vertrauensfrage - Für eine neue Politik des Zusammenhalts".

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Die Vertrauensfrage: Für eine neue Politik des Zusammenhalts
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Für ihr Buch recherchierten die Autoren gründlich. Mithilfe einer umfassenden Studie stellen sie zunächst fest: "Das Wir ist vor allem an den sozialen Nahbereich gebunden." Wir vertrauen all denen, die gleich denken und die uns gut und lange kennen: unseren Familien, Freunden und Bekannten. Doch wie sieht es aus mit Fremden und Menschen, die uns ferner stehen? Herrscht überhaupt noch das allgemeine Vertrauen darin, dass wir als Gesamtgesellschaft ähnliche Werte und Ideale vertreten?

Die Sozialwissenschaftler kommen dabei zu einem erstaunlichen Ergebnis: Fast 80 Prozent der Deutschen liegt ein "Wir"-Gefühl am Herzen. Dagegen glauben nur 25 Prozent, dass ihre Mitmenschen auch an diesem "Wir" interessiert sind. Die Studie ergibt auch: Je höher der Bildungsgrad und der Wohlstand der Befragten, desto ausgeprägter ist das Vertrauen in die Mitmenschen.

Allmendinger und Wetzel schlussfolgern: Wer wirtschaftlich besser dasteht, hat mehr Möglichkeiten beispielsweise in Vereinen und Ehrenämtern mit Fremden in Kontakt zu kommen und Vertrauen zu ihnen aufzubauen. Unter ärmeren Befragten mit niedrigerem Bildungsstand herrscht hingegen viel öfter ein Abschottungsverhalten: "Im Klartext: Bildungsarme sehen sich deutlich stärker ausgegrenzt und grenzen sich ihrerseits stärker aus." Sie vertrauen nicht auf die Anteilnahme der anderen an ihrem Leben und ziehen sich in ihre vier Wände zurück.

Mehr als eine Verteilungsfrage

Doch die Vertrauensfrage ist nicht nur eine Verteilungsfrage. Auch in ländlichen Gebieten mit niedriger Arbeitslosigkeit und wenig Armut - beispielweise in Thüringen - vertrauen die kleinen "Wir" nicht mehr in das große ganze "Wir". Der oft überalterten Bevölkerung fehlen Kontaktmöglichkeiten, Freizeitangebote und eine gute Verkehrsanbindung. Es wird klar: Entfremdung ist nicht nur ein soziales Problem.

Doch die Autoren, die ihr Buch noch vor dem Ausbruch der Corona-Krise verfasst haben, belassen es nicht bei einer Problembeschreibung. Sie leiten von ihren Ergebnissen sehr konkrete Handlungsanweisungen ab - die nun in Zeiten der Pandemie allerdings sehr weit entfernt wirken: Sie plädieren für mehr Orte der Begegnung. Das könnten Cafés, offene Gebetshäuser, öffentliche barrierefreie Plätze und autofreie Straßen sein. Es geht ihnen auch um mehr Mobilität und öffentlichen Verkehr.

Gesellschaftliche Teilhabe in Vereinen oder bei öffentlichen Events sollten sich zudem nicht nur Einkommensstarke leisten können. Es dürfe nicht bei Nachbarschaften von Entwurzelten bleiben: Sozialwohnungen müssten, so der Appell der Autoren, künftig auch in Stadtteilen gebaut werden, in denen einkommensstärkere Menschen wohnen. Kurzum: Unser Zusammenlebens muss sich ändern: "Es gilt entschlossen einer Entwicklung entgegenzusteuern, die seit Jahrzehnten ungebremst im Gange ist. Sie betrifft die Organisation unseres Zusammenlebens, das sich immer mehr nach der Ähnlichkeit der Gruppenmitglieder ordnet."

Damit setzt sich das Buch differenziert mit den Hintergründen der Entfremdung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen im Land auseinander. Die Autoren überzeugen, weil sie es sich nicht leicht gemacht haben. Das oft beschworene "Man muss mit den Leuten reden" übersetzen sie in ein empirisches Nachfragen nach den Bereichen fehlender Vertrauensbeziehungen. "Die Vertrauensfrage" ist ein Appell, das eigene Sozialverhalten zu hinterfragen und sich für mehr Begegnungen zu öffnen. Es adressiert aber auch die Politiker, die diese Begegnungen endlich konsequent und strukturell ermöglichen sollten.

Quelle: ntv.de

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