
Jogger am Strand in Luanda. Yara Monteiro nimmt uns auch mit an den Strand und in die Clubs der angolanischen Hauptstadt.
(Foto: REUTERS)
Mehr als mich hat sie, meine Mutter, Rosa Chitula, Angola geliebt, ist für ihr Land in den Kampf gezogen. Ich heiße Vitória Queiroz da Fonseca. Ich bin eine Frau. Ich bin Schwarz. - Auszug aus "Die Schwerkraft der Tränen", übersetzt von Michael Kegler
Eine junge Frau ist auf der Suche nach ihrer Mutter und damit nach ihrer eigenen Identität und Heimat. Rosa schließt sich in den 1960er Jahren der Guerillabewegung gegen die portugiesische Kolonialherrschaft an und kehrt während vieler Jahre nur einmal in ihr Elternhaus zurück, um dort ihre neugeborene Tochter abzugeben. Kurze Zeit später, es sind die frühen 1980er Jahre, fliehen Vitórias Großeltern mit der zweijährigen Vitória ausgerechnet nach Portugal. Denn in dem gerade erst unabhängig gewordenen Angola herrscht Bürgerkrieg. Nochmal zwanzig Jahre später flieht dann Vitória vor einer Vernunftehe und sucht in Angola nach ihrer Mutter. Und nach einer Erklärung für die wenigen Erinnerungen, die sie noch von der alten Heimat hat.
Nicht mütterlich genug
Eine Frau, die Eltern und später ihre Tochter verlässt, um in den Freiheitskampf zu ziehen, ist das nicht auch heute noch für eine Romanfigur ungewöhnlich? "Ja, das stimmt", antwortet Yara Nakahanda Monteiro, als sie in der Berliner Buchhandlung InterKontinental ihren Debütroman "Die Schwerkraft der Tränen" vorstellt. "Ich selber fühle mich nicht hingezogen zur Mutterschaft, obwohl das immer mit Feminität verbunden wird. Auch meine Figur Vitória findet, dass ihre Mutter nicht mütterlich genug war. Vielleicht waren ihre politischen Ambitionen Rosa tatsächlich wichtiger. Aber vielleicht wollte sie Vitória einfach nur in einen sicheren Hafen bringen, wir wissen es nicht. In jedem Fall entspricht Rosa nicht dem klassischen Bild der Mutter, und das war mir beim Schreiben wichtig."
Ebenso wichtig war Monteiro, mit der Geschichte ihrer Romanfiguren und ihrer eigenen zu spielen. Wie Vitòria ist die 43-Jährige in Angola geboren, wuchs aber in Portugal auf. "Es ging mir darum, was wir verlieren, wenn wir migrieren. Um die Erinnerungen und die Sehnsucht in den Familien, die sich über Generationen halten. Denn wir kehren nicht zweimal an denselben Ort zurück, die Länder und wir selbst verändern und entwickeln sich."
Im Roman geht Vitorias' Großvater vor der Abreise nach Portugal in Anwesenheit eines Soba, eines "Ältesten", neunmal um einen Baum und sagt dabei auf: "Was in Angola zurückbleiben muss, soll hier bleiben. Wir schauen nie mehr zurück." Solche Rituale wurden von Kolonialherren gegenüber ihren Sklaven benutzt, erklärt Monteiro. Sie zwangen sie, um die Bäume herumzulaufen, damit sie ihre Identität verlieren – das "Ritual des Vergessens". "Du musst in der Lage sein zu vergessen, um vorangehen zu können. Meine Familie hätte davon profitiert, wenn das Ritual tatsächlich funktioniert hätte", meint die Autorin.
Eine Flucht prägt Generationen
Vor dem Hintergrund der Fluchterfahrungen ihrer eigenen Familie bewegen die aktuellen Bilder aus der Ukraine Monteiro sehr: "Krieg sieht überall auf der Welt gleich aus. Und die Fluchterfahrungen, die Suche nach einer neuen Heimat und Identität werden sich auf die nächsten Generationen auswirken."
Wütend macht sie, dass es immer wieder Flüchtlinge zweiter Klasse gibt - und zwar die People of Colour, wie sie selbst. "Das haben wir nicht nur bei den Flüchtlingsströmen über das Mittelmeer gesehen, sondern auch jetzt bei den ukrainischen Flüchtlingen an der polnischen Grenze." Dass bei ntv Nachrichten auf ukrainischer Sprache mit Moderatorin Karolina Ashiok von einer Person of Colour präsentiert werden, hat sie begeistert.
Partyhimmel Luanda
Auch wenn der Titel "Schwerkraft der Tränen" - eine Redewendung aus dem angolanischen Slang - anderes vermuten lässt, hat der Roman durchaus auch andere Seiten. So lässt Monteiro ihre Vitória auch durch die Clubszene in der angolanischen Hauptstadt Luanda ziehen. "Ich habe die besten Partys meines Lebens in Luanda gefeiert - und ich kenne mich da wirklich aus", lacht Monteiro und man glaubt es ihr sofort.
"Es gibt dort so einen MTV-Clip-Vibe – aber parallel dazu die Armut, Kinderarbeit und so weiter. Diese Dualität wollte ich darstellen." Außerdem spiele sich auch in den Warteschlangen vor den Clubs eine Menge Rassismus, Colorism ab: "Weiße oder hellhäutigere Männer mit Geld kommen viel schneller ein - deshalb habe ich eine Szene mit einem jungen Mann geschrieben, der von einem Club rappt, seinen Hut anschließend herumreicht und ihn wegzieht, als ein weißer Mann etwas reinwerfen will: Nicht alles ist käuflich."
Ein Roman mit Perspektivwechsel
Ich habe Angst. Ich höre, wie sich Mariquinhas bewegt. Sie wacht auf und nimmt einen Schluck Wasser. Ich tue so, als würde ich schlafen. Ich traue mich nicht, sie zu bitten, mir die Hand zu halten. Langsam bricht der Tag an. (...) Vitória steigt aus dem Bett. So vorsichtig, wie es nur geht, öffnet sie ihren Koffer. Sie holt Kleidung heraus, die sie anziehen möchte, und das Plastikmäppchen mit der Schere. - Auszug aus "Die Schwerkraft der Tränen"
Doch nicht nur die wie ein Rap geschriebene Szene vor dem Club ist ungewöhnlich in dem Roman, mitten drin bricht Monteiro auch aus der Ich-Erzählung aus. "Victória wurde in einer Stadt geboren und zieht in eine andere Stadt um. Sie trifft einen Kameraden ihrer Mutter und erfährt ihren echten Namen und schneidet ihr Haar ab. An diesem Punkt habe ich die Perspektive geändert, weil Schwarze Frauen nicht die Chance haben, ihre Geschichte zu erzählen, also musste jemand sie für sie erzählen."
Vielleicht auch wegen der ungewöhnlichen Erzählstruktur wurde Monteiro mit Toni Morrison und Paul Auster verglichen - ein Vergleich, der ihr schmeichelt, den sie dennoch lachend abwehrt: "Ich bin eine masochistische Leserin, ich mag es kompliziert, also liebe ich Paul Auster. Und "Beloved" von Toni Morrison war das erste Buch, das ich gelesen habe und das ausschließlich schwarze Romanfiguren hatte. Also ein riesiges Kompliment. Aber ich bin noch eine Junior-Autorin, mit all den Unsicherheiten, die dazu gehören."
Der Vergleich mit den berühmten Autoren leuchtet dennoch ein, Monteiro ist sprachgewaltig, entwirft schöne Bilder für das Innenleben ihrer Hauptfigur. An einigen Stellen könnten die Erzählfäden noch enger geknüpft werden, nicht nur beim Perspektivwechsel. Aber auch ein Paul Auster hat ein Schriftstellerleben gebraucht, um zu seiner Meisterschaft zu kommen.
Momentan beschäftigt sich Monteiro mit Lyrik, Visual Arts und digitalen Collagen, sie sei aber noch zu schüchtern, um letzteres vorzuzeigen. Auch ein weiteres Buch ist geplant: "Ich beschäftige mich mit Freundschaften und wie sie sich über die Jahre verändern. Was wird aus den Kindheitsfreunden, wenn wir erwachsen werden?" Bis dahin kann man die Lyrikerin Monteiro auch schon in ihrem Roman entdecken:
Der Weg, den ich gehe, ist der, den ich gehen muss. Ich habe den Hunger nach meiner Mutter nicht mehr ausgehalten. Ich darf sie nicht aufgeben. Aber auch diese Gewissheit nimmt mir nicht die Angst. Ich spüre sie bis in die Zehenspitzen. Meine Füße sind eingeschlafen. Sie haben Angst davor, loszugehen. Füße, die Angst haben, sich auf den Weg zu machen. - Auszug aus "Die Schwerkraft der Tränen"
Quelle: ntv.de