Armut. Und der Staat? Versagt"Bei diesen zwei Hass-Sätzen der Politik könnte ich zuschlagen"
Sabine Oelmann
1993 und 1995 gründen Sabine Werth und Bernd Siggelkow unabhängig voneinander zwei deutsche Institutionen: Die Ostberlinerin rettet seitdem mit der Tafel Lebensmittel, um sie an ärmere Haushalte zu verteilen. Der Hamburger Pastor kümmert sich in der Arche um vernachlässigte Kinder. Im "ntv Salon" teilen beide den Eindruck: Deutschland scheitert im Kampf gegen Armut. "Ein Drittel unserer Gäste sind Kinder und Jugendliche. Bundesweit. Manchmal in der dritten oder vierten Generation", sagt Werth im Live-Podcast. Auch Siggelkow stellt keine Verbesserung fest. Die Arche betreut ihm zufolge täglich etwa 11.000 Kinder. "Das ist ein Armutszeugnis", sagt der Pastor. "Der Erfolg der Arche ist der Misserfolg der Gesellschaft." Das fehlende politische Interesse erklären sich die Sozialpädagogin und der Sozialarbeiter mit dem fehlenden politischen Mehrwert: "Kinder haben keine Wählerstimmen."
ntv.de: Holen Sie uns ab, was genau macht die Tafel? Was macht die Arche?
Sabine Werth: Bei der Tafel sammeln wir Lebensmittel, die aus welchen Gründen auch immer nicht verkauft werden konnten. Wir sortieren sie und verteilen sie anschließend an 410 soziale Einrichtungen und 48 Ausgabestellen der Berliner Tafel, der Kirchen und des RBB. Dort verteilen wir sie an armutsbetroffene Bevölkerung, also Menschen mit Wohnung.
Und die Arche?
Bernd Siggelkow: Der Schlüssel zum Herzen eines Menschen ist nicht Programm, sondern Liebe und Beziehung. Das ist die Arche. Ein Zuhause für Kinder, die eigentlich schon eines haben. Wir versuchen, jedes Kind stark zu machen.
Wie viele Kinder erreichen Sie am Tag?
Bernd Siggelkow: Täglich etwa 11.000 Kinder. In den vergangenen 30 Jahren haben wir mit ungefähr 100.000 Kindern und Jugendlichen gearbeitet.
Sabine Werth: Wir haben in den sozialen Einrichtungen und allen Ausgabestellen etwa 175.000 Ausgaben im Monat. Es ist schwierig zu sagen, wie viele Menschen das sind. Manche kommen nur einmal im Monat, andere einmal in der Woche. Deshalb ist keine genaue Zählung möglich.
Was wird am meisten abgeholt? Gibt es Wünsche?
Sabine Werth: Wir geben aus, was wir gesammelt haben. Unsere Ehrenamtlichen sind aber bemüht, auf spezielle Bedürfnisse zu achten. In einer Ausgabestelle kommt etwa eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern vorbei. Zwei davon machen Leistungssport. Die bekommen immer Müsli und andere Dinge für eine gesunde Ernährung.
Bernd Siggelkow: Viele Menschen, die zur Tafel oder Arche kommen, benötigen viel mehr als Geld oder Lebensmittel.
Nämlich?
Bernd Siggelkow: Wir machen "Benachteiligung" häufig an den Finanzen fest. Ich kenne viele Kinder mit 50 Euro in der Tasche, die emotional verarmt sind. Die soziale Situation in unserem Land wird immer schwieriger. Wir haben im vergangenen Jahr eine Einrichtung in Bremerhaven eröffnet, für 50 Kinder. In der ersten Woche hatten wir 120 Tagesbesucher. Wir wissen nicht, wie wir das wuppen sollen.
Gibt es Überschneidungen bei Ihnen?
Sabine Werth: Sicherlich. Ein Drittel unserer Gäste sind Kinder und Jugendliche. Bundesweit. Manchmal in der dritten oder vierten Generation.
In der vierten Generation?
Sabine Werth: Ja. Viele Menschen kommen jahrelang zu den Ausgabestellen, weil sich an ihrer Situation nichts ändert. Die sind alleinerziehend und finden keinen Job. Im Zweifelsfall kommen anschließend die Kinder vorbei. Deshalb sind Perspektiven so wichtig. Wir müssen den Kids die Möglichkeit geben, an ihrem Leben etwas zu verändern. In unserem Programm "Kimba" erklären wir ihnen, wo Lebensmittel herkommen und wie man sie zubereitet. Denn ganz egal, wie viel Geld die Eltern haben: Viele Kinder glauben, dass Kühe lila und Enten gelb sind.
Bernd Siggelkow: Unsere Gesellschaft ist nicht mehr imstande, Konstanten zu leisten. Wenn bei uns ein neuer Mitarbeiter anfängt, fragen die Kinder: Wie lange bleibst du? Grundschulen sind oft nur Patchwork. Die Lehrer wechseln nach der Hälfte der Zeit. Den Kindern fehlen Vertrauenspersonen, die sie über Jahre begleiten. Wir betreuen sie teilweise vom vierten Lebensjahr bis zum Berufsabschluss. Und dann arbeiten sie in der Arche. Das ist der Ansatz: Wir müssen häufiger über Perspektiven sprechen, statt nur über Armut.
Sabine Werth: Dafür sind Geburtstage wichtig. Leider können wir unseren Gästen nicht mehr gratulieren, denn der Datenschutz besagt: Wir dürfen keine Daten notieren. Das ist bescheuert. Gerade das macht doch Herzlichkeit und Perspektive aus: Jemand kommt zur Tür rein und alle gratulieren.
Wie sieht das in der Arche aus? Alle Kinder möchten Geburtstag feiern …
Bernd Siggelkow: Ja, wollen sie. Zu Hause passiert das häufig nicht, weil die Eltern kein Geld haben. Wenn sie vom Bürgergeld leben, muss das Kind oft bis zum nächsten Monat auf seine Geschenke warten.
Und den Datenschutz?
Bernd Siggelkow: Den haben wir ausgehebelt. Als unser Datenschutzbeauftragter gesagt hat, wir dürfen mit den Kindern nicht mehr per Whatsapp kommunizieren, habe ich gesagt: Dann musst du garantieren, dass jedes Kind morgen noch lebt. Denn die Kinder haben chronisch kein Geld auf dem Handy, um irgendwo anzurufen. Die Nummer gegen Kummer bringt auch nichts, denn die kennt niemand. Die ist auch nicht 24 Stunden am Tag erreichbar. Die Probleme der Kinder richten sich aber nicht nach den Öffnungszeiten des Jugendamtes. Ich plädiere seit Jahren dafür, für Kinder einen 24-Stunden-Notruf wie 123 oder 567 einzurichten, aber das würde natürlich Geld kosten.
Sie werden nicht gehört?
Bernd Siggelkow: Als 2001 der Armuts- und Reichtumsbericht eingeführt wurde, dachte ich: Hurra, es ist geschafft! Jetzt wird endlich etwas gegen Kinderarmut getan! Inzwischen haben sich die Armutszahlen verdreifacht, obwohl die Geburten zurückgehen. Wir sind eines der reichsten Länder der Welt und haben kein Konzept zur Armutsbekämpfung.
Sabine Werth: Bei älteren Menschen ist es ähnlich, auch dort steigen die Zahlen. Und die Politik? Ist erstaunt über so viel Altersarmut. Wirklich? Es gibt ohne Ende Statistiken zur demografischen Entwicklung. Alle wissen, dass Menschen heutzutage älter werden als früher. Was ist daran überraschend?
Sie haben beide vor 30 Jahren mit Ihrer Arbeit begonnen. Sie sagen beide: Die Situation hat sich nicht gebessert, sondern verschlechtert. Weil die Politik sich nicht dafür interessiert?
Bernd Siggelkow: Ich habe vor 30 Jahren mit 20 Kindern in meinem Wohnzimmer begonnen. Seitdem habe ich zwölf Kinder beerdigt. Das möchte ich nie wieder tun. Das ist ein Armutszeugnis. Der Erfolg der Arche ist der Misserfolg der Gesellschaft. Dafür müssen der Staat und die Politik in Verantwortung genommen werden.
Sabine Werth: Aber was macht der Bundeskanzler als erste Amtshandlung? Er unterstellt quasi allen Menschen, die Bürgergeld beziehen, dass sie bescheißen und schwarzarbeiten. Dabei benötigen die Menschen Hilfe. Aber wenn ich mit der Politik spreche, höre ich ständig: Mein Haus ist nicht zuständig. Dafür ist die Legislatur zu kurz. Wenn ich diese beiden Hass-Sätze höre, könnte ich zuschlagen.
Bernd Siggelkow: Frau Werth hat recht, wir machen dieselben Erfahrungen. Die Politik kommt nur im Wahlkampf für Fotos vorbei. Kinderarmut ist eben ein schwieriges Thema: Kinder haben keine Wählerstimmen.
Sabine Werth: Bei uns dürfen alle Politikerinnen und Politiker außer der Farbe Blau vorbeikommen und sich über unsere Arbeit informieren. Aber sie müssen allein kommen, ohne Presse. Es gibt nur ein Selfie mit mir. Das sind unsere Grundsätze.
Deswegen gehen Sie jetzt selbst in die Politik, Herr Siggelkow?
Bernd Siggelkow: Ich bin im vergangenen Jahr der CDU beigetreten und kandidiere im kommenden Jahr bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin. Wahrscheinlich werden mir die Fraktionssitzungen auf den Sack gehen, wenn ich das so sagen darf. Aber Politik wird leider viel zu oft von oben herab gemacht. Moderne Politiker können Politik, haben aber keine Ahnung von der Basis. Die brauchen für alles einen Zettel. Selbst in vielen Hilfsorganisationen arbeiten keine Sozialpädagogen mehr, sondern frühere Politiker und politische Berater. Mit Kindern hat niemand gearbeitet. Das ist der Fehler. Wir brauchen Politik, die von den Bürgern und aus der Mitte der Gesellschaft kommt.
Was möchten Sie umsetzen, wenn Sie gewählt werden?
Bernd Siggelkow: Das hat nichts mit Kindern zu tun, aber vielen Menschen fehlt nicht in erster Linie Geld, sondern existenzsichernde Arbeitsplätze. Unsere Arche in Marzahn-Hellersdorf in Berlin hat die meisten Aufstocker Deutschlands. Diese Menschen gehen arbeiten und müssen trotzdem beim Jobcenter Geld beantragen oder sogar zur Tafel gehen. Deren Leben wird alimentiert, obwohl selbst die Jobcenter sagen: Es wäre unbürokratischer, wenn wir das Geld einfach den Arbeitgebern überweisen und die Arbeit subventionieren. Das gibt den Betroffenen Würde und Perspektive, den Kindern auch. Denn die haben plötzlich Eltern, die ganz normal arbeiten gehen. Was glauben Sie denn, warum so viele Fünftklässler sagen: Wenn ich erwachsen bin, werde ich Bürgergeldbezieher.
Aber damit wird keines der großen Probleme gelöst: die ungleiche Verteilung von Vermögen, fehlende oder schlechte Bildungsabschlüsse, hohen Mieten … Wie wollen Sie dort etwas ändern?
Bernd Siggelkow: Ein Problem ist das föderale Bildungssystem. Mit diesem Mist gehen wir vor die Hunde. Mit einem Berliner Abitur werde ich in Bayern ausgelacht. Es kann auch nicht sein, dass in manchen Schulen 50 Prozent der Erstklässler kein Wort Deutsch sprechen. Da muss man nicht irgendwelche Sprachkurse vorbereiten, sondern sofort sagen: Die Kinder lernen heute Deutsch. Inzwischen bieten wir sogar in der Arche Deutschkurse an - als Zweitsprache für die Eltern der Kinder. Das Jugendamt schickt so viele Leute vorbei, dass wir bereits 160 Anmeldungen haben. Staat und Politik versagen und überlassen den extremen Parteien das Feld.
Sabine Werth: Zu uns kommen regelmäßig Leute mit Formularen, auf denen die Ämter "Tafel" vorsorglich schon angekreuzt hatten: Die werden automatisch zu uns geschickt.
Bernd Siggelkow: Marzahn-Hellersdorf ist eine Hochburg einer sehr rechtsorientierten Partei. Warum? Die Leute sind frustriert.
Machen Sie ähnliche Erfahrungen, Frau Werth?
Sabine Werth: Das hängt immer davon ab, wie viele Lebensmittel wir sammeln und verteilen können. Wenn viel da ist, ist der Neid nicht so groß. Wenn wenig da ist, fragen die Gäste natürlich: Uns geht es schlecht genug und jetzt nehmen die uns auch noch alles weg? In einer Ausgabestelle musste wegen einer Schlägerei mal die Polizei gerufen werden, aber das war rumänisch geprägt.
Bernd Siggelkow: Im Ruhrgebiet sind unglaublich viele Schleusergruppen aktiv. Die holen Menschen aus osteuropäischen Ländern für Geld zu uns. Anschließend überweisen wir Kindergeld an Kinder, die gar nicht hier sind. Das schwächt unser System.
Wir sind überfordert?
Bernd Siggelkow: Wir müssen auf jeden Fall aufhören, in Brennpunkten immer mehr Brandherde zu schaffen. Wo wurden die Berliner Flüchtlingseinrichtungen gebaut? Nicht in Zehlendorf oder Dahlem, sondern dort, wo der Migrationsanteil bereits hoch war. Deshalb haben Lehrer auf einmal Klassen, in denen die Hälfte der Kinder kein Deutsch können. Die muss man verteilen, anstatt sie in einer Subkultur zusammenzupferchen, die ein bestimmtes Gedankengut fördert. Ich will nicht angeben, aber in unseren Einrichtungen funktioniert Integration. Deutsche, syrische, afghanische und türkische Kinder spielen zusammen, lernen sich kennen und erweitern ihren Horizont.
Und die Erwachsenen?
Bernd Siggelkow: Die müssen wir möglichst schnell in Arbeit bringen. Wir haben Menschen in unserem Land, die sind seit fünf oder sechs Jahren hier und dürfen nicht arbeiten, weil der Aufenthaltsstatus ungeklärt ist. Wollen die Däumchen drehen? Nein. Aber wenn man zwei, drei Jahre nichts tut, verliert man seinen Antrieb. Diese Bürokratie kosten den Sozialstaat Geld.
Sabine Werth: Bei den Ukrainern ist die Situation identisch: Die sind super ausgebildet und beziehen trotzdem Bürgergeld, weil sie nicht arbeiten dürfen.
Ukrainer dürfen doch arbeiten.
Sabine Werth: Nein. Nicht in allen Bereichen.
Bernd Siggelkow: Das ist wie mit den Spätaussiedlern, die in den 90er Jahren aus Russland zu uns gekommen sind: Das waren viele gut ausgebildete Menschen, aber wir haben deren Berufe nicht anerkannt. Manche Lehrer arbeiten bis heute als Putzkraft. Die ukrainischen Lehrerinnen und Lehrer dürfen hier auch nicht arbeiten, obwohl uns überall Lehrer fehlen …
Sabine: Das ist die deutsche Bürokratie. Zuerst muss man Sprachkenntnisse nachweisen, aber das fällt auf dem Niveau selbst den besten ukrainischen Lehrern schwer.
Erhalten Sie eigentlich staatliche Gelder für Tafel und Arche?
Sabine Werth: Nein, wir nehmen keine staatliche Hilfe an. Wenn wir das täten, wären wir abhängig und hätten nicht mehr die Freiheit, allen ans Bein zu pinkeln. Es gibt aber genug Gründe zum Pinkeln.
Bernd Siggelkow: Die Arche bekommt auch keinen Cent. Wir brauchen dieses Jahr 24 Millionen Euro. Die müssen sich nur durch Spenden decken.
Wer sind Ihre Spender? Dürfen Sie das verraten?
Sabine Werth: Meine allerliebste Spende war eine über 10 Euro mit der Betreffzeile: Für mein gutes Zeugnis. Ein Kind hat freiwillig auf Geld verzichtet, um anderen zu helfen. Das zeigt mir, dass unsere Kinder- und Jugendarbeit richtig gut ist, wenn wir wollen. Zeitgleich haben wir 25.000 Euro von der Melinda- und Bill-Gates-Stiftung erhalten und ich habe mich gefragt: Warum habt ihr nicht noch zwei Nullen hinten drangehängt? Das hätten die nicht bemerkt.
Und bei Ihnen?
Bernd Siggelkow: Günther Jauch unterstützt die Arche in Potsdam seit vielen Jahren mit einer erheblichen Summe. Er übernimmt jedes Jahr mindestens 50 Prozent der Kosten. Die schönste Spende haben wir allerdings vor drei Jahren kurz vor Weihnachten von einer älteren Dame aus Berlin-Spandau bekommen. Sie ist zwei Stunden mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu uns nach Hellersdorf gefahren, um zwei Konservendosen abzugeben.
Und was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Bernd Siggelkow: Ich habe in den vergangenen 30 Jahren unglaublich viele Kinder kennengelernt und ich glaube: Die Situation wird schlimmer. Wir haben mehr Gewalt unter Jugendlichen. Deutschland ist eines der Kinder-unfreundlichsten Länder in Europa. Eine egoistische Ellenbogengesellschaft, in der wir stur steif mit einer - Verzeihung - negativen Fresse an Kindern vorbeigehen und uns wundern, dass sie dieses Verhalten adaptieren. Wenn wir alle anfangen, Kindern anders zu begegnen, guten Morgen sagen, Fröhlichkeit mitbringen, ist die Arche vielleicht bald überflüssig. Ich möchte sie schließen und den Kampf gegen Kinderarmut gewinnen. Das ist seit 30 Jahren mein Wunsch und er wird es bis zum Lebensende bleiben.
Mit Sabine Werth und Bernd Siggelkow sprachen Sabine Oelmann und Tilman Aretz. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das vollständige Gespräch können Sie sich hier anschauen und hier als Podcast anhören.