Corona-Talk mit Buyx und Drosten "Wir dürfen den Ursprung des Coronavirus nicht totschweigen"
23.03.2025, 10:35 Uhr Artikel anhören
Am 16. März 2020 geht Deutschland in den ersten Corona-Lockdown. Es folgen Diskussionen über Schulschließungen, Masken und die Corona-Impfung. Wie erfolgreich waren diese Maßnahmen? Hat die Impfung nun vor einer Infektion mit dem Coronavirus geschützt oder nicht? Wäre Deutschland mit dem schwedischen Modell besser gefahren? Zum fünften Jahrestag der Pandemie stehen die frühere Vorsitzende des Deutschen Ethikrats Alena Buyx und Virologe Christian Drosten im "ntv Salon" Rede und Antwort - natürlich auch zur Labortheorie: Ist überhaupt wichtig, ob Sars-CoV-2 aus einem Labor kommt oder nicht?
ntv.de: Herr Drosten, Sie gehörten zum engeren Beratergremium von Angela Merkel. Das haben Sie vor kurzem erst als persönliche Diskussionsrunde der Kanzlerin bezeichnet.
Christian Drosten: Das Büro der Kanzlerin hatte es Gedankenaustausch genannt, als wir dazu angeschrieben wurden. Das war auch bewusst keine hochoffizielle Politikberatung, dafür gab es das Robert Koch-Institut oder die Leopoldina. Die Kanzlerin wollte die Themen einfach für sich selbst reflektieren, um auf einer fachlichen Ebene Nachfragen stellen zu können und Schwingungen aufzunehmen.
Alena Buyx: Wir haben sozusagen Denkprozesse durchlaufen, neue Informationen intensiv und kontrovers debattiert. Und wir haben uns gestritten.

Alena Buyx ist Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien und Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin. Von 2020 bis 2024 war sie Vorsitzende des Deutschen Ethikrats. Christian Drosten leitet das Institut für Virologie an der Charité.
(Foto: Mats Kühl)
Worüber?
Alena Buyx: Zwischen Christian Drosten und mir gab es keinen Dissens. Ich habe nichts zu Virologie gesagt und er nichts zur Ethik. Aber ich habe mich einmal mit einem Kollegen über die Bedeutung von Rechtsformen gestritten, denn damals haben Wissenschaftler auf die Pandemie geguckt und gesagt: Es muss sofort etwas passieren. Aber mit welchen Maßnahmen?
Haben diese Debatten zu konkreten Entscheidungen geführt?
Alena Buyx: Der Begriff "Reflexionsraum" trifft es wirklich besser.
Christian Drosten: Diese Gruppe bestand auch erst seit Mai 2020. Die schweren Entscheidungen hatte die Politik bereits im März gefällt.
Es gibt Kritik, weil keine Protokolle dieser Gespräche existieren. Können Sie das nachvollziehen?
Christian Drosten: Ich bin mir gar nicht sicher, ob das überhaupt überlegt wurde. Aus Sicht von Frau Merkel war es damals so: Institutionen wie das Robert Koch-Institut haben die Amtsaufgabe der Politikberatung. Die würde man nicht stören wollen mit den Aussagen von Professoren, die um eine Meinung gebeten wurden. Ob das im Nachhinein richtig war, weiß ich nicht.
Alena Buyx: Ich möchte unterstreichen: Es wurden keine Empfehlungen generiert. Das ist wichtig.
Im "ntv Salon" geht es gemütlich zu: Im Live-Podcast stehen Persönlichkeiten wie die Silberlocken der Linken, FDP-Chef Christian Lindner oder Virologe Christian Drosten ausführlich Rede und Antwort - und das Publikum ist bei Bier, Wein und Sekt im Hauptstadtstudio von RTL und ntv hautnah dabei.
Das kam in der Öffentlichkeit eher nicht so an. Wäre es sinnvoll, dass man nachlesen kann, wer was gesagt hat?
Christian Drosten: Was in der Öffentlichkeit ankommt oder nicht ankommt, ist manchmal schwer zu kontrollieren. Ich habe zu der Zeit schon den Podcast beim NDR bespielt und dort immer gesagt: Ich sage in der Politikberatung dasselbe wie hier. Es gibt keine Unterschiede. Das kann man nachhören. Dazu stehe ich.
Haben Sie Frau Merkel oder später Olaf Scholz denn mal richtig genervt?
Alena Buyx: Im Januar 2021 gab es diese wirklich schlimme Zeit, als alle zu Hause saßen. Damals habe ich in einem Interview gesagt: Es ist ethisch unausgewogen, wenn die Kitas zu und die Großraumbüros ganz normal geöffnet sind.
Der Ethikrat wird eher dafür kritisiert, gegenüber der Regierung zu bejahend gewesen zu sein.
Alena Buyx: Wenn man sich unsere Papiere anschaut, stimmt es einfach nicht, dass wir zu affirmativ waren. Bei der Frage nach einer Impfpflicht haben wir beispielsweise auf 24 Seiten Argumente dafür und dagegen veröffentlicht. Medial ist diese Abwägung dann auf eine Aussage oder sogar nur die Überschrift verdichtet worden: Der Ethikrat ist für die Impfpflicht.
Lief das in der wissenschaftlichen Kommunikation ähnlich ab?
Christian Drosten: Es gibt dieses Einschwingen auf eine einzige Aussage einer Studie, die vielleicht sogar aus dem Zusammenhang gerissen wird. Diese Aussage wird anschließend von Medien amplifiziert und von Politikern, die sie nützlich finden, argumentativ vervielfältigt. Dann steht eine Aussage in der Öffentlichkeit, die es so gar nicht gibt. Die Politik hat übrigens auch Entscheidungen aus einer Sicherheitsüberlegung heraus getroffen: Wenn man nicht klar sagen kann, ob das Risiko hier oder da größer ist, regelt man es gleich und sperrt deshalb beispielsweise Kinderspielplätze mit Band ab. Intuitiv wusste natürlich jeder, dass das Quatsch ist, weil das Virus in der Luft verdünnt wird.
Als Merkel- oder Scholz-Flüsterer würden Sie sich also nicht sehen? Werden Sie sauer, wenn Sie den Begriff hören?
Christian Drosten: Nein. Es stimmt auch einfach nicht.
Waren diese Maßnahmen denn zielführend? Haben Versammlungsverbote tatsächlich Infektionen verhindert?
Christian Drosten: Ja, Versammlungsverbote haben Infektionen eindeutig sehr effizient verhindert. Die Frage ist natürlich: zu welchem Preis? Welchen anderen Schaden richtet man an? Dieses Verhältnis ist bei den einzelnen Maßnahmen unterschiedlich.
Wie beurteilen Sie rückblickend Schulschließungen? Konsens ist heute: Das war eher ein Fehler.
Christian Drosten: Das ist komplex. Die Daten sagen, dass Schulschließungen einen deutlichen Effekt auf die Infektionskontrolle hatten. Die Frage ist wieder: Riskiert man dafür, dass Kinder Schäden in ihrer Bildungs- oder Sozialbiografie erleiden? Im Nachhinein kann man sagen, bei den Schulen war der Preis zu hoch. Dann hätte man den Preis aber anderswo zahlen müssen, man musste eine Gesamtsumme von Kontakten reduzieren.
Wie kontrovers hat der Ethikrat das diskutiert? Wäre eine Homeoffice-Pflicht besser gewesen?
Alena Buyx: Für Infektionsschutz muss man unterschiedliche Maßnahmen, die unterschiedlich wirken, hintereinander schalten. Deswegen zahlt man immer diesen besagten Preis: Macht man das eine nicht, muss man was anderes machen. Daher das besagte Interview: Damals gab es die Debatte, ob man Schulen oder Büros schließen möchte. Die politische Entscheidung war: In Deutschland belasten wir den Schulbereich stärker als den Arbeitsbereich. Das war aus ethischer Perspektive kontrovers. Das haben wir als Ethikrat bedauert.
Die Schulen waren 74 Tage komplett geschlossen, das sind 15 Schulwochen. Ketzerisch gefragt: Was ist daran eigentlich so schlimm? Die Lerndefizite oder die Tatsache, dass die 14-Jährigen nicht auf dem Schulhof rumknutschen konnten?
Alena Buyx: Meine Familie ist privilegiert, wir haben Platz und auch einen Garten. Meine Kinder fanden deswegen gerade die Teilschließungen und den Wechselunterricht super. Die sagen, die kleinen Klassen waren die beste Schulzeit, die sie je hatten. Lebt man dagegen in einer 50-Quadratmeter-Wohnung ohne Garten, vielleicht noch alleinerziehend, hat womöglich psychische Erkrankungen in der Familie, war diese Zeit natürlich grauenvoll. Diese psychische Belastung der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben wir uns viel zu spät angeschaut. Aber es ist ein Unterschied, ob ich kurzzeitig nicht rumknutschen kann oder ich meinen einzigen Abiball verpasse.
Inwiefern?
Alena Buyx: Die Jungen haben den Beginn der Pandemie - verkürzt gesagt - relativ gut weggesteckt. Kurzzeitig ist die Jugend sehr resilient. Aber die Einschränkungen endeten einfach nicht und mit der Zeit ist eine steigende Verletzlichkeit entstanden, weil der zweite Termin für den Abiball auch abgesagt wurde, man nicht feiern gehen konnte und der Berufsanfang ätzend war. Und dann kam direkt der Ukraine-Krieg, und in den Kitas und den Sporthallen wurden auf einmal Heizungen runtergedreht. Gott sei Dank ist diese Belastung jetzt wieder gesunken, aber gut ist die Lage weiterhin nicht.
Glauben Sie, bei einer nächsten Pandemie wären Schulschließungen erneut eine Option?
Christian Drosten: Man würde ganz sicher viel vorsichtiger damit umgehen. Die Frage ist, ob das Virus dasselbe und in den Altersgruppen gleich gewichtet ist. Das muss man genau analysieren.
Die Impfungen auch? Selbst Ihre Virologie-Kollegin Sandra Ciesek hat gedacht, die Impfung würde die Pandemie beenden. Dem war nicht so.
Christian Drosten: Das war zu der Zeit ja auch richtig. Wir haben im ersten Jahr gesehen, dass das Virus schön konstant und erstaunlich stumm in seiner Herstellung von Mutationen bleibt. In Europa oder den Industrieländern gab es deshalb das Konzept, die Bevölkerung weitgehend durchzuimpfen und das Virus dann laufen zu lassen. Das hätte man geschafft. Die Daten haben damals gezeigt, dass es von einer ein paar Monate alten Impfung gut abgehalten wird. Die Leute hätten nur unbemerkt sehr milde Infektionen bekommen. Wir haben aber übersehen, dass der größere Teil der Menschheit keine Impfung bekommt und das Virus dort einfach durch die Bevölkerung rast. Einmal, zweimal, dreimal. Auch diese Leute haben - wie wir durch die Impfung - Antikörper entwickelt, aber bei der dritten oder vierten Infektion hat das Virus eine Immun-Escape-Mutation entwickelt. Die konnte trotz Antikörpern eine Infektion setzen und ist dann auch zu uns gekommen. Unsere Impfquote von 70 Prozent hat diesen Varianten nicht mehr viel ausgemacht.
Wir waren dem Virus immer einen Schritt hinterher?
Christian Drosten: Ja, das Virus war die größte Störgröße bei diesen Planungen. Die Alphavariante hatte kein Immun-Escape, Delta einen kleinen und bei Omikron war Land unter. Aber nur bei Immunität und Ausbreitung, der schwere Verlauf wurde durch die Impfung gut verhindert.
Alena Buyx: Ich lese selbst in seriösen Medien: Die Impfung hat nie die Transmission unterdrückt. Das ist falsch. Natürlich hat sie das gemacht - nur nie perfekt und mit abnehmender Wirkung. Das ist kommunikativ leider durcheinandergegangen.
Aber wenn man an den Fall Joshua Kimmich denkt und was dem alles vorgeworfen wurde … hätten wir als Gesellschaft nicht das Gemeinsame betonen müssen, anstatt auf Ausgrenzung zu setzen und mit dem Finger auf die Ungeimpften zu zeigen?
Alena Buyx: Natürlich. Der Ethikrat hat zum Umgang mit Nichtgeimpften auch eine differenzierte Empfehlung formuliert, die aber selten zitiert wird: Wir müssen sie abholen, die Sorgen ernst nehmen, ins Gespräch gehen und niedrigschwellige Angebote machen. Bei der harten Impfverweigerung, die politisch instrumentalisiert wurde, muss ich aber sagen: Dafür gab es wahrscheinlich keinen guten Weg.
Hätte man nicht sagen können: Du kannst dich mit einer Impfung selbst schützen, aber wenn du darauf verzichtest, ist das auch ok?
Alena Buyx: Das wäre im weiteren Verlauf der Pandemie super gewesen, aber ich erinnere mich an Oktober, November und Dezember 2021, als die Krankenhäuser ihre Patienten mit Hubschraubern in andere Bundesländer geflogen haben. Bei uns in München waren im Umkreis von 100 Kilometern alle Krankenhäuser für Schlaganfälle und andere Notfälle abgemeldet, weil alles gerammelt voll war. Und wenn man von der Leiter fällt oder einen Herzinfarkt hat und im Krankenhaus nicht behandelt werden kann, weil die Intensivstation voll ist mit Menschen, die nicht geimpft sind, ist das ein Gerechtigkeitsproblem. Dann kann man eben nicht sagen: Geimpft oder nicht, das ist wurscht.
Schweden hat verglichen mit Deutschland stark auf Eigenverantwortung gesetzt. Dort war auch die Akzeptanz für die Impfung deutlich höher. Wäre es rückblickend besser gewesen, diesem schwedischen Weg zu folgen?
Christian Drosten: Das kommt aufs Land an. Die Populationsverteilung, der Bildungsgrad, die wirtschaftliche Stärke oder Schwäche einer Bevölkerung - alles bestimmt, wie gut man eine Pandemie kontrollieren kann.
Der schwedische Weg hätte in Deutschland also nicht funktioniert?
Christian Drosten: Ich glaube nicht. Zum Beispiel sind Schweden und Deutschland flächenmäßig gleich groß, in Schweden lebt aber nur ein Zehntel der Bevölkerung. Die arbeitet zudem verstärkt im Dienstleistungssektor und hatte schon in der frühen Phase der Pandemie eine Homeofficequote von 40 Prozent. Wir haben dagegen viele Ballungsräume, dauernden Verkehr zwischen diesen Räumen, viel produzierende Industrie, wo Homeoffice nichts bringt. Wenn man diesen Vergleich anstellen will, muss man aber auch sagen: Wo war Schweden anders? In der ersten Welle. In der zweiten Welle waren die schwedischen Maßnahmen wie bei uns. Und wenn man die erste Welle bilanziert, hat Schweden eine zehnfach höhere Todeszahl als andere skandinavische Länder und eine fünfmal höhere als Deutschland.
Hätte sich etwas geändert, wenn man wüsste, wo das Virus herkommt?
Christian Drosten: Das ist für die Bekämpfung der Pandemie bedeutungslos, aber enorm wichtig für die Zukunft. Wir wissen, die Natur ist voller gefährlicher Erreger. Die kann man erforschen, einordnen und für gefährliche Viren bereits einen Impfstoff entwickeln. Das ist die gängige Konzeption der internationalen Pandemievorbereitungsforschung. Die Frage ist: Wie weit geht man? Schaut man sich die Erreger oberflächlich an, kann sich niemand infizieren, denn dabei entsteht im Labor kein lebendiges Virus. Geht man bis zum Äußersten und macht dieses Virus im Labor lebendig, besteht ein Infektionsrisiko. Braucht man das wirklich?
Genau das soll in Wuhan passiert sein: Hochrisikoforschung mit Laborunfall.
Christian Drosten: Diesen Vorwurf erhebe ich nicht, weil ich keine Möglichkeit hatte, die Daten wissenschaftlich auszuwerten. Aber wir müssen darauf eine Antwort finden. Wir können das nicht totschweigen. Oder hoffen, dass das Interesse verloren geht. Denn eine Sache ist klar: Vor zehn Jahren hatten wir das Gefühl, solche Arbeiten laufen in einer Handvoll Speziallabors in Europa und den USA ab. Dort arbeiten seriöse Leute, die ihre wissenschaftliche Reputation nicht für gefährliche Experimente opfern würden. Inzwischen wissen wir, dass diese Arbeiten auch in anderen Ländern stattfinden, nicht nur in China. Diesen Ländern können wir nicht sagen, ihr dürft das nicht. Das ist ein neues Problem, das wir international regulieren müssen.
Das klingt beunruhigend. Hat die Pandemie denn irgendetwas Positives bewirkt?
Christian Drosten: Man muss nicht mehr in 20 Wochen des Jahres an irgendwelchen Flughäfen Zeit verbringen, nur um ein Forschungsprojekt zu besprechen. Das macht man jetzt einfach digital. Es sind unglaublich viele Dienstreisen weggefallen.
Alena Buyx: Das wollte ich auch sagen. Der Ethikrat hat vor der Pandemie noch nie eine digitale Konferenz aufgesetzt. Und trotz aller Probleme möchte ich darauf hinweisen, dass die Bewältigung der Pandemie eine enorme gesellschaftliche Leistung war. Viele Menschen haben sich gegenseitig unterstützt und die Krise gemeinsam durchgestanden.
Aber die Polarisierung der Gesellschaft ist leider geblieben. Wir haben uns nicht versöhnt, sondern den Streit auf andere Themen übertragen.
Alena Buyx: Ja, diese Polarisierung hat sich übertragen auf andere Themen. Krieg, Energiewende oder was auch immer. Uns ist das Heilen nicht gelungen. Das geht. Wir sind aber verstärkt digital unterwegs und treffen dort auf machtvolle Akteure, die Polarisierung nutzen, um Demokratien zu schaden. Das geht weit über die Pandemie hinaus.
Mit Alena Buyx und Christian Drosten sprachen Hedviga Nyarsik und Tilman Aretz. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das vollständige Gespräch können Sie sich hier als Podcast anhören oder hier anschauen.
Quelle: ntv.de