Leben nach dem Tod "Die Russen haben unser Leben zweimal ruiniert"
25.02.2024, 14:36 Uhr Artikel anhören
Familie Wlasenko ein Jahr vor dem Einmarsch der Russen bei der Einschulungsfeier des jüngsten Sohnes Igor in Irpin.
(Foto: privat)
Die Russen haben das Leben von Tatjana Wlasenko und ihrer Familie zweimal ruiniert. Das erste Mal, als sie ihr Zuhause in Simferopol auf der Krim verlassen mussten, weil sie keine Russen werden wollten. Das zweite Mal, als die Invasion in der Ukraine begann. Auf der Flucht vor den russischen Truppen wurde ihr Auto von allen Seiten mit Kugeln durchlöchert. Jetzt lebt die Familie aus dem Dorf Worsel in der Region Kiew in Berlin - "einen Tag nach dem anderen". Im Interview mit ntv.de beschreibt Tatjana, wie sich ihr Leben in den letzten zwei Jahren verändert hat.
ntv.de: Von Ihrer Flucht vor den Russen haben Sie noch immer Schussverletzungen an den Beinen. Gibt es Hoffnung, dass Sie sich vollständig erholen?
Tetjana Wlasenko: Sicher ist es nicht, aber der Arzt, bei dem ich das letzte Mal war, sagte, dass alles möglich ist. Wahrscheinlich werde ich irgendwann wieder mehr oder weniger normal laufen können. Es braucht nur Zeit, und niemand weiß, wie lange.
Wie geht es mit Ihrer Rehabilitation voran?
Ich wurde schon ein paarmal operiert, jetzt hängt alles von der Physiotherapie ab. Ich habe mir ein Fitnessstudio in der Nähe meiner Wohnung gesucht und trainiere dort.
Und wie würden Sie Ihren psychischen Zustand beschreiben?
Was uns widerfahren ist, hat unsere Einstellung, unsere Kommunikation und unser Denken geprägt. Vor allem meine Tochter und ich befinden uns gerade in einer schwierigen Situation. Das Haus meiner Träume steht weiterhin in der Ukraine - es wurde durch eine Bombe halb zerstört. Ich vermisse die Orte, an denen ich gelebt habe, und meinen Sohn.
Ihren Sohn?
Ja, mein ältester Sohn ist in der Ukraine geblieben. Er ist noch nicht im Krieg, aber wir wissen, dass er jeden Tag zum Militärdienst einberufen werden kann. Er hat versucht, freiwillig zu gehen, aber sie wollten ihn nicht nehmen.
Wie fühlen Sie sich, wenn Sie wissen, dass Ihre ganze Familie in Sicherheit ist, aber Ihr ältester Sohn nicht?
Noch vor dem Krieg habe ich geglaubt, dass ich etwas in meinem Leben kontrollieren kann. Nach allem, was ich durchgemacht habe, ist mir klar geworden, dass das nicht so ist. Als wir unter Beschuss wegfuhren, saß meine Tochter neben mir im Auto, sie wurde fast von russischen Soldaten getötet, und ich konnte nichts tun. Dieser Moment hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Vielleicht ist es nicht richtig, aber ich reagiere jetzt absolut gelassen auf die Tatsache, dass mein Sohn in Gefahr ist. Ja, ich verstehe es, aber ich kann nichts dagegen tun. Außerdem ist jetzt die Zeit, in der man nie weiß, wo es Sicherheit gibt. Niemand weiß, ob vielleicht schon morgen Krieg in Europa beginnen wird. Oder es gibt irgendwo ein Erdbeben, eine Überschwemmung oder etwas anderes. Ja, wir leben für den Augenblick und ich weiß nicht, wer zuerst sterben wird - mein Sohn, meine Mutter oder vielleicht ich.
Wie kommen Sie damit zurecht?
In den ersten sechs Monaten nach der Bombardierung konnte ich nicht schlafen. Die Bilder von dem, was wir erlebt hatten, gingen mir immer wieder durch den Kopf. Das war hart. Jetzt nehme ich Antidepressiva, die mir mein Hausarzt verschrieben hat. Wenn ich mich fit fühle, gehe ich im Park spazieren, aber nicht zu weit, denn ich werde schnell müde.
Fühlen Sie sich jetzt besser?
Ja. Mein heutiger Zustand ist das Ergebnis meiner Arbeit an mir selbst. Aber ich habe immer noch eine Art moralisches Loch. Ich weiß nicht, was ich will und wovon ich träume. Ich habe das Gefühl, dass ich gerade erst geboren wurde und alles noch einmal machen muss - studieren, arbeiten. Das ist nicht so einfach, wie es scheint.
Was ist mit Ihrem Mann und Ihrem jüngsten Sohn?
Mein Mann besucht Deutschkurse. Mein Sohn geht in die Schule und in einen Sportverein. Sie gehen auch gemeinsam Schlittschuhlaufen oder Bowling spielen.
Wie sieht Ihr Tag aus?
Ich besuche Deutschkurse, aber online, denn es fällt mir schwer, mich zu bewegen und lange stillzusitzen. Ich mache meine Hausaufgaben, erledige den Haushalt.
Sie sagten, dass Sie nicht wissen, was Sie wollen oder wovon Sie träumen, aber Sie und Ihr Mann haben doch einige Erfolge beim Erlernen der Sprache erzielt und Ihre Kinder gehen auf eine deutsche Schule. Gibt Ihnen das Hoffnung auf ein neues, glückliches Leben in Deutschland?
Alle Pläne, die ich hatte, wurden in der ersten Woche der groß angelegten Invasion zerstört. Meine Familie und ich leben jetzt von einem Tag auf den anderen. Ich weiß nicht einmal, wie es beruflich bei mir weitergeht. Vor dem Krieg hatte ich einen Job, bei dem ich mich viel bewegen musste. Jetzt bin ich aufgrund der Verletzungen in meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt.
Deshalb lerne ich jetzt Deutsch, schon auf B2-Niveau. Es ist schwierig, im Alter von 43 Jahren fünfzig bis sechzig Wörter pro Tag zu lernen. Außerdem habe ich niemanden, mit dem ich kommunizieren kann. Wenn ich die Prüfung für dieses Niveau nicht bestehe, weiß nicht, was ich tun soll, welche Art von Arbeit ich suchen soll. Ich weiß, dass ich eine Arbeit finden muss, um in Deutschland zu bleiben. Wir können nicht unser ganzes Leben lang auf Sozialleistungen sitzen.
Werden Sie nicht in die Ukraine zurückkehren?
Nein.
Fühlen Sie sich jetzt in Deutschland zu Hause?
Deutschland hat uns eine Behandlung für die ganze Familie angeboten, für die wir sehr dankbar sind. Ich habe innerlich beschlossen, dass ich hier bleiben werde, und so versuche ich, nicht zurückzublicken.
Und waren Sie seit Ihrer Flucht nach Deutschland wieder in der Ukraine?
Nein. Der Grund ist, dass ich keine 30 Stunden im Bus sitzen kann. Wenn es eine direkte Zugverbindung Berlin-Ukraine gäbe und ich mich hinlegen könnte, würde ich diese Möglichkeit in Betracht ziehen.
Und der Rest der Familie?
Meine Tochter hat darum gebeten, in die Ukraine zu fahren, sie vermisst ihre Freunde sehr. Aber ich werde sie nicht gehen lassen. Nach allem, was ihr zugestoßen ist, habe ich große Angst um sie.
Wie ist ihr Zustand jetzt?
Sie hatte sechs Kugeln in ihrer Lunge. Jetzt geht es ihr besser, alles ist verheilt, denn sie ist jung und optimistisch. Alles, was sie an diesen Tag erinnert, sind die großen Narben auf ihrem Rücken und die Tatsache, dass sie ständig Viruserkrankungen und Erkältungen hat, weil ihr Immunsystem schlecht ist. Sie hat auch ein aufgeregtes Nervensystem, schläft schlecht, macht sich Sorgen um alle Menschen in der Ukraine, liest ständig die Nachrichten. Manchmal hat sie Nervenzusammenbrüche. Wir haben für sie leider keinen Psychotherapeuten gefunden, denn der Psychologe kann uns nicht mehr helfen.
Sie haben Ihre Gesundheit und Ihre Heimat verloren. Was denken Sie über die Russen?
Die Russen haben unser Leben zweimal ruiniert. Bis 2014 lebten wir auf der Krim, und wir haben dort wegen der Russen alles verloren. Wir hatten dort eine Wohnung, ein Geschäft und alles. Nach dem Umzug nach Kiew habe ich zwei Jahre meines Lebens damit verbracht, in allen sozialen Medien mit Russen zu streiten, ihnen zu beweisen, dass sie im Unrecht sind, und zu verlangen, dass sie bestraft werden. Jetzt, nach dem, was uns allen widerfahren ist, reagiere ich auf diese Menschen gar nicht mehr. Ich weiß, dass ich sie und ihre Einstellung zur Ukraine nicht ändern kann. Diese Kreaturen können mir mein Haus, mein Auto, meine Gesundheit nehmen, aber ich werde ihnen nicht meine Seele geben.
Haben Sie es Ihrer Familie zu verdanken, dass Sie überlebt haben?
Ja, absolut. Trotz allem, was wir durchgemacht haben, würde ich diese Zeit nicht als die schlimmste Zeit in meinem Leben bezeichnen. Denn wir waren die ganze Zeit über zusammen. Und eine solche familiäre Unterstützung ist lebenswichtig, sie ist das Wichtigste im Leben eines Menschen.
Wie unterstützen Sie sich jetzt gegenseitig?
Wir machen einen Spaziergang an der frischen Luft oder trinken deutsches Bier und essen Bratwürste. Leider haben wir weder die finanziellen noch die körperlichen Möglichkeiten, irgendwo außerhalb von Berlin hinzugehen, also versuchen wir, uns so oft wie möglich auf diese Weise zu unterhalten. Wir treffen uns, um Brettspiele zu spielen, zu reden, Witze zu machen, Feste zu erfinden und uns gegenseitig kleine Geschenke zu machen.
Mit Tatjana Wlasenko sprach Maryna Bratchyk
Quelle: ntv.de