Zwischen Heimat und neuer Heimat Warum das Ankommen für junge Ukrainer anstrengend ist


Eine ukrainische Schülerin bei einem Deutschsprachkurs.
(Foto: picture alliance/dpa)
Für Jugendliche aus der Ukraine ist das Leben in Deutschland eine Herausforderung: Wie macht man Pläne in einem Land, dessen Sprache man kaum beherrscht? Doch der Spagat kann auch eine Chance sein.
Seit mehr als einem Jahr versuchen auch viele junge Ukrainer, sich in Deutschland ein neues Leben aufzubauen. Da die Plätze in den Willkommensklassen an den regulären Schulen häufig nicht ausreichen, haben einige Kommunen weitere Angebote eingerichtet. Im Berliner Bezirk Mitte etwa besuchen Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine Deutschkurse, die das hiesige Sprachförderzentrum, das Schulamt und die Volkshochschule gemeinsam ins Leben gerufen haben - laut Bezirksbürgermeisterin Stefanie Remlinger ein einzigartiges Projekt.
Remlinger sieht das Ziel vor allem darin, dass geflüchtete Jugendliche im Oberschulalter, die auf einen Platz in einer Willkommensklasse warten, möglichst schnell die deutsche Sprache lernen können. "So haben sie eine Chance, in ihrem neuen Alltag und später auch in dem neuen Schulleben mit anderen Gleichaltrigen anzukommen", sagt die Grünen-Politikerin.
Da die Kurse in Jugendfreizeiteinrichtungen in Mitte stattfinden, haben die Kinder die Möglichkeit, nach dem Unterricht an den Angeboten der Jugendfreizeiteinrichtungen teilzunehmen und andere Jugendliche kennen zu lernen. Das allerdings führt zu einer Doppelbelastung - viele der ukrainischen Schülerinnen und Schüler sind am Ende des Tages ziemlich müde.
Viele Eltern sind total überfordert
Die Lehrerin Olwija Schebanowa unterrichtet die Jugendlichen seit Mai 2022. Sie selbst kommt aus Charkiw und ist mit ihrem Mann und drei Kindern nach Deutschland geflohen. "Seit der Krieg begonnen hat, konnten die Ukrainer keine langfristigen Pläne mehr machen", sagt Schebanowa. Wenn sie ihre Schülerinnen und Schüler fragt, was sie in den kommenden Monaten machen möchten, dann gucken die meisten ratlos und antworten, dass ihre Eltern mit Plänen total überfordert seien.
Viele der jungen Ukrainer wissen nicht, ob sie eine Ausbildung machen oder studieren sollen. Sie wissen nicht einmal, ob sie in Deutschland bleiben oder nach Hause gehen werden. Deswegen verstehen viele von ihnen kaum, wozu sie Deutsch lernen sollen.
"Vor einem Jahr konnte ich noch kein Wort sagen"
Auch Arina, Jana und Artur sind nach dem russischen Überfall auf die Ukraine nach Deutschland gekommen. Die Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 16 Jahren besuchen jeden Tag einen Deutschkurs und am Nachmittag noch die ukrainische Schule ihrer Heimat - entweder online, oder sie bekommen Hausaufgaben, die sie dann ihren Lehrern zurückschicken. Sie alle hatten zuhause zwar Deutsch als zweite Fremdsprache, aber haben nie geplant, nach Deutschland zu fahren und hier zu leben.
Jetzt steht bald die sogenannte B1-Prüfung an, A2 haben sie bereits geschafft. Die Kürzel stehen für unterschiedliche Niveaus der sprachlichen Kompetenz, B1 beispielsweise für eine fortgeschrittene Sprachverwendung. Artur sagt, dass es ihm jetzt Spaß macht, Deutsch zu lernen, weil er die Lehrerin "cool" findet, aber der deutsche Wortschatz falle ihm noch schwer. Beim Deutschsprechen fühlt sich Jana unsicher, die Grammatik kann sie aber gut. Arina hat Probleme mit dem Schreiben. Trotzdem sind die Jugendlichen vor der Prüfung zuversichtlich.
Die Kinder sind motiviert, wissen aber nicht, was ihre Pläne für die Zukunft sind. Die 14-jährige Arina lernt derzeit selbstständig am Lehrplan für die 8. Klasse an einer Fernschule in Kiew. Vor dem 24. Februar 2022 wusste das Mädchen bereits, an welcher ukrainischen Universität sie sich bewerben würde. Jetzt ist unklar, wann sie in die Ukraine zurückkehrt. Aber sie möchte in ihrem Heimatland eine Familie gründen. Der 15-jährige Artur und die 16-jährige Jana wollen einfach die deutsche Sprache beherrschen, dann studieren oder eine Ausbildung machen und einen guten Job finden.
Die Jugendlichen freuen sich über ihre Fortschritte. "Vor einem Jahr konnte ich noch kein Wort sagen. Jetzt kann ich problemlos mit irgendwelchen Passanten über irgendein Thema sprechen. Das macht mir Spaß", sagt Artur.
Deutsch als Mittel, das Gehirn fit zu halten
Schebanowa sagt, die Lehrkräfte würden alles tun, um die Kinder zu motivieren. Sie erklärt, dass sowohl Deutsch als auch Englisch sehr nützlich und hilfreich sind. "Je mehr die Kinder die deutsche Sprache beherrschen, desto besser können sie sich in Zukunft in Deutschland oder in der Ukraine verwirklichen", glaubt Schebanowa. Sie sieht den Spagat als Chance.
Unterm Strich überwiegt bei ihr deshalb der Optimismus. Die ukrainischen Kinder seien sehr fleißig und verstünden, dass man das Gehirn fit halten sollte - und dass die deutsche Sprache ein perfektes Mittel dafür ist. "Ich kann behaupten, dass fast 70 Prozent der Gruppe motiviert sind, Deutsch zu lernen. Einige Kinder aus meiner Gruppe haben entschieden, in Deutschland eine Ausbildung zu machen oder zu studieren. Meine Aufgabe als Lehrerin ist, die Vielfalt der deutschen Sprache zu zeigen und daran Interesse zu wecken."
Quelle: ntv.de