Hoffnung und Entsetzen in Gaza "Dieser Punkt des Abkommens funktioniert aktuell nicht"
18.10.2025, 07:26 Uhr Artikel anhören
Viele der Zurückgekehrten hatten gehofft, dass ihr Haus weitgehend verschont geblieben ist und wurden enttäuscht, wie Johnen erzählt.
(Foto: REUTERS)
Die Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas ist seit einer Woche in Kraft, Zehntausende Palästinenserinnen und Palästinenser sind in ihre Dörfer und Städte zurückgekehrt. Es ist eine Rückkehr zwischen Hoffnung auf Frieden und Entsetzen über die einstige Heimat, die nun einer Trümmerlandschaft gleicht, wie Christof Johnen im Gespräch mit ntv.de deutlich macht. Der Leiter der internationalen Zusammenarbeit beim Deutschen Roten Kreuz berichtet von einer weiterhin prekären Versorgungslage vor Ort. An den bereits viel diskutierten Wiederaufbau sei noch nicht zu denken - derzeit hapere es vor allem an der Umsetzung eines essenziellen Punktes des Abkommens. Mit Blick auf die Zukunft erklärt er zudem, warum eine Verwaltung ohne direkte Beteiligung der palästinensischen Bevölkerung "zum Scheitern verurteilt ist" - und warum Deutschland dabei eine wichtige Rolle spielen könnte.
ntv.de: In der Waffenruhe kehrten mehr als 30.000 Palästinenserinnen und Palästinenser in den Norden des Gazastreifens zurück. Laut UN sind dort rund 70 Prozent aller Gebäude zerstört. Was schildern Ihre Kollegen über die Rückkehr der Menschen in ihre Heimatdörfer und -städte?
Christof Johnen: Viele der Menschen, die jetzt zurückkehren, sind in den vergangenen zwei Jahren gleich mehrfach vertrieben worden. Jetzt haben sie sich mit dem wenigen, was sie noch haben, auf den Weg in ihre ursprüngliche Heimat gemacht - manche haben sich ein Auto geteilt, einige mit Fahrrädern und viele sind tatsächlich zu Fuß gegangen. Ob es wie berichtet 30.000 sind oder in Wirklichkeit viel mehr Menschen, lässt sich gerade nicht mit Sicherheit sagen. Sicher ist allerdings, dass diese Menschen zurückkamen und eine unvorstellbare Verwüstung und Zerstörung vorfanden. Natürlich herrschte bei vielen die Hoffnung, dass es gerade ihr Haus war, das halbwegs verschont wurde. Das traf in den meisten Fällen aber nicht zu. Das heißt, dass sich zu der Freude und der Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden das blanke Entsetzen über die Trümmerlandschaft ihrer Heimat mischt.
Keine Infrastruktur, wenig Lebensmittel und Wasser und kaum ein Haus, das noch richtig bewohnbar ist. Wie leben die Menschen aktuell in dieser Trümmerlandschaft?
Von unserer Schwestergesellschaft, dem Palästinensischen Roten Halbmond, hören wir, dass die meisten Menschen versuchen, so nah wie möglich bei dem zu bleiben, was von ihrem Haus noch übrig ist. Es haben sich also keine Camps oder ähnliches gebildet und ich glaube auch nicht, dass das noch passieren wird. Vielmehr werden die Menschen so schnell wie möglich versuchen, ihre ursprünglichen Häuser notdürftig wiederherzurichten und dort zu bleiben. Aber die Lage ist natürlich dramatisch und in wenigen Wochen steht der Winter bevor. Zudem bestehen Gefahren durch nicht explodierte Sprengkörper. Das Ausmaß dieser Gefahr ist noch nicht abzuschätzen.
Israel hat sich in dem Abkommen auch zur "sofortigen" und "vollständigen" Einfuhr von Hilfsgütern und humanitärer Hilfe verpflichtet. Wie steht es aktuell um die Versorgung im Gazastreifen?
Immer noch sehr, sehr schlecht. Vor diesem Hintergrund muss man auch deutlich sagen: Es wird bereits viel über Wiederaufbau gesprochen, aber aktuell haben wir noch ganz andere Sorgen. Im Moment geht es um absolute Soforthilfe und Überlebenshilfe. Dass die Versorgung mit Lebensmitteln, medizinischer Hilfe und Gütern zur Wiederherstellung der Infrastruktur auch jetzt noch prekär ist, hat vor allem zwei Gründe. Eine Mangelsituation, die über zwei Jahre gewachsen ist, lässt sich selbst unter idealen Bedingungen nicht innerhalb einer halben Woche beheben. Mit idealen Bedingungen meine ich, dass alle Hilfsgüter, problemlos in den Gazastreifen gelangen können.
Und der zweite Grund?
Dazu kommt, dass auch seit der Waffenruhe nicht ausreichend und regelmäßig Hilfsgüter in den Gazastreifen kommen. Dieser Punkt des Abkommens funktioniert aktuell nicht. Am vergangenen Sonntag sind über zwei Grenzübergänge - Kerem Shalom im äußersten Südosten und Kissufim etwas nördlicher - mehrere Dutzend Lastwagen nach Gaza gekommen. Allerdings sind die letzten Tage keine Lkw hineingelassen worden. Die israelische Seite begründet dies inzwischen damit, dass gegen die Vereinbarung zur Rückführung von verstorbenen Geiseln verstoßen wurde. Wir haben also ein paar positive Ansätze gesehen - aber derzeit ist die Versorgung der Zivilbevölkerung wegen verschiedener Hindernisse nicht annähernd ausreichend möglich.
Um welche Hindernisse geht es neben den Grenzschließungen noch?
Bei vielen Hilfsgütern sind die Einfuhrprozeduren sehr aufwändig. Insgesamt führt das dazu, dass beispielsweise wir vom Roten Kreuz noch umfängliche Mengen an Hilfsgütern auf dem Sinai in Ägypten gelagert haben, es aber einfach nicht möglich ist, diese regelmäßig und ausreichend zu den Menschen zu bringen. Da geht es anderen Organisationen, die große Mengen Hilfsgüter an den Grenzen gelagert haben, nicht anders.
Welche Hilfsgüter sind wegen der Einfuhrprozeduren besonders schwer in den Gazastreifen zu bekommen?
Dabei geht es weniger um die einfache Plastikplane oder den Sack Mehl, sondern um komplexere Gerätschaften zur Wasseraufbereitung, Fahrzeuge und medizinisches Gerät. Zum Beispiel auch Sauerstoffkonzentratoren, die schwer kranke oder operierte Menschen mit Sauerstoff versorgen. Diese sind absolut essenziell für unsere Arbeit vor Ort. Sie wurden als "Dual-Use-Güter" eingestuft. Das sind Güter, die sowohl zivil als auch durch bestimmte Anpassungen militärisch genutzt werden können. Seit zwei Jahren bekommen wir die Konzentratoren deshalb nur sehr schwer in den Gazastreifen. Hinzu kommt technisches Gerät, etwa um die Wasserversorgung wiederherzustellen oder die völlig zerstörte Kanalisation. Für all diese Güter brauchen wir dringend vereinfachte und klare Einfuhrmechanismen.
Zuletzt war es schwierig, die wenigen ankommenden Hilfsgüter im Gazastreifen gerecht zu verteilen. Die öffentliche Ordnung war zusammengebrochen, Lkw wurden überfallen. Wie verläuft die Arbeit Ihrer Kollegen aktuell?
Wir haben im Moment nicht das Problem, dass wir aus Sicherheitsgründen nicht arbeiten können. Das ist natürlich alles sehr volatil und kann schon morgen wieder anders aussehen. Auch wir sehen die Bilder von Schießereien, offensichtlich unter rivalisierenden palästinensischen Gruppen. Derzeit sehen wir Menschen, die auf Lkws zurennen und Säcke wegreißen. Allerdings sind das keine gewalttätigen Aktionen und das ist auch kein Missbrauch von Hilfe. Vielmehr passiert so etwas, wenn es Menschen seit langer Zeit am Lebensnotwendigsten fehlt und diese versuchen, ihr Überleben zu sichern. Lösen werden wir diese Lage erst, wenn über Tage und Wochen ausreichend Hilfe in den Gazastreifen kommt. Der Druck wird sich erst legen, wenn ein Minimum an Versorgung sichergestellt ist.
Zum Deal gehört auch, dass sich die israelische Armee hinter bestimmte Linien zurückzieht. Inwieweit ist das schon geschehen?
Soweit wir hören, haben sich die israelischen Truppen hinter die vereinbarte sogenannte gelbe Linie zurückgezogen.
Um Soforthilfe und Wiederaufbau zu koordinieren, braucht es auch die Verwaltung im Gazastreifen. Die lag allerdings in den Händen der Hamas. Wie kann die Unterstützung der Palästinenser gelingen, ohne dass die Hamas wieder an Einfluss gewinnt?
Ich kann hier nur für unsere Bewegung sprechen, bei der die Neutralität und lokale Verankerung eine große Rolle spielt. Unsere Hilfe wird über den Palästinensischen Roten Halbmond direkt verteilt, sodass wir sie, soweit wir Zugang haben, direkt an notleidende Menschen übergeben können. Das war die letzten Jahre so und wird auch so bleiben. Trotzdem setzen wir uns natürlich mit der Thematik auseinander und schauen sehr genau, wer welche Hilfe auf welchen Wegen bekommt.
Welche Rolle spielte das Rote Kreuz bei der Freilassung der israelischen Geiseln?
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz bietet grundsätzlich seine Dienste als neutraler Akteur zwischen den Konfliktparteien an. Unsere Kolleginnen und Kollegen sind nicht in die Verhandlungen eingebunden, sondern unterstützen bei der Umsetzung nach einer Einigung - also bei der Freilassung von Geiseln und Gefangenen, entsprechend des einzigartigen humanitären Mandats, das die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung hat.
Israel bezichtigte die Hamas zuletzt, die Leichen einiger Geiseln zurückzuhalten, was erneut zu einem Konflikt führt. Welche Möglichkeiten hat das Rote Kreuz, bei diesem Thema Einfluss auf die Parteien zu nehmen?
Zunächst einmal hat das Rote Kreuz keinen Einfluss darauf, worauf sich die Konfliktparteien einigen. Dazu gehört etwa, welche Geiseln freigelassen werden oder welche Gefangenen aus israelischen Gefängnissen freikommen. Es kann durchaus sein, dass es angesichts der Zerstörung in Gaza mitunter länger dauert, die verstorbenen Menschen zu finden. Ob dies in der Realität der Fall ist, können wir nicht bewerten.
Noch ist nicht sicher, wer den Gazastreifen künftig verwalten wird. Der 20-Punkte-Plan von US-Präsident Donald Trump sieht dabei jedoch vor allem internationale Experten im Fokus - unter der Leitung von ihm selbst und mit der Beteiligung des früheren britischen Premierministers Tony Blair. Wie kommen diese Pläne bei der Bevölkerung an?
Unserer Wahrnehmung nach gibt es keine einheitliche Meinung dazu, die Positionen der Menschen sind sehr individuell. Grundsätzlich können wir jedoch nur appellieren, die Zivilbevölkerung ab diesem Moment, also von der Soforthilfe an über den Wiederaufbau, mitzunehmen. Um die breite Akzeptanz der Bevölkerung für wie auch immer geartete Pläne zu erhalten, müssen die Aktionen mit ihnen und nicht über ihre Köpfe hinweg passieren.
Wie kann das konkret gelingen?
Es müssen Organisationen eng eingebunden sein, die in der palästinensischen Bevölkerung verwurzelt sind. Das ist unter anderem der Palästinensische Rote Halbmond. Das sind freiwillige Helferinnen und Helfer, die ein hohes Vertrauen in der Nachbarschaft genießen und die Lage vor Ort sehr genau einschätzen können. Sie kennen die Bedarfe und lokalen Strukturen. Zudem gibt die enge Einbindung der Kollegen auch uns Sicherheit, dass unsere Hilfe ankommt. Vor allem aber bekommt die Bevölkerung eine direkte Teilhabe. Denn nur so wird es funktionieren. Alles andere ist zum Scheitern verurteilt.
Was genau meinen Sie mit Scheitern?
Ich glaube, wir müssen den Blick vor diesem Hintergrund etwas weiten: Wiederaufbau bedeutet nicht nur, dass Schutt weggeräumt, Häuser errichtet und Wasserwerke gebaut werden. Es gibt auch noch die soziale Dimension. Zwei Millionen Menschen lebten zwei Jahre lang innerhalb eines intensiven bewaffneten Konflikts. Wenn man eine echte Perspektive schaffen will, eine Entwicklung hin zu einer friedlichen Koexistenz, dann muss man diese traumatisierten Menschen mitnehmen. Wir sprechen darüber gerade auch viel mit der Bundesregierung, denn ich glaube, Deutschland kann gerade bei diesem Punkt eine große Rolle spielen.
Inwiefern?
Deutschland hatte gerade im Nahen Osten über lange Jahre einen exzellenten Ruf. Es wurde immer als ein Land gesehen, das sicherlich auch eigene Interessen hat, aber das vor allem für Regeln und Recht steht. Zudem als ein Land, das in Notsituationen nicht nach der Herkunft der Menschen oder dem Ursprung des Konflikts gefragt, sondern geholfen hat. Dieses Bild von Deutschland hat zwar gelitten, aber ich glaube, es besteht eine gute Möglichkeit, sich für die direkte Beteiligung der Menschen einzusetzen. Werte und sicherheitspolitische Interessen stehen nicht in einem Widerspruch, sie ergänzen sich.
Mit Christoph Johnen sprach Sarah Platz
Quelle: ntv.de