Panorama

Mehr Hospitalisierte, mehr ToteKommen die Briten über den Corona-Winter?

02.11.2021, 19:28 Uhr
imageVon Klaus Wedekind
London-Tube-masks
Obwohl es nicht mehr vorgeschrieben ist, tragen viele Briten im öffentlichen Nahverkehr freiwillig Masken. (Foto: REUTERS)

In Großbritannien sinkt zwar die Sieben-Tage-Inzidenz. Aber es kommen mehr Covid-19-Patienten ins Krankenhaus und die Zahl der Menschen, die an der Krankheit sterben, steigt. Mediziner schlagen Alarm. Doch die Regierung ist noch nicht bereit, "Plan B" umzusetzen.

Seit England und größtenteils auch Schottland, Wales und Nordirland die Corona-Maßnahmen weitgehend beendet haben, verfolgt die Welt gespannt die Entwicklung im Vereinigten Königreich. Reicht die Impfquote aus, um das Gesundheitssystem vor einem erneuten Kollaps zu bewahren oder muss die Regierung doch noch "Plan B" aus der Schublade holen?

Seit rund einer Woche sinkt die Sieben-Tage-Inzidenz in Großbritannien, doch das muss keine nachhaltige Entwicklung sein. Seit England am 19. Juli seinen "Freedom Day" feierte, gab es einige Aufs und Abs, langfristig stieg die Zahl der Neuinfektionen aber kontinuierlich an. Aktuell liegt die britische Sieben-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner bei fast 425, rund 41.000 Infektionen registriert das Königreich durchschnittlich pro Tag.

Das sind sehr hohe Inzidenzen, aber bei Weitem nicht die höchsten in Europa. Im Baltikum liegen sie über 700, in Estland sogar schon über 900. Auch in der Slowakei oder auf dem Balkan übersteigen sie deutlich die 500.

Entscheidender als die hohe Inzidenz selbst sind ihre Auswirkungen. Großbritannien hat die Einschränkungen angesichts einer damals vergleichsweise hohen Impfquote fallen lassen. 68,3 Prozent der erwachsenen Bevölkerung waren zu dem Zeitpunkt durchgeimpft, 87,9 Prozent hatten wenigstens die erste Dosis erhalten. Die Hoffnung war, dass dies trotz der ansteckenderen Delta-Variante ausreicht, um die schweren Erkrankungen auf einem kontrollierbaren und die Zahl der Toten auf einem erträglichen Niveau zu halten.

1000 Klinik-Neuaufnahmen täglich

Ob das gelungen ist, kommt auf den Standpunkt an. Im Vergleich zur enorm gestiegenen Inzidenz haben sich die Hospitalisierungen und Todesfälle durchaus moderat entwickelt. Am 19. Juli wurden im Sieben-Tage-Schnitt 843 Covid-19-Infizierte in Krankenhäuser eingewiesen und rund 4600 Corona-Patienten mussten versorgt werden.

Aktuell sind es etwa 1000 Neuaufnahmen und rund 9000 Patienten. Damit ist Großbritannien noch weit von den Höchstständen von bis zu 4200 Einweisungen und mehr als 38.000 Corona-Fällen in stationärer Behandlung im vergangenen Januar entfernt. Außerdem stagniert der Anstieg seit Mitte Oktober.

Die Anzahl der schwer erkrankten beatmeten Patienten ging nach dem "Freedom Day" von rund 600 zunächst weiter deutlich nach oben und im September registrierte Großbritannien mehr als 1000 Fälle. Nach einem Rückgang im Oktober auf Werte nahe 700 steigt die Zahl zwar wieder an, hat mit etwa 960 beatmeten Covid-19-Patienten aber noch nicht wieder das September-Niveau erreicht. Im Januar war sie viermal so hoch.

Patienten sterben vor Notaufnahme

Trotzdem scheint das britische Gesundheitssystem bereits nahe am Limit zu sein oder hat es bereits erreicht. Vor rund einer Woche schreckte die Nachricht das Land auf, wonach zwei Patienten in Worcester und Cambridgeshire in Krankenwagen gestorben seien, weil sich die Ambulanzen vor den Notaufnahmen stauten.

Laut BBC handelt es sich bei den Verzögerungen um keine Einzelfälle. Eigentlich sollten Patienten 15 Minuten nach ihrer Ankunft versorgt werden. Doch allein vor dem betroffenem Krankenhaus in Worcester habe es im September mehr als 600 Fälle gegeben, in denen sie länger als eine Stunde warten mussten.

Kurz zuvor hatte "The Telegraph" nach Gesundheitsminister Sajid Javid in einer Pressekonferenz gewarnt, im Winter könnten die Fallzahlen noch auf 100.000 pro Tag klettern. Jeder, der ein Angebot zur Auffrischimpfung habe, solle sie sich jetzt abholen, "nicht nur um Leben zu retten, sondern auch um Ihre Freiheiten zu bewahren".

Boostern oder "Plan B" wird nötig

In Großbritannien sind dem nationalen Gesundheitsdienst NHS zufolge alle über 50-Jährigen berechtigt, eine Boosterimpfung sechs Monate nach der zweiten Dosis zu erhalten. Das Gleiche gilt für im Gesundheitsdienst oder in der Pflege Tätige, Jüngere mit Vorerkrankungen und Menschen, die sich um besonders vulnerable Personen kümmern oder mit ihnen zusammenleben.

Für den Fall, dass die Pandemielage in Großbritannien außer Kontrolle gerät, hat die Regierung einen "Plan B" mit möglichen einschränkenden Maßnahmen. Zu ihnen gehören eine Maskenpflicht in öffentlichen Innenräumen, die Vorlage eines Impfzertifikats für den Zutritt zu größeren Veranstaltungen oder die Aufforderung, im Homeoffice zu arbeiten.

Auch härtere Maßnahmen möglich

Zum jetzigen Zeitpunkt wolle man "Plan B" noch nicht umsetzen, sagte Javid. Man dürfe jetzt aber nicht "vermasseln", was man bisher erreicht habe. Neben dem Aufruf, Booster-Angebote wahrzunehmen, riet der Gesundheitsminister den Briten außerdem, sich nach Möglichkeit im Freien zu treffen und in überfüllten Bereichen Masken zu tragen.

Javid sagte, jeder müsse dazu beitragen, um Weihnachten mit den Lieben feiern zu können. "The Guardian" schreibt, in "offiziellen Kreisen" werde bereits auch über einen "Plan C" mit noch härteren Maßnahmen zu den Festtagen diskutiert. Im Raum stünden Kontaktbeschränkungen wie ein Verbot, sich mit Personen aus anderen Haushalten zu treffen.

94 Prozent zur Auffrischung bereit

Nach anfänglichem Zögern erweisen sich die Briten auch bei den Auffrischungen als sehr impfbegeistert, inzwischen haben laut Regierung seit dem 1. Oktober rund 8,1 Millionen Menschen ihre dritte Dosis abgeholt. Die britische Statistikbehörde hat ermittelt, dass 94 Prozent der über 50-Jährigen bereit sind, sich ein drittes Mal impfen zu lassen. Bei den über 70-Jährigen seien es sogar 98 Prozent.

Insgesamt sind in Großbritannien schon 86,9 Prozent der über 12-Jährigen mindestens einmal, 79,5 Prozent zweimal geimpft. 14,1 Prozent haben eine Auffrischung erhalten. Zum Vergleich: In Deutschland haben bisher nur 75,1 Prozent der über 12-Jährigen wenigstens eine Dosis erhalten, lediglich 78,1 Prozent sind doppelt geimpft. 2,1 Millionen Deutsche haben bisher eine Auffrischung erhalten.

Booster können sehr großen Unterschied machen

Die Boosterimpfungen sind angesichts der hohen Inzidenzen im Königreich dringend nötig. Der wissenschaftlichen Beratungsbehörde SAGE zufolge sinkt beim Impfstoff von Astrazeneca der Schutz vor einer symptomatischen Erkrankungen von 65 Prozent bis zu drei Monate nach der zweiten Dosis nach sechs Monaten auf 45 Prozent. Beim Biontech-Mittel geht er von 90 auf 65 Prozent zurück.

Der wichtigere Schutz vor Krankenhausaufenthalten bleibt höher: Er sinkt bei Astrazeneca von 95 auf 75 Prozent, bei Biontech von 99 auf 90 Prozent. Ein kleiner Rückgang könne hier aber einen großen Unterschied bei der Anzahl der Krankenhauseinweisungen machen, teilt das britische Gesundheitsministerium mit. Eine Änderung von 95 auf 90 Prozent führe beispielsweise zu einer Verdoppelung der Klinik-Einweisungen bei den Geimpften.

Fast die Hälfte der Toten geimpfte über 80-Jährige

Auch die Corona-Todesfälle können durch Impfungen deutlich gesenkt werden. Der Statistikbehörde nach sterben in England Ungeimpfte 32 Mal häufiger an Covid-19 als Geimpfte. Dabei nimmt das Risiko, schwer zu erkranken, mit zunehmenden Alter zu. Bereits vor Verbreitung der Delta-Variante ergab eine britische Studie, dass es bei einem doppelt geimpften 80-Jährigen so hoch wie bei einem ungeimpften 50-Jährigen ist.

Das erklärt auch, warum laut dem jüngsten Impfstoff-Überwachungsbericht des britischen Gesundheitsministeriums von insgesamt 2772 Todesfällen innerhalb von 28 Tagen nach einem positiven Test 1209 bei über 80-Jährigen mit vollständigem Impfschutz zu finden sind.

Impfquoten im AuslandDie Quote der doppelt Geimpften in dieser Altersgruppe liegt über 95 Prozent, daher gibt es nur sehr wenige Todesfälle (189) bei ungeimpften über 80-Jährigen. Aussagekräftiger ist die Sterberate, die in dieser Altersgruppe bei Geimpften mit 49,5 Todesfällen pro 100.000 Einwohner wesentlich niedriger als die der Ungeimpften mit 156 ist.

Effektive Impfkampagne

Während in Deutschland über die Wiedereröffnung erst kürzlich geschlossener Impfzentrum diskutiert wird, um die Boosterimpfungen zu beschleunigen, macht es Großbritannien unkompliziert. Alle, die für eine Auffrischung infrage kommen, werden angeschrieben, wenn es für sie so weit ist. Es gibt Impfungen in Tausenden Impfzentren, in Apotheken und bei Hausärzten, aber auch an Orten wie Moscheen, Gemeindezentren und Fußballstadien. Dazu läuft eine große Infokampagne mit Beiträgen im Fernsehen und Radio sowie auf Werbetafeln.

Neben den Auffrischungen haben in Großbritannien Impfungen der 12- bis 16-Jährigen oberste Priorität. Denn laut Statistikbehörde treibt vor allem diese Altersklasse die Infektionen nach oben. Bei ihnen fallen 9,1 Prozent der Corona-Tests positiv aus. Bei den jüngeren Kindern sind es 4,1 Prozent, sie können allerdings noch nicht geimpft werden. In allen anderen Altersgruppen bewegt sich die Rate um ein Prozent und ist in den vergangenen Wochen nicht oder kaum angestiegen.

Es wird eng, könnte aber klappen

Ob Großbritannien ohne "Plan B" oder gar neuen Kontaktverboten durch den Winter kommt, ist noch offen. Es wird eng, aber angesichts der hohen Impfbereitschaft scheint es zumindest möglich zu sein, trotz hoher Inzidenzen die schweren Erkrankungen auf einem erträglichen Niveau zu halten.

Falls es zusätzlich zu den Impfungen auch schon genügend durch Infektion immunisierte Menschen gibt, könnte die Welle im Königreich auch bald ihren Höhepunkt erreichen. Jim Naismith, Direktor des Rosalind Franklin Institutes in Oxford, sagte "The Guardian", er gehe davon aus, dass die Prävalenz in England ihren Höhepunkt erreicht habe oder nahe daran sei. Und "wenn England seinen Höhepunkt erreicht hat, werden auch woanders die Zahlen fallen. Ich hoffe es auf jeden Fall."

Quelle: ntv.de

GroßbritannienCorona-ImpfungCorona-LockerungenCorona-MaßnahmenCorona-KriseSars-Cov-2Covid-19