Experte zu Drohnenvorfall "Der Adressat der belarussischen Erklärung ist Donald Trump"
11.09.2025, 19:49 Uhr Artikel anhören
Mit dem Drohnenvorfall in Polen "demonstrieren die Russen Stärke, wissen aber, dass die Risiken überschaubar sind", sagt Alexander Friedman.
(Foto: AFP)
Nach dem Vorfall mit russischen Drohnen in Polen überrascht Belarus mit einer scheinbar absurden Behauptung: Ausgerechnet das engste Bündnisland Moskaus will einige der russischen Drohnen abgeschossen haben, um Polen zu schützen. Hinter dieser Aussage steckt ein klares Kalkül, erklärt Osteuropa-Experte Alexander Friedman: Die Botschaft richtet sich an einen ganz bestimmten Adressaten im Weißen Haus. Im ntv.de-Interview spricht der Historiker außerdem darüber, welches Ziel der Kreml mit der Aktion verfolgt - und welche Lehren Moskau daraus zieht.
ntv.de: Mehr als ein Dutzend russische Drohnen drangen gestern Morgen in den polnischen Luftraum ein. War das Absicht?
Alexander Friedman: Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Absicht war - im Vorfeld geplant und bewusst kurz vor Beginn der großen Manöver "Zapad 2025". Der Angriff sollte eine neue Dynamik erzeugen und Russland die Möglichkeit geben, zu beobachten, wie Polen, die Nato und der Westen reagieren. Luftabwehrsysteme testen, mögliche Reaktionen studieren - das passt zur Logik der russischen Führung. Viele Experten hatten erwartet, dass Russland die Gelegenheit nutzen würde, um den Westen zu testen.

Alexander Friedman ist promovierter Historiker. Er lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Aber wozu? Was haben sie getestet? Welche Erkenntnisse haben sie gewonnen?
Für Russland ist der gesamte Ablauf interessant: Wie entschlossen reagiert die Nato? Was wird aktiviert, was nicht? Welche Schritte ergreift Washington? Wie reagieren westliche Medien? Dazu kommt: Man kann die Nato-Luftabwehrsysteme testen, um zu sehen, wie sie funktionieren. Wichtig ist auch die propagandistische Komponente. Russland will zeigen: Wir sind entschlossen, wir können den Westen herausfordern, die Kriegsgefahr ist real. So schürt man Ängste - eine Win-win-Situation aus russischer Sicht. Sie demonstrieren Stärke, wissen aber, dass die Risiken überschaubar sind. Denn das ist sicherlich keine Artikel-Fünf-Geschichte.
Wie sind die Reaktionen des Westens - und wie hätten sie sein müssen?
Bisher gab es vor allem Worte. Von über 20 Drohnen wurden vier abgeschossen - und zwar sehr aufwendig und kostspielig für die Nato. In Russland macht man sich über die Luftabwehrsysteme der Nato lustig: Die sind so teuer und trotzdem konnten so viele billige Drohnen so weit vordringen. Westliche Politiker äußerten sich klar - Rutte, von der Leyen, Kallas, Merz, polnische Politiker. Aber außer Appellen passiert wenig. Polen wird wohl neue Luftabwehrsysteme bekommen. Aber konkrete, deutliche Schritte fehlen. Neue Sanktionen oder Waffen für die Ukraine? Fehlanzeige. Die Nato reagiert zurückhaltend. Erstens, weil sie Zeit braucht, um sich in Bewegung zu setzen. Und zweitens, weil man nicht eskalieren will. Aber: Wenn Moskau den Eindruck gewinnt, dass die Antwort zu schwach ist, wird weiter eskaliert. Besonders interessant ist für Russland die Haltung Donald Trumps. Bisher zeigt er kaum Interesse - das könnte Putin als Erfolg verbuchen. Die Provokation ist gelungen.
Die Russen haben ja auch gar nicht bestritten, die Drohnen geschickt zu haben - nur, dass es Absicht war.
Typisch russische Rhetorik seit 2014: Offensichtliches wird nicht bestätigt, aber auch nicht klar bestritten. Man verwendet schwammige Formulierungen und beobachtet dann die Reaktionen.
Am Vortag des Vorfalls hatte Polen angekündigt, die Grenze zu Belarus komplett zu schließen. Am nächsten Morgen kommen die Drohnen, unter anderem aus Belarus. Hängt das zusammen?
Ich sehe keinen direkten Zusammenhang. Die Grenzschließung war eine vorbereitete Option im Kontext der anstehenden russisch-belarussischen Manöver "Zapad 2025". Ich glaube, die polnische Regierung hatte verschiedene Szenarien durchgespielt und diese Möglichkeit als eine der wirksamsten in Erwägung gezogen. Denn die Grenze ist nicht nur eine bilaterale Angelegenheit zwischen Polen und Belarus und auch nicht allein eine Frage zwischen der EU und Belarus. Es ist eine wichtige Transitroute - unter anderem für chinesische Waren auf dem Weg in die Europäische Union. Diese Grenzschließung ist also eine bemerkenswerte Entscheidung. Polen wollte damit signalisieren: Wenn die andere Seite angesichts der Militärmanöver provoziert oder eskaliert, sind wir bereit, diese Option zu ziehen. Die Drohnen kamen dann zufällig zeitlich dazu.
Viele Drohnen kamen aus Belarus. Spricht das nicht dafür, dass Minsk in den Vorfall involviert war - und dass die Drohnen von Anfang an gegen Polen gerichtet waren und nicht versehentlich auf diesem Kurs landeten?
Es gibt Berichte darüber, dass die Drohnen möglicherweise sogar in Belarus gestartet sind. Ob das stimmt oder ob sie "nur" über Belarus geflogen sind, ist unklar. Aber einiges spricht dafür, dass diese Route von den Russen gezielt ausgewählt wurde. Das belarussische Verteidigungsministerium behauptet zwar, einige Drohnen abgeschossen und Polen informiert zu haben, Belege dafür gibt es jedoch nicht. Deshalb glaube ich nicht, dass Belarus aktiv in den Vorfall verwickelt war. Vielmehr wurde das Land, wie so oft in diesem Krieg, von Russland nach Bedarf genutzt.
Aber warum behauptet Belarus, russische Drohnen abgeschossen zu haben, um Polen zu schützen? Das glaubt doch niemand.
In Europa glaubt das tatsächlich niemand. Der Adressat dieser Botschaft ist Donald Trump. Momentan laufen Verhandlungen zwischen Minsk und Washington. Heute wurde bekannt, dass die USA die Sanktionen gegen die staatliche Airline Belavia aufgehoben haben, im Gegenzug dafür kamen 52 politische Gefangene frei. Die belarussische Seite wollte auf keinen Fall den Deal gefährden, damit die Amerikaner nicht auf den letzten Meter abspringen.
Trump hat bereits zweimal darauf hingewiesen, dass er die Freilassung aller belarussischen politischen Gefangenen erwirken will. Meine Vermutung ist, dass es ihm vor allem um zwei Dinge geht: erstens den Friedensnobelpreis, den er ja bekommen will, und zweitens darum, zumindest ein paar Erfolge im Bereich Belarus, Ukraine, Russland vorzuweisen, wo er bisher kaum etwas vorzuzeigen hat.
Im Hinblick auf den Friedensnobelpreis wäre die Freilassung politischer Gefangener, darunter auch ein Friedensnobelpreisträger - Ales Bjaljazki, Gründer der Menschenrechtsorganisation "Wjasna" - für Trump eine propagandistisch sehr attraktive Errungenschaft. Die belarussische Seite hofft bei diesen Verhandlungen vor allem auf die Abschaffung von Sanktionen und eine Verbesserung der Beziehungen zu den USA. Eine Eskalation gegen einen Nato-Staat könnte die Annäherung an die USA gefährden. Deshalb bin ich überzeugt: Diese Botschaft des belarussischen Verteidigungsministeriums richtet sich gar nicht an Europa. Sie ist eindeutig für die USA bestimmt.
Es wirkt ein bisschen wie ein verdeckter Hilferuf nach außen, als wolle sich Belarus mit Signalen an den Westen freisprechen, nach dem Motto: "Wir wollen das Ganze gar nicht, sind aber völlig von Russland abhängig, wir wollen keinen Krieg."
Ich sehe das differenzierter. Belarus will keinen Krieg. Gleichzeitig versucht Lukaschenko, wirtschaftlich davon zu profitieren, etwa durch russische Subventionen und dadurch, dass belarussische Unternehmen Teil der russischen Kriegswirtschaft geworden sind. Er balanciert also zwischen Nutzen und Risiko: möglichst viel vom Krieg mitnehmen, ohne sich aktiv einzumischen. Gegenüber Europa versucht er, durch russische Drohungen und Eskalationen Vorteile zu erzielen - zum Beispiel die Abschaffung von Sanktionen oder überhaupt Gespräche mit den Europäern zu erzwingen. Ich glaube, er ist grundsätzlich zum Dialog bereit, erwartet aber ein lukratives Gegenangebot.
Was Russland betrifft, hat Lukaschenko nur wenig Spielraum. Wenn Moskau sagt: "Wir machen dies und das, und du bist dabei", kann er nicht einfach ablehnen. Letztlich bleibt Belarus vor allem ein Instrument russischer Politik, weniger ein eigenständiger Akteur - und das ist im Westen allgemein bekannt. Deshalb geht niemand davon aus, dass Belarus für den Drohnenvorfall verantwortlich ist. Es ist klar, dass das Land in dieser Situation genutzt wird.
Mit Alexander Friedman sprach Uladzimir Zhyhachou
Quelle: ntv.de