Politik

Gedenkstunde im Bundestag Der "jüdischste Jude Odessas" kommt nach Berlin

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2022 war Roman Schwarzman schon einmal zu Gast - damals auf der Besuchertribüne. Bei der diesjährigen Gedenkstunde wird er eine Rede halten.

2022 war Roman Schwarzman schon einmal zu Gast - damals auf der Besuchertribüne. Bei der diesjährigen Gedenkstunde wird er eine Rede halten.

(Foto: picture alliance / photothek)

Mit einer Gedenkstunde Ende Januar erinnert der Deutsche Bundestag jährlich an die Opfer des Nationalsozialismus. In diesem Jahr wird Roman Schwarzman sprechen. Der heute 88-Jährige überlebte als Kind das Ghetto in Berschad, einer Stadt in der heutigen Ukraine.

Bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestags am heutigen Mittag wird Roman Schwarzman, ein Holocaust-Überlebender aus Odessa, sprechen. In den vergangenen Jahren kamen fast immer Zeitzeugen in den Bundestag, die über ihr Überleben und ihr Weiterleben nach 1945 berichteten. 2024 wandte sich erstmals mit Marcel Reif auch ein Nachkomme eines Überlebenden an das Parlament und seine Gäste.

Dieses Jahr - 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - fügt Schwarzman seine Überlebensgeschichte aus der Ukraine hinzu. Es könnte eines der letzten Male sein, dass ein Überlebender im Bundestag spricht.

Eine Kindheit im Ghetto

Als kleiner Junge überlebte Schwarzman das Ghetto in Berschad, einer Stadt in der heutigen Ukraine, wo er 1936 zur Welt kam. Ende der 1930er-Jahre lebten dort rund 5000 Juden. Schwarzman ist das siebte von neun Kindern einer jüdischen Großfamilie. Sein genaues Geburtsdatum kennt er bis heute nicht, denn fast alle persönlichen Dokumente der Familie gingen während des Zweiten Weltkriegs verloren, wie Schwarzman 2021 dem Portal Ukraine verstehen sagte.

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Schwarzman war keine fünf Jahre alt, als die deutsche Wehrmacht und die rumänische Armee Berschad im Sommer 1941 besetzten. Kurz darauf errichteten die Besatzer in der Stadt ein Ghetto, in dem mehr als 20.000 Juden aus der Umgebung - auch die Schwarzmans - interniert wurden. Es war das größte Ghetto in der Region in Transnistrien.

"Das Angsteinflößendste war der Tod", sagte Schwarzman 2023 dem "Tagesspiegel" über seine Kindheit im Ghetto. "Man wusste nie, ob man überlebt." Ein älterer Bruder starb als Soldat der Roten Armee bei der Verteidigung von Leningrad (heute St. Petersburg). Ein anderer Bruder wurde bei Brückenarbeiten von den Besatzern erschossen, sein im Ghetto geborener Neffe verhungerte. Ein weiterer Bruder wurde beim Klauen erwischt und von rumänischen Soldaten so verprügelt, dass er sein ganzes Leben an den Folgen litt.

Ende März 1944 befreite die Rote Armee die Stadt Berschad und auch das Ghetto. Mehr als 10.000 Menschen waren im deutsch-rumänisch kontrollierten Ghetto verhungert oder erschossen worden. Schwarzman überlebte. "Wir waren ganz abgehungert, kiloweise hingen Läuse an uns", erinnerte er sich 2021. Nach den traumatischen Jahren seiner Kindheit begann für Schwarzman nun das Leben. 1955 zog er schließlich von Berschad in das 300 Kilometer entfernte Odessa, die große Hafenstadt am Schwarzen Meer, die seit 1922 zur Sowjetunion gehörte. Dort arbeitete er als Ingenieur und gründete eine Familie. Er heiratete 1959.

Jude in der Sowjetunion

"Anhand meiner Biografie erzähle ich immer die Geschichte eines Juden in der Sowjetunion", sagte Schwarzman, der sich gegenüber Ukraine verstehen als der "jüdischste Jude Odessas" beschrieb. In der Sowjetunion existierte ein staatlicher Antisemitismus. Juden wurden in der Gesellschaft diskriminiert: Nach eigenen Angaben konnte Schwarzman aufgrund seines jüdischen Glaubens niemals Betriebsleiter werden, seine Tochter durfte nicht Medizin studieren.

Die Erinnerung an den Holocaust hatte in der offiziellen Geschichtsschreibung der Sowjetunion nach 1945 keinen Platz: Ukrainische Juden waren keine eigene Opfergruppe, sondern wurden als sowjetische NS-Opfer angesehen. Das änderte sich erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er-Jahre.

Überlebensgeschichten wieder erzählen

"In der unabhängigen Ukraine wurde es plötzlich möglich, über Juden und den Holocaust zu sprechen. Themen, die es in der Sowjetunion praktisch nicht gab, weder Juden noch den Holocaust", sagte Schwarzman Ukraine verstehen. So begann auch er, über die Zeit im Ghetto zu sprechen. Schwarzman brachte auch andere Verfolgte dazu, ihre Überlebensgeschichten zu erzählen.

Für die von Steven Spielberg ins Leben gerufene "Shoah Foundation" interviewte Schwarzman Mitte der 1990er-Jahre Holocaust-Überlebende aus der Ukraine. Die Initiative hat bis heute mehr als 50.000 Interviews mit Überlebenden filmisch aufgezeichnet. Für die Aufgabe, die Interviews mit den Überlebenden aus der Ukraine zu führen, wurde Schwarzman ausgewählt, weil er Russisch, Ukrainisch und Jiddisch spricht, als einer von wenigen Menschen in der Ukraine.

1991 gründete Schwarzman den ukrainischen Verband für jüdische KZ- und Ghetto-Überlebende, dessen Vorsitzender er heute ist. Es war der Beginn seines ehrenamtlichen Engagements gegen das Vergessen. Inzwischen gibt es in Odessa ein Holocaust-Museum, an dessen Aufbau er beteiligt war. Auch seinetwegen erinnern heute einige Denkmale an den "Holocaust durch Kugeln" in der Region.

Von 1941 bis 1944 erschossen die Deutschen mehr als eine Million Juden aus dem Gebiet der heutigen Ukraine. Diese NS-Verbrechen in der Ukraine lagen in der Zeit der Sowjetunion bis 1990 unter dem Schleier des Vergessens. Noch bis in das 21. Jahrhundert hinein wurden immer wieder Massengräber mit Tausenden Opfern der NS-Erschießungen in der Region ausgegraben. "Wo man auch gräbt, findet man Knochen, Zähne und Schädel", sagte Schwarzman nach einem Fund Associated Press. "Es war erschreckend."

Schon einmal war Schwarzman bei einer Gedenkstunde des Deutschen Bundestags. 2023 saß er als Ehrengast auf der Besuchertribüne. "Und obwohl mehr als 80 Jahre vergangen sind, ist es immer noch so, dass man sich nicht daran erinnern will. Aber wenn man eben eingeladen wird, wie am Gedenktag der Opfer des Holocausts, muss man erzählen", sagte er damals dem "Tagesspiegel".

Trotz Krieg weitermachen

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Am 29. Januar 2025 kommt Schwarzman aus der ukrainischen Odessa nach Berlin. Seit fast drei Jahren herrscht in der Ukraine Krieg, Teile des Landes sind von Russland besetzt und auch die Hafenstadt am Schwarzen Meer wird immer wieder angegriffen. Unter den Todesopfern des Krieges sind auch Holocaust-Überlebende. Während der Belagerung der Stadt Mariupol kam die 91-jährige Holocaust-Überlebende Wanda Semjonowna Obiedkowa am 4. April 2022 ums Leben. "In der Ukraine leben noch etwa 1000 Menschen, die die Ghettos und Konzentrationslager der Nazis überlebten. Wir sind alle sehr alt und wollten eines natürlichen Todes sterben, aber nicht von modernen Faschisten getötet werden", sagte Schwarzman dem "Tagesspiegel". Deutschland forderte er deshalb immer wieder öffentlich zu Waffenlieferungen auf.

"Vor allem in den ersten Monaten war es ein regelrechter Albtraum. Es gab Raketenbeschuss, Luftalarm", sagte er dem Portal Ukraine verstehen 2022. Schließlich habe er die Entscheidung gefällt, bei Luftalarm nicht mehr in den Keller zu rennen. "Wir haben die Jahre 1941 bis 1944 überlebt, als die deutschen Faschisten uns vernichteten. Wir verstecken uns nicht mehr. (…) Es gibt immer etwas zu tun. Wir unter­bre­chen unsere Arbeit nicht für einen ein­zi­gen Tag."

Quelle: ntv.de

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