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Reisner für Europas Aufrüstung "Putin versucht, den Westen auszusitzen"

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Der Westen liefert der Ukraine genug Waffen, um sich zu verteidigen, aber nicht genug, um den Krieg zu gewinnen. Das führt zu einem Abnutzungskrieg, der langfristig nur einen Gewinner kennt: Putin. Was aber passiert, wenn der russische Staatschef den Krieg gegen die Ukraine tatsächlich gewinnt? Im ntv-Podcast "Wieder was gelernt" warnt Markus Reisner, dass das internationale Rechtssystem, das nach dem Zweiten Weltkrieg "mühsam zusammengezimmert" wurde, wertlos werden könnte. Der Oberst des österreichischen Bundesheeres drängt Europa dazu, sich ernsthaft mit dieser Möglichkeit auseinanderzusetzen und entsprechende Maßnahmen zu beschließen.

ntv.de: Die Gegenoffensive ist nicht so gelaufen, wie die Ukraine und ihre Verbündeten das erhofft hatten. Besteht die Gefahr, dass der russischen Armee in den nächsten Wochen oder Monaten ein Durchbruch gelingt und sie wieder mehr Land besetzen könnte?

Markus Reisner: Diese Gefahr besteht, und zwar dann, wenn die Ukraine nicht die ausreichenden Mittel hat, sich entsprechend zu verteidigen oder selbst in die Offensive zu gehen. Das Dilemma ist: Militärische Maßnahmen und Offensiven haben einen hohen Ressourcenbedarf. Die Ukraine hat einige sehr spektakuläre Erfolge erreicht. Denken Sie daran, dass der russische Einmarsch zu Beginn gescheitert ist, dass die Ukrainer den anfangs von Russland eroberten Raum rasch wieder befreien konnten. Denken Sie auch an die Offensiven bei Charkiw oder Cherson. Aber dabei wurden militärische Ressourcen verbraucht, die aufgefüllt werden müssen. Es mussten Munition und Panzergerät geliefert werden. Deswegen hat es auch gedauert, bis die Ukraine im Juni in die Offensive gehen konnte. Diese Offensive hat nicht die gewünschten Ergebnisse erbracht. Der Durchbruch Richtung Asowsches Meer und die Isolierung der russischen Truppen wurden verfehlt. Dadurch konnte man Russland nicht an den Verhandlungstisch bringen.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: privat)

Das muss man abhaken und in die Zukunft schauen. Das bedeutet für die Ukraine einerseits, den Winter zu überstehen, vor allem das Hinterland zu schützen und sich auf das Frühjahr vorzubereiten, wenn es wieder darum geht, die besetzten Gebiete freizukämpfen. Dazu braucht die Ukraine Ressourcen, die jetzt bereitgestellt werden müssen.

Sie haben einmal gesagt: "Der Westen liefert der Ukraine genug Waffen, um die Frontlinie gegen die Russen zu halten, aber nicht genug, um die Russen zu besiegen." Woran liegt das?

Dabei spielen mehrere Aspekte eine Rolle. Man darf nicht vergessen, dass dieser Konflikt nicht nur zwischen der Ukraine und Russland geführt wird, sondern auch eine globale Note hat. Es ist quasi eine Auseinandersetzung der USA und Russlands oder des sogenannten Globalen Nordens gegen den Globalen Süden. Vor diesem Hintergrund agieren die wesentlichen Akteure strategisch so, dass Eskalationen weltweit möglichst vermieden werden. Das erkennt man auch an den massiven Maßnahmen der Amerikaner, um die Situation in Israel zu befrieden oder zumindest zu beruhigen. So ist es auch in der Ukraine: Sie bekommt, was sie braucht, um zu kämpfen, aber nicht, was sie braucht, um zu siegen.

Hat der Westen denn keine Angst davor, dass Russland den Krieg gewinnen und dann gefährlich für Europa und die NATO werden könnte?

Die NATO tut genau das, wofür sie geschaffen wurde: Sie schützt ihre Mitglieder und macht, was notwendig ist, um die Ukraine zu unterstützen. Sie gibt ihr, was sie braucht, um enormen Druck auf die russische Seite auszuüben, aber offensichtlich zu wenig, um die Russen zum Einlenken zu bewegen. Warum man moderiert vorgeht? Ein Argument ist, dass die USA die Russen zwar in die Schranken weisen wollen, damit solche völkerrechtswidrigen Angriffe keine Schule machen. Aber sie wollen Russland nicht vernichten. Das bedeutet, dass der Krieg von einer Runde in die nächste geht. Möglicherweise befürchtet man auch eine Eskalation. Es könnte durchaus sein, dass Russland durch massive Waffenlieferungen in die Enge getrieben wird und sein nukleares Arsenal einsetzt oder dass der russische Staat bei einer Niederlage zerfällt. Dann besteht aus Sicht der USA die berechtigte Frage: Was passiert mit all den Tausenden Atomwaffen?

Die genauen Ursachen bleiben noch im Verborgenen. Wir erleben gerade Geschichte. Historiker werden beurteilen müssen, ob es richtig oder falsch war, abzuwarten. Auf jeden Fall müssen wir uns bewusst machen, dass die Dinge nicht einfach wieder ins Lot kommen werden. Wir müssen mit der nötigen Ernsthaftigkeit darüber nachdenken, was wir wollen. Basierend auf dieser Entscheidung müssen dann die entsprechenden Maßnahmen getroffen werden.

Welche Konsequenzen hätte ein russischer Sieg für Europa und die NATO?

Es heißt immer, Russland dürfe den Krieg nicht gewinnen. Das ist vor allem darin begründet, dass man nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges diese Art von Krieg verhindern wollte. In der UN-Charta wurde daher genau definiert, wann Krieg geführt werden darf und wann nicht. Man hat sogar das Wort "Krieg" verbannt und durch "Konflikt" ersetzt. Natürlich wurden die Regeln der UN-Charta immer wieder verletzt. Aber grundsätzlich war es während des Kalten Kriegs so, dass die Großmächte ihre Interessensgebiete und Rollen klar definieren konnten. Inzwischen sind aber viele Länder selbstbewusster geworden und stellen selbst Führungsansprüche, regional und überregional. Wenn Russland mit seinem Angriffskrieg durchkommt und seine Ziele erreicht, besteht die Gefahr, dass das mühsam zusammengezimmerte Rechtssystem der Nachkriegszeit wertlos wird und künftig jeder tut und lässt, was er möchte. Das erkennt man bereits am Beispiel der Sanktionen, die gezielt umgangen werden, weil Länder ihre eigenen Interessen verfolgen.

Wenn Russland diesen Krieg gewinnt, steht unsere Weltordnung auf dem Spiel?

Auf jeden Fall. Das muss nicht bedeuten, dass völliges Chaos ausbricht und überall Krieg herrscht. Aber wir müssen akzeptieren, dass die dominante Rolle von Europa, die Garant für unseren Wohlstand und unsere Rohstoffversorgung war, nicht mehr dieselbe sein wird. Wir werden definieren müssen, wie unsere Rolle in einer multipolaren Welt aussieht, welche Sicherheitspolitik wir verfolgen, welche Rolle europäische Streitkräfte übernehmen und woher unsere Rohstoffe kommen.

Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein, dass Russland nach der Ukraine auch Länder wie die baltischen Staaten angreifen könnte?

Wo finde ich "Wieder was gelernt"?

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Putin hat in seiner Rede, die er drei Tage vor dem Angriff auf die Ukraine hielt, drei zentrale Dinge gesagt: Erstens hat er der Ukraine ihre Staatlichkeit abgesprochen und sie als Kunstgebilde bezeichnet. Zweitens sagte er, er könne nicht zulassen, dass auf dem Territorium der Ukraine Waffen stationiert werden, die Russland bedrohen könnten - zum Beispiel, wenn die Ukraine Teil der NATO wird. Drittens sagte er, dass in der Zeit der Sowjetunion Ruhe und Ordnung geherrscht hätten. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gibt es aus seiner Sicht Chaos. Bereits zum damaligen Zeitpunkt konnte man aus diesen drei Aussagen durchaus größere Ambitionen herauslesen, aber Russland hat sich beim Einmarsch in die Ukraine völlig verkalkuliert und kämpft bis heute mit den Folgen. Jetzt setzt Russland auf die Karte "Zeit" und versucht, den Westen auszusitzen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Russland sich mit Unterstützung von Ländern wie China oder Indien in den kommenden Jahren oder Jahrzehnten potenter aufstellen und möglicherweise tatsächlich zu einer existenziellen Bedrohung für Europa werden kann. Um das zu verhindern, muss Europa auch aus militärischer Sicht zu einem Gegenpol werden, damit Russland gar nicht erst auf die Idee kommt, anzugreifen.

Wenn wir noch einmal die Perspektive wechseln: Für wie realistisch halten Sie derzeit einen Sieg der Ukraine?

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Die Ukraine hat nach wie vor die völlige Befreiung des von Russland besetzten Territoriums inklusive der Krim als Sieg definiert. Das ist ihr Kriegsziel. Die Mittel, die sie dafür einsetzen kann, scheinen aus Sicht der Ukraine auszureichen, im Moment jedenfalls. Wenn sie feststellt, dass dieser Weg nicht mehr der richtige ist und die Mittel und Ressourcen nicht mehr ausreichen, muss sie ihre Strategie verändern und das Ziel kürzer stecken. Dann verzichtet man vielleicht auf die Krim oder toleriert, dass Russland 20 Prozent des ukrainischen Gebiets besitzt. Das kann passieren, davon sind wir aber noch weit entfernt. Und natürlich darf man nicht vergessen, dass Europa und die USA maßgeblich Einfluss haben, weil sie der Ukraine Mittel zur Verfügung stellen und gemeinsam Möglichkeiten definieren. Darum liegt es auch in unserer Hand, wie dieser Konflikt weiter verlaufen wird.

Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks

Quelle: ntv.de

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