Russlands Plan "Maidan 3" Der Streit zwischen Selenskyj und Saluschnyj ist ein Fake


Anders als Präsident Selenskyj löst Saluschnyj in der Ukraine praktisch keine Antipathien aus, weil man über seine politischen Ansichten nichts weiß.
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Immer wieder kursieren Gerüchte über Konflikte zwischen dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj und Oberbefehlshaber Saluschnyj. Wirklich plausibel ist das nicht. Am Hochfahren des Themas scheint vor allem Russland ein Interesse zu haben.
In normalen Zeiten ist das innenpolitische Leben in der Ukraine turbulent und wechselhaft. Nur ein Präsident wurde in Zeit der Unabhängigkeit bisher für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. "Der nächste Wahlkampf beginnt bereits am Wahlabend", ist ein gängiger Spruch im politischen Kiew, der die ukrainische politische Kultur treffend beschreibt.
Nach dem russischen Überfall vom Februar 2022 wurde die Innenpolitik aber weitgehend stillgelegt: Trotz teils heißer Diskussion werden auch die turnusmäßig für den kommenden März angesetzten Präsidentschaftswahlen nicht stattfinden. Eine Entscheidung, die nicht nur der Gesetzeslage entspricht, sondern auch von der Breite der ukrainischen Gesellschaft gestützt wird: Mindestens zwei Drittel der Ukrainer finden laut unterschiedlichen Umfragen, dass Wahlen aktuell nicht an der Zeit sind.
Das starke Auftreten von Präsident Wolodymyr Selenskyj kurz nach dem russischen Überfall ließ selbst seine größten Kritiker zunächst schweigen. Jetzt, 21 Monate später, ist die Situation eine andere. Zwar ist die Zustimmung zu Selenskyj weiterhin hoch, auch wenn das Jahr militärisch gesehen nicht so lief, wie von den Ukrainern erhofft. Dem Kiewer Internationalen Soziologie-Institut zufolge haben aktuell 76 Prozent Vertrauen in Selenskyj - 15 Punkte weniger als im Mai 2022, aber ein ordentlicher Wert. Dem Kabinett vertrauen allerdings lediglich 39 Prozent der Ukrainer, Vertrauen ins Parlament, in dem Selenskyjs Fraktion "Diener des Volkes" die absolute Mehrheit hat, haben nur 21 Prozent.
Mit Bachmut fing es an
Es sind vor allem die ständigen Gerüchte über einen Konflikt zwischen dem Präsidenten und dem beliebten Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj, mit denen Öl ins Feuer gegossen wird. Saluschnyj wurde Mitte 2021 von Selenskyj zum ranghöchsten ukrainischen General ernannt, was damals für eine gewisse Eifersucht in der Armee sorgte: Der mit heute 50 Jahren immer noch vergleichsweise junge Saluschnyj war nicht zwingend der Kandidat, der in der informellen Hierarchie als nächster dran gewesen wäre. Selenskyj ist jedoch ein für ihn typisches Risiko eingegangen, das sich auch ausgezahlt hat: Dass Russland an den ursprünglichen Zielen der sogenannten "Spezialoperation" scheiterte, trägt die Handschrift des "Eisernen Generals" - der Spitzname ist eine Anspielung auf den Nachnamen von Saluschnyj, der im Ukrainischen ähnlich wie das Wort für "eisern" klingt.
Erste Berichte über angebliche Meinungsverschiedenheiten zwischen Selenskyj und Saluschnyj tauchten vor rund einem Jahr in US-Medien auf. Es ging darum, dass der Präsident und der Oberbefehlshaber unterschiedlich auf die Verteidigung von Bachmut blickten, was jedoch unbestätigt blieb. Zuletzt gab es allerdings eine Menge von zeitlich zusammenpassenden Ereignissen, die Spekulationen befeuerte. Ihor Schowkwa, ein ranghoher Vertreter des Präsidentenbüros, äußerte sich offen kritisch über einen Artikel Saluschnyjs im britischen "Economist". Darin hatte der General die Lage an der Front nüchtern beschrieben und vor einem Stellungskrieg gewarnt. Selenskyj selbst sagte in Interviews mit dem US-Sender Fox News und der britischen "Sun", Militärs sollten sich in Kriegszeiten nicht mit der Politik beschäftigen und bestehende Hierarchien respektieren.
Die Poroschenko-Partei treibt das Thema voran
Nach Quellen des ukrainischen Online-Mediums RBC Ukraine haben sich die Beziehungen zwischen Selenskyj und Saluschnyj tatsächlich etwas abgekühlt. Das Präsidentenbüro schätze den General für seine militärischen Fähigkeiten hoch, sei aber über den offensichtlich nicht abgesprochenen "Economist"-Beitrag nicht glücklich gewesen, weil Saluschnyj wenig Ahnung von den Beziehungen zu den westlichen Partnern habe. Gleichzeitig will RBC Ukraine wissen, dass Saluschnyj, die neben Selenskyj mit Abstand beliebteste öffentliche Figur des Landes, aktuell gar keine politischen Ambitionen hat und sich vollständig auf den Krieg konzentriert. Damit sollte es keine Grundlage für einen Konflikt geben - eigentlich.
Denn das Problem ist: Eine gefühlte Konfliktstimmung kann auch unabhängig davon entstehen, was Saluschnyj und Selenskyj wollen. Vor allem Abgeordnete und Anhänger der Partei von Selenskyjs Vorgänger und Erzrivalen Petro Poroschenko treiben das Thema voran. In der Stichwahl gegen Selenskyj hatte Poroschenko 2019 etwas mehr als 24 Prozent erhalten. Das entspricht in etwa dem Potenzial der nationalliberalen Wählerschaft, die den ursprünglich russischsprachigen Selenskyj, der vor 2014 oft auch im russischen Staatsfernsehen zu sehen war, ohnehin kategorisch ablehnt. Umso weniger gefährlich ist für den Präsidenten eine gewisse Senkung seiner Vertrauenswerte auf 76 Prozent: Nach anfänglicher Euphorie ist das vielmehr die Rückkehr zum Normalzustand.
"Maidan 3"
Dass in den Poroschenko-nahen Fernsehsender davon gesprochen wird, dass die Ukraine nun einen de Gaulle oder einen Eisenhower als Präsidenten brauche, ist jedoch alles andere als ungefährlich - Saluschnyj wird in dieser Konstruktion quasi im politischen Kampf gegen Selenskyj missbraucht, denn direkte Kritik gegen den Präsidenten wirkt im Krieg offenbar immer noch unangebracht. Den General dafür zu nutzen, ist naheliegend: Anders als Selenskyj löst Saluschnyj in der Ukraine praktisch keine Antipathien aus, weil man über seine politischen Ansichten nichts weiß. Er wirkt für einen Militär ungewöhnlich menschlich, wie ein "normaler Kerl" aus der Provinz, und ist dabei in seinem Fach auch noch erfolgreich. Viel Angriffsfläche gibt es da nicht.
Am Hochfahren des Themas scheint vor allem Russland ein Interesse zu haben. Selenskyj sagte, Moskau arbeite an einem Plan "Maidan 3", also an einem Umsturz. Ob der Kreml wirklich noch immer glaubt, die Regierung in Kiew auswechseln zu können, ist unklar. Unbestritten ist, dass Moskau Versuche unternimmt, um die öffentliche Meinung in der Ukraine zu beeinflussen. So gab es in den letzten Wochen reichlich Deep Fakes mit Saluschnyj, bei denen dieser auf gefälschten Videos zu einem Putsch gegen Selenskyj aufruft. Auch auf Facebook wird ukrainischen Nutzern gelegentlich bezahlte Werbung angezeigt, die von Eintagesseiten stammt und diese Thematik anspricht.
Trotz der militärisch suboptimalen Lage ist nicht absehbar, dass sich die Stimmung in der Ukraine radikal dreht und die Entschlossenheit der Ukrainer im Kampf gegen Russland grundsätzlich infrage steht. Klar ist aber, dass die Rückkehr der Innenpolitik auch Ausdruck einer gewissen Enttäuschung ist, die unter anderem mit nicht erfüllten Hoffnungen zusammenhängt. Selenskyj und Saluschnyj, aber auch die Opposition, müssen sich nun vor allem als Staatsmänner und -frauen unter Beweis stellen, für die der Krieg wichtiger ist als innenpolitische Intrigen.
Quelle: ntv.de