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Moskaus LNG fließt durch Europa "EU-Staaten sollten Angst haben, dass Putin den Gashahn zudreht"

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Präsident Putin habe bereits einen Beweis dafür geliefert, dass Russland kein zuverlässiger Energielieferant sei, sagt Kardaś.

Präsident Putin habe bereits einen Beweis dafür geliefert, dass Russland kein zuverlässiger Energielieferant sei, sagt Kardaś.

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Trotz der politischen Spannungen durch Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine beziehen viele EU-Mitgliedsstaaten weiter Gas aus Russland. Szymon Kardaś warnt vor den Gefahren der Abhängigkeit und erklärt, wie sich die Länder daraus lösen könnten. Kardaś ist Energie-Experte im Warschauer Büro des "European Council on Foreign Relations" (ECFR).

ntv.de: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine geht ins dritte Jahr. Das hielt mehrere Staaten der Europäischen Union nicht davon ab, vergangenes Jahr 15 bis 16 Millionen Tonnen Flüssiggas aus Russland zu importieren. Damit ist Russland nach den USA zweitgrößter LNG-Lieferant für die EU. Warum ist das so?

Szymon Kardaś: Der erste Grund dafür ist, dass einige EU-Mitgliedsstaaten immer noch langfristige Verträge mit Russland haben, genauer mit dem Jamal-LNG-Konsortium, das das größte laufende LNG-Exportterminal im europäischen Teil Russlands besitzt. Spanien und Frankreich haben solche Verträge. Manche EU-Staaten importieren russisches LNG, weil es keine Sanktionen gegen russisches Gas und damit keine Rechtfertigung für die Kündigung des Vertrags gibt. Auch Belgien importiert viel LNG, ein Teil davon wird aber wieder exportiert in andere Märkte. Der zweite Grund ist, dass die EU-Staaten, denen Russland nach Kriegsbeginn den Gashahn über die Pipelines zugedreht hat, vor der Herausforderung standen, Alternativen zu finden. Durch den Rückgang der Pipeline-Gaslieferungen wurde russisches LNG teilweise als etwas wahrgenommen, das die EU-Staaten in Krisenzeiten noch brauchen.

Szymon Kardaś ist Energie-Experte im Warschauer Büro des "European Council on Foreign Relations".

Szymon Kardaś ist Energie-Experte im Warschauer Büro des "European Council on Foreign Relations".

(Foto: Szymon Kardaś/ECFR)

Warum hat die EU nach dem Öl- nicht auch ein Gasembargo gegen Russland verhängt?

Es war von Anfang an klar, dass es Länder in der EU gibt, die nicht daran interessiert sind, den Gasimport zu sanktionieren, weil sie von den Lieferungen Russlands abhängig waren und teilweise noch sind. Schließlich betrug der Anteil des russischen Pipeline-Gases am EU-Gasimport vor der Invasion in die Ukraine 42 Prozent. Zuerst hat die EU damit begonnen, Kohle aus Russland zu sanktionieren, weil das ein weniger sensibles Thema war. Dann wandte sie sich Öl und Ölprodukten zu, weil es einfacher als bei Gaslieferungen ist, Alternativen zu finden. Auch Russland verstand, wie abhängig manche EU-Staaten von seinen Gaslieferungen waren. Dass Russland die Lieferungen von Pipeline-Gas in Länder wie Deutschland dann unterbrochen hat, ist als Gegensanktionsmaßnahme zu verstehen. Aber es gibt immer noch Länder, die russisches Gas über Pipelines importieren, wie Österreich, die Slowakei und Ungarn. Andererseits gibt es Staaten wie Polen, die sich bereits vor Beginn des russischen Angriffskriegs darauf vorbereitet hatten, kein russisches Gas mehr zu kaufen.

Deutschland importiert nach Schätzungen nur noch vier Prozent LNG aus Russland, nachdem Putin die Pipeline-Lieferungen gestoppt hatte. Er könnte auch den verbliebenen Ländern, die er noch beliefert, den Gashahn zudrehen. Haben diese Staaten nicht Angst, sich erpressbar zu machen?

Eigentlich sollten die restlichen EU-Staaten Angst haben, dass Putin ihnen den Gashahn zudreht. 2022 hat Russland einen Beweis dafür geliefert, dass es kein zuverlässiger Lieferant ist. Das ist das Narrativ, das viele mittel- und osteuropäische Länder schon vor der Invasion in die Ukraine innerhalb der EU zu verbreiten versuchten. Es war aber schwierig. In Westeuropa gab es positive Erfahrungen. Über Jahrzehnte gab es zum Beispiel zwischen Russland und Deutschland eine fruchtbare Zusammenarbeit. Das Risiko, dass zum Beispiel Ungarn jetzt von der Lieferung von russischem Erdgas abgeschnitten wird, ist zwar klein, weil das Land sich politisch so verhält, wie der Kreml es erwartet. Aber kein Land ist davor sicher, dass der Kreml die Entscheidung treffen könnte, die Lieferungen zu unterbrechen.

Nur durch ein Gasembargo wären die Staaten gezwungen, die Verträge mit Russland aufzukündigen. Doch das Öl-Embargo verfehlt offenbar seine Wirkung. Putin kann sich über Einnahmen aus dem Öl-Verkauf freuen, weil die Sanktionen durch Tricksereien umgangen werden. Wäre das bei Gaslieferungen auch so einfach?

Nein, das wäre es nicht, zumindest was das Pipeline-Gas betrifft. Gazprom hat keinen alternativen Markt für die großen Export-Mengen, die vor dem Angriffskrieg über Pipelines in die EU kamen. Die meisten russischen Gas-Pipelines sind auf den europäischen Markt ausgerichtet, wenn man die Türkei zu Europa zählt. Wenn Russlands Gas-Export sanktioniert wird, würde das also insgesamt zu einem Rückgang der Export-Mengen führen. Die Türkei wird nämlich kaum in der Lage sein, große zusätzliche Mengen, die über die Pipeline Turkstream kommen, zu absorbieren und weiterzuleiten. Es gibt nur eine Pipeline, die Power of Siberia, die zum asiatischen Markt führt, allerdings ausschließlich nach China. Gazprom wäre also nicht in der Lage, ein Embargo zu umgehen, weil die Pipelines fehlen, um den Export großer Mengen umzuleiten.

Könnte Russland beim LNG-Import die EU-Sanktionen leicht umgehen?

In Bezug auf LNG ist die Situation anders, da Russland versuchen kann, die Schiffe für den Export auf andere Märkte umzuleiten. Zum Beispiel könnte das LNG, das in die EU kommen soll, unter falscher Flagge transportiert oder verkauft werden. Aber Russland muss dabei mit anderen Exporteuren wie den Vereinigten Staaten konkurrieren. Das wäre zwar möglich, aber es müsste niedrigere Preise anbieten. Russland würde Geld verlieren, weil es weniger verdient als durch den Direktverkauf dieses Gases an die europäischen Kunden.

Investiert Russland in den Bau von LNG-Terminals?

Russland hat große Ambitionen, wenn es um den Ausbau des LNG-Sektors geht. Es betreibt bereits zwei große Terminals: Yamal-LNG im europäischen Teil und Sachalin II im fernen Osten Russlands. Sachalin II liefert nach Asien, Jamal-LNG nach Europa. Russland plant, in den nächsten Jahren weitere große Terminals in Betrieb zu nehmen. Ein Projekt heißt Arctic LNG 2, aber es gibt beim Bau Probleme wegen der EU-Sanktionen im Bereich der Hochleistungstechnologie. Durch die Sanktionen dürften die meisten LNG-Projekte Russlands verzögert, wenn nicht sogar gestoppt werden. Denn das Land hat keine eigene Technologie für die Entwicklung solch großer Terminals. Und es ist schwierig für Russland, eigene Technologien zu entwickeln, die so gut sind wie die Importe aus dem Westen.

Bis 2027 will die EU gar keine fossilen Energieträger mehr aus Russland beziehen. Wie soll das ohne Sanktionen gehen?

Sanktionen wären die beste Lösung für das Problem, allerdings mit Übergangsfristen, wie beim Öl-Embargo. Eine Übergangsfrist ist wichtig, um sich vorzubereiten. Vorher sollte es einen Stresstest der EU und ihrer Mitgliedsstaaten geben. Ein Krisenmechanismus sollte entwickelt werden, um in der Lage zu sein, die Länder zu unterstützen, die am verwundbarsten für Russlands Reaktion wären. Ende dieses Jahres läuft aber sowieso der Transitvertrag zwischen Russland und der Ukraine aus. Das ist die Route, die Russland für Lieferungen in die Slowakei, nach Österreich, Tschechien und teilweise auch nach Ungarn nutzt. Die Ukraine ist nicht bereit, das Transitabkommen zu verlängern. Ohne Transitvertrag gibt es keinen Transit. Das sollte man als zusätzlichen Anreiz nutzen. Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass die EU-Staaten vielleicht schon Anfang 2025 wesentlich weniger Pipeline-Gas aus Russland bekommen.

Kommt es automatisch zu einem kompletten Lieferstopp von Pipeline-Gas in die EU, wenn die Ukraine den Transit-Vertrag mit Russland nicht verlängert?

Russland versorgt die EU über zwei Wege mit Pipeline-Gas. Einer davon ist das riesige Pipeline-System, das durch die Ukraine verläuft. Es gibt aber noch den zweiten Weg über die Pipeline Turkstream, die Russland mit der Türkei verbindet. Davon wird eine Leitung für die Versorgung des türkischen Marktes genutzt. Die zweite wird als Transitstrecke genutzt, um ein paar EU-Staaten wie Ungarn zu versorgen. Also gibt es durch die Kündigung des Vertrags zwischen Russland und der Ukraine keinen automatischen Lieferstopp, weil eine Leitung von Turkstream für gewisse Mengen genutzt werden kann. Aber die Lieferungen könnten bis zum Ende dieses Jahres drastisch gekürzt werden, wenn es keinen Transit-Deal gibt.

Mit Szymon Kardaś sprach Lea Verstl

Quelle: ntv.de

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