Politik

Der Kriegstag im Überblick Gouverneur gibt Sjewjerodonezk noch zwei Tage - Berlin und Washington machen Kiew glücklich

Schneller Fall der Großstadt Sjewjerodonezk: US-Strategen sehen darin Kalkül.

Schneller Fall der Großstadt Sjewjerodonezk: US-Strategen sehen darin Kalkül.

(Foto: REUTERS)

Russische Soldaten stoßen in der Ostukraine weiter vor. Der Gouverneur gibt dem Widerstand in Sjewjerodonezk nur noch zwei Tage. US-Militärexperten sehen im schnellen Fall der Stadt allerdings ein kluges militärisches Kalkül. Die USA und Deutschland versprechen Kiew erstmals hochmoderne Raketenwerfer, trotz massiver Drohungen aus Moskau. Ungarn blockiert erneut das gerade verhandelte Öl-Embargo. Der 98. Kriegstag im Überblick.

20 Prozent von Sjewjerodonezk sind Niemandsland

Die ukrainischen Streitkräfte halten nur noch 20 Prozent der im Osten gelegenen Stadt Sjewjerodonezk. Es bestehe aber weiter die Hoffnung, dass sie eine vollständige Einnahme durch russische Truppen verhindern könnten, sagte der Bürgermeister der in der Region Luhansk gelegenen Industriestadt, Olexandr Strjuk. Die russischen Soldaten kontrollierten 60 Prozent der Stadt. Die restlichen 20 Prozent seien zu Niemandsland geworden, sagte Strjuk.

12.000 bis 13.000 Menschen hielten sich noch in Sjewjerodonezk auf. Gegenwärtig sei es nicht möglich, sie in Sicherheit zu bringen oder ihnen Lebensmittel zu liefern. Die Frage, wo er sich selbst aufhalte, ließ der Bürgermeister unbeantwortet. Regionalgouverneur Serhij Gajdaj rechnete dagegen mit einer vollständigen Einnahme von Sjewjerodonezk in den nächsten zwei bis drei Tagen. Nach seinen Angaben ziehen sich die ukrainischen Einheiten nach Lyssytschansk zurück.

ISW vermutet Kalkül

Das US-Militärforschungsinstitut ISW vermutete hinter der fast kampflosen Aufgabe von Sjewjerodonezk Kalkül. Kiews Militärplaner hätten mehr Reserven und Ressourcen für die Verteidigung der Stadt bereitstellen können, sind sich die Experten sicher. Dennoch sei die Rückzug-Entscheidung strategisch vernünftig. "Die Ukraine muss mit ihren begrenzten Ressourcen sparsam umgehen und sich darauf konzentrieren, kritisches Terrain zurückzugewinnen, anstatt Boden zu verteidigen, dessen Kontrolle nicht über den Ausgang des Krieges entscheiden wird", hieß es im aktuellen Lagebericht des ISW.

US-Mehrfachraketenwerfer bald einsetzbar

Washington will der Ukraine in einer ersten Tranche vier Mehrfachraketenwerfer-Systeme vom Typ HIMARS liefern und rechnet mit deren Einsatz im Kriegsgebiet in wenigen Wochen. "Wir haben die Systeme bereits in Europa vorpositioniert, sodass sie zügig geliefert werden können", sagte der Pentagon-Spitzenbeamte Colin Kahl in Washington. "Wir gehen von drei Wochen aus, in denen die Ukrainer in der Bedienung des Systems geschult werden. Es wird noch einige zusätzliche Schulungen für die Wartung geben. Irgendwann in diesem Zeitrahmen kann man also damit beginnen, die Systeme in den Kampf zu schicken."

Der Kreml kritisierte die von den USA angekündigte Lieferung von Mehrfachraketenwerfern an die Ukraine scharf. Washington gieße damit "absichtlich Öl ins Feuer", sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow in Moskau. "Solche Lieferungen ermutigen die ukrainische Führung nicht, die Friedensverhandlungen wieder aufnehmen zu wollen."

Deutschland liefert, Melnyk jubelt

Nach Washingtons Ankündigung zur Lieferung von Raketenwerfern zog auch die Bundesregierung nach: Bundeskanzler Olaf Scholz sagte der Ukraine im Bundestag die Lieferung eines modernen Flugabwehrsystems zu, nämlich IRIS-T des Herstellers Diehl. Außerdem will Deutschland vier Mehrfachraketenwerfer aus Bundeswehr-Beständen und ein modernes Ortungsradar zur Verfügung stellen, das Artilleriestellungen ausfindig machen soll.

Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk begrüßte die Ankündigung neuer deutscher Waffenlieferungen an sein Land. "Wir sind glücklich darüber, dass nun endlich Bewegung in die Sache gekommen und das Eis gebrochen ist", sagt Melnyk der "Stuttgarter Zeitung" und den "Stuttgarter Nachrichten". "Gerade um das System IRIS haben wir uns hinter den Kulissen seit fast drei Monaten bemüht, nun hoffen wir, dass es im Sommer fertig produziert ist, im August die Ausbildung starten und im Oktober der Einsatz beginnen kann." Gegenüber der "Wirtschaftswoche" sprach Melnyk von einem "echten Durchbruch".

Lawrow warnt vor Ausweitung des Konflikts

Russlands Außenminister Sergej Lawrow mahnte angesichts der Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine, dass Drittstaaten in den Konflikt in dem Land hineingezogen würden. Die Ukraine bezwecke genau das mit ihren Forderungen nach der Lieferung schwerer Waffen. "Das ist eine direkte Provokation, die darauf abzielt, den Westen in militärische Handlungen zu verwickeln", sagte Lawrow. "Es gibt Politiker, die bereit sind, sich auf diesen Wahnsinn einzulassen", meint Lawrow. Nüchterne Politiker im Westen verstünden die Risiken genau - aber nicht alle in der EU, "besonders im nördlichen Teil".

Ungarn blockiert Öl-Embargo erneut

Ungarn verzögerte derweil die endgültige Verabschiedung des jüngsten EU-Sanktionspakets mit dem Teil-Ölembargo gegen Russland. Nach Angaben von EU-Diplomaten weigerte sich das Land am Abend bei den Detailverhandlungen, Sanktionen gegen das russisch-orthodoxe Kirchenoberhaupt Patriarch Kirill zuzustimmen.

Die Staats- und Regierungschefs der EU hatten sich am Montag auf ein sechstes Sanktionspaket gegen Russland geeinigt, das unter anderem ein weitgehendes Embargo gegen russisches Erdöl umfasst. Die Einigung enthielt bereits eine Ausnahme, auf die Ungarn gepocht hatte. Der ungarische Regierungschef Viktor Orban hatte seine Zustimmung zu einem Öl-Embargo wochenlang verweigert.

Dänemark bindet sich in der Verteidigung an EU

Bei einer Volksabstimmung in Dänemark zeichnete sich eine deutliche Mehrheit für die Abschaffung des sogenannten EU-Verteidigungsvorbehalts ab. Prognosen der Fernsehsender DR und TV2 sehen das Ja-Lager nach Schließung der Wahllokale bei fast 70 Prozent der abgegebenen Stimmen. Bei einem mehrheitlichen Ja könnte sich Dänemark künftig an der europäischen Sicherheits- und Verteidigungszusammenarbeit - zum Beispiel an militärischen EU-Missionen - beteiligen.

Weitere Artikel zum Ukraine-Krieg

Alle weiteren Entwicklungen können Sie in unserem Liveticker zum Ukraine-Krieg nachlesen.

Quelle: ntv.de, mau/dpa/rts

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen