Grünen-Spitzenkandidatin Touré "Hass-Erfahrungen haben mich auf Wahlkampf vorbereitet"
15.04.2022, 09:31 Uhr
"Es gibt eine grundsätzliche Härte in der Politik, über die man diskutieren muss", sagt Touré.
(Foto: picture alliance/dpa)
Zusammen mit Finanzministerin Monika Heinold ist Aminata Touré Spitzenkandidatin der Grünen zur Landtagswahl in Schleswig-Holstein. Im ntv.de-Interview spricht die 29-Jährige, deren Eltern aus Mali kommen, über die Siegchancen ihrer Partei, die Lehren des Dramas um Ex-Bundesfamilienministerin Anne Spiegel und über die Chancen, die sich aus dem besonderen Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine ergeben.
ntv.de: Frau Touré, Sie treten am 8. Mai zusammen mit Finanzministerin Monika Heinold als Spitzenkandidatinnen der Grünen zur Landtagswahl in Schleswig-Holstein an. Hat der dramatische Abgang von Anne Spiegel bei Ihnen Zweifel geweckt, ob sie sich ein Regierungsamt überhaupt antun wollen?
Aminata Touré: Ich kämpfe sehr dafür, dass keine Regierung an uns vorbei gebildet werden kann. Ich bin als Spitzenkandidatin angetreten, weil ich mir darüber im Klaren bin, dass ich im Fall einer Regierungsbildung Ministerin werden könnte und das auch möchte. Aber schon die Bundestagswahl und die Härte, die Annalena Baerbock dort erlebt hat, die hat was mit jeder Frau gemacht, die politische Verantwortung übernehmen möchte.
Aminata Touré ist Vize-Präsidentin des Landtags von Schleswig-Holstein. Die 29-Jährige wird 1992 in Neumünster geboten, wohin ihre Eltern nach einem Militärputsch aus Mali geflohen sind. In ihren ersten fünf Lebensjahren lebt die Familie in einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete. 2017 kandidiert Touré für den Landtag, verpasst den Einzug knapp und rückt nach, als Monika Heinold Finanzministerin wird. Die Fraktionssprecherin für Migration und Flucht, Antirassismus, Frauen und Gleichstellung, Queerpolitik, Religion sowie Katastrophenschutz & Rettungsdienst tritt zur Wahl am 8. Mai zusammen mit Heinold als Spitzenkandidatin an.
Sagt der Fall Spiegel etwas darüber aus, wie zugänglich die hohen Ebenen der Politik für jüngere Frauen sind?
Der Fall Anne Spiegel ist komplexer. Es geht nicht nur um diese Frage. Die Härte, die man erfährt, macht vor allem auch etwas mit denjenigen, die sich ohnehin nicht an diesen Positionen sehen und die denken: Das würde ich persönlich so nicht aushalten können.
Welche Konsequenzen ließen sich daraus ableiten?
Es gibt eine grundsätzliche Härte in der Politik, über die man diskutieren muss - etwa die Arbeitszeiten und den öffentlichen Druck. Ich habe das in den letzten Jahren selbst erlebt in meiner Antirassismus-Arbeit, wo ich viel Hass erfahren habe. Bizarrerweise hat mich das aber auch vorbereitet auf den Wahlkampf und all das, was noch kommen könnte. Ich glaube, man muss über diese Dinge offen sprechen können und braucht Strukturen in Parteien und Politik, an die man sich wenden kann, wo man Unterstützung erfährt und dann auch für sich weiß: bis hierhin und nicht weiter.
Wie bewerten Sie im Moment die Chancen, dass die Grünen in Monika Heinold tatsächlich die nächste Ministerpräsidentin in Schleswig-Holstein stellen?
Die letzten Umfragen sehen uns entweder auf Platz zwei oder drei. Da ist also noch Luft nach oben, wenn wir das erreichen wollen. Dafür geben wir alles.
Für eine grün-geführte Landesregierung ist eine Ampel mit SPD und FDP als Juniorpartner die einzig realistische Option?
Das könnte eine Option werden, aber wir reden erst im Mai über mögliche Konstellationen. Wir kämpfen für uns selbst und werden dann bereit sein.
Umfragen zufolge könnten Sie auch Juniorpartner in einem schwarz-grünen Bündnis werden.
Das ist in den Umfragen die zweitbeliebteste Konstellation nach dem Jamaika-Bündnis. Das macht uns auch froh, weil die Leute definitiv sehen, was wir in der Koalition alles gemacht haben. Das ist nicht selbstverständlich. Aber wir legen uns im Vorfeld nicht fest, nicht auf die CDU, die SPD oder FDP. Mit dem Kurs der Eigenständigkeit sind wir in Schleswig-Holstein bislang immer gut gefahren.
Vor allem die Energiepreise bereiten den Menschen derzeit Sorgen, während weite Teile Ihrer Landespartei den geplanten Bau des Flüssiggasterminals (LNG) ablehnen und das auch in Ihrem Wahlprogramm verankert haben. Kostet Sie das Sympathiepunkte beim Wähler?
Monika Heinold und ich haben uns auf dem Parteitag für LNG als Übergangstechnologie ausgesprochen. Wir wussten, dass hier wahrscheinlich ein LNG-Terminal gebaut wird - und das mit grüner Beteiligung im Bund durch Robert Habeck aus Schleswig-Holstein. Der Angriffskrieg in der Ukraine hat die energiepolitische Situation in Europa auf den Kopf gestellt. Wir müssen uns unabhängig vom fossilen Tropf Putins machen, auch wenn dies schwierige Entscheidungen für uns als Grüne bedeutet. Daher haben Monika und ich den Bau eines wasserstofffähigen LNG-Terminals in Schleswig-Holstein befürwortet. Auf dem Parteitag gab es dafür keine Mehrheit. Im Wahlkampf hat das Thema aber nicht die Riesenrolle gespielt.
Schleswig-Holstein trägt gemessen an der Landesfläche überproportional zur Energiewende bei. Die Menschen müssen viel öfter mit dem Anblick von Windrädern leben als anderswo. Erwarten Sie, dass die Bundesregierung hier auch einmal einen Konflikt mit anderen Ländern eingeht, damit alle ihren Anteil am Ziel von zwei Prozent Fläche für Windkraft leisten?
Die müssen ihren Anteil leisten. Ich verstehe nicht, wenn man diese Verantwortung nicht bei sich sieht. Ich bin Landespolitikerin in Schleswig-Holstein und ich stelle mir trotzdem jeden Tag die Frage: Welchen Beitrag können wir leisten? Wenn die Bundesländer blockieren, wird es nicht funktionieren. Deswegen muss Bayern auch die ausgestreckte Hand von Robert Habeck annehmen. Wenn wir einen Beitrag zur Energie-Souveränität leisten können als Bundesländer, dann ist es unsere verdammte Verantwortung, das zu tun.
Haben Sie noch Hoffnung, dass die Länder einen Kompromiss finden, mit dem die zwei Prozent Gesamtfläche für Windenergie zu erreichen sind? Oder muss es der Bund von oben durchsetzen?
Ich hoffe, dass wir das in einem guten Austausch miteinander hinbekommen werden. Ich glaube, dass gerade das Osterpaket mit seinen Reformen, die wirklich gut formuliert worden sind, es den Bundesländern ermöglicht, das zu tun. Im Zweifel müssen wir da hart drum ringen und dann ist es die Aufgabe von Bund und Bundesländern, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, die anderen davon zu überzeugen.
Neben der Energiefrage erreicht Deutschland der Ukrainekrieg auch in Form von Hunderttausenden Menschen, die aus dem Land flüchten. Wie bewerten Sie den Kompromiss zwischen Bund und Ländern zum Umgang mit den Menschen aus der Ukraine?
Wir sind ganz zufrieden mit der finanziellen Aufteilung, auch mit der Tatsache, dass die Menschen aus der Ukraine Sozialleistungen und Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Es geht dabei um wesentlich mehr: Wir haben in Deutschland Bedingungen, die es für geflüchtete Menschen schwierig machen, in Deutschland anzukommen - sich die Kommune auszusuchen, in der sie leben wollen, einen Bundessprachkurs machen zu können, ihre Bildungsabschlüsse anerkannt zu bekommen und Zugang zum Arbeitsmarkt zu kriegen. Vor diese Probleme stellen wir die Menschen aus der Ukraine nicht und das ist gut.
Aber?
… aber wir müssen das für alle Menschen hier organisieren. Es werden immer Menschen zu uns kommen und die meisten werden bleiben. Wir haben es aber politisch so gestaltet, dass es für Menschen schwer ist, die Sprache zu erlernen, ihren Abschluss anerkannt zu bekommen und einem Job nachzugehen. Das derzeitige Momentum zeigt, wir könnten es für alle so regeln und das müssen wir auch.
Was bedeutet das für Ihr Bundesland?
Wir sind immer dabei, die Realitäten zu kitten, deren Rahmen durch Bundesgesetzgebung gesteckt wird. Der Bund ermöglicht es nicht allen Geflüchteten, an einem Sprachkurs teilzunehmen. Also organisieren alle Bundesländer eigene Sprachkurse, die haben aber nicht die gleiche Qualität wie die Bundesintegrationskurse. Wir haben Gruppen, die sind seit eineinhalb Jahren in den Landesunterkünften, weil ihnen eine schlechte Bleibeperspektive attestiert wird. Wir haben Leute, die ein Arbeitsverbot kriegen. Das macht gar keinen Sinn, einerseits volkswirtschaftlich und es macht für die Biografien der Menschen überhaupt keinen Sinn. Meine Eltern haben das genauso erlebt: Die haben nach 20 Jahren ihren Abschluss anerkannt bekommen. Das ist Irrsinn, weil dadurch ein Rattenschwanz entsteht: Die Menschen bekommen nur schlechte Jobs, sind weiter auf Sozialhilfe angewiesen und das wird dann als Beleg angeführt, dass sie sich nicht integrieren wollten. Deshalb erwarte ich vom Bund diese Weichen jetzt für viele Menschen zu stellen.
Ist es nicht zynisch, dafür zu werben, dass Deutschland vom Ukrainekrieg profitieren könnte, weil diese geflüchteten Menschen unsere Fachkräftekrise mildern könnten?
Es ist für mich nicht die zentrale Frage, zu sagen, aus wirtschaftspolitischen Gründen mache es Sinn, die Leute hier zu integrieren. Sondern man muss es von den Menschen selbst denken. Und deswegen versuche ich das auch ganz oft anhand der Biografien meiner eigenen Eltern zu beschreiben. Da geht es darum, welches Selbstbild habe ich, wenn ich in einem Land lebe, wo ich mich im Niedriglohnsektor befinde, obwohl ich im Herkunftsland beispielsweise studiert habe? Welche Rolle spielen diese Menschen in einer Gesellschaft? Das sind für mich die zentralen Fragen. Und da haben wir sehr viele Menschen, die aus unterschiedlichen Regionen der Welt kommen und ein Potenzial haben, das sie entfalten wollen. Zusätzlich ist es aber auch noch volkswirtschaftlicher Irrsinn, den Menschen das zu verwehren.
Das Gespräch mit Aminata Touré führte Sebastian Huld
Quelle: ntv.de