Das Massaker von Celle Im Untergang mordeten die Deutschen weiter


Die Überlebenden des Massakers von Celle werden danach ins Konzentrationslager Bergen-Belsen gebracht. Dieses wird kurz darauf von Briten befreit - die Bilder von den dortigen Zuständen machen.
(Foto: picture alliance / akg-images)
Endphaseverbrechen werden nationalsozialistische Gräueltaten kurz vor Kriegsende genannt. Täter sind nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten, ja selbst Jugendliche. Ein Beispiel ist das Massaker von Celle vor 80 Jahren. Dabei werden erbarmungslos geflohene KZ-Häftlinge gejagt.
Der Zweite Weltkrieg ist nicht arm an Kriegsverbrechen. In den fast sechs Jahren, in denen Europa und andere Teile der Welt verwüstet werden, gibt es viele Massaker, Gräueltaten und Morde. Die Opfer sind oft Zivilisten. Selbst in den letzten Momenten des Krieges hört diese Brutalität nicht auf.
In den Monaten, Wochen und Tagen vor Kriegsende, teilweise sogar danach, sterben zahllose Menschen bei sogenannten Endphaseverbrechen. Gemeint sind damit Massaker und Morde im nationalsozialistischen Deutschland. Die Opfer sind Häftlinge, die die zunehmend chaotischen Zustände zur Flucht nutzen, KZ-Insassen und Zwangsarbeiter auf Todesmärschen oder Zivilisten und Soldaten, denen "Wehrkraftzersetzung" oder Fahnenflucht vorgeworfen werden.

Ein Denkmal mit Gedenktafel erinnert heute an die Opfer des Massakers von Celle.
(Foto: Wikimedia / gemeinfrei)
Ein Beispiel ist das Massaker von Celle am 8. April 1945. Einen Monat vor Kriegsende sterben dabei mindestens 170 KZ-Häftlinge. Sie kommen aus dem Außenlager Salzgitter-Drütte und sollen von der SS mit dem Zug ins Konzentrationslager Bergen-Belsen gebracht werden. Auch Häftlinge des Lagers Salzgitter-Bad und aus dem KZ-Außenlager Holzen sind darunter. Viele von ihnen sind Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Insgesamt befinden sich bis zu 4500 Männer, Frauen und Jugendliche in dem Zug.
Am Nachmittag des 8. April steht der Zug mit den Menschen wegen eines technischen Problems auf dem Güterbahnhof von Celle. Er soll am Abend weiterfahren, doch dazu kommt es nicht. Denn bei einem alliierten Luftangriff auf die Stadt wird auch der Zug getroffen. Wie viele der Gefangenen direkt umkommen, ist unklar, die Schätzungen schwanken zwischen Hunderten und mehreren Tausend Opfern, der Hälfte der Insassen. Zahlreichen Menschen gelingt aber auch die Flucht aus dem Zug.
Eine Zeitzeugin berichtet
Joanna Fryczkowska ist eine von ihnen. Sie war 1944 während des Warschauer Aufstands zusammen mit zwei Freundinnen verhaftet und ins Konzentrationslager Ravensbrück gebracht worden. Im September 1944 wird sie nach Salzgitter-Bad verlegt, wo sie Zwangsarbeit bei der Produktion von Granathülsen leisten soll. "Wir haben versucht, das zusammen durchzustehen", sagte sie über diese Zeit. Bei einer Gedenkveranstaltung vor zehn Jahren sprach sie über die Bombardierung des Zuges, in dem auch sie sich befand. Die Deutschen hätten die Waggontüren geöffnet und seien geflohen, erklärte Fryczkowska. Die Ereignisse waren für sie "völlig unverständlich, weil das Kriegsende in Sicht war".
In Celle, wie bei anderen Endphaseverbrechen, sind die Täter fanatische Nationalsozialisten, die auch im Angesicht des Untergangs ihrer Ideologie folgen. Dazu zählen Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen wie Gestapo und SS, die KZ-Insassen nicht dem Feind überlassen wollen, sie lieber auf der Flucht vor den vorrückenden Alliierten in den Tod treiben. Doch auch Soldaten der Wehrmacht, Mitglieder von Volkssturm oder Hitlerjugend und unorganisierte Zivilisten beteiligen sich an den Verbrechen.
Celler Bürger beteiligen sich
So durchkämmen auch in Celle Mitglieder der Polizei, einer Wehrmachtskompanie und einer SS-Einheit sowohl das Stadtgebiet als auch nahegelegene Wälder. Sie wollen die Häftlinge wieder einfangen. Später werden sie von Mitgliedern des Volkssturms und der Hitlerjugend unterstützt. Etliche Celler Bürger helfen aktiv mit, indem sie etwa Geflohene den Truppen ausliefern - oder zu Selbstjustiz greifen.
Der Bevölkerung wird erklärt, die Häftlinge stellten eine Bedrohung dar. Plünderer oder diejenigen, die Widerstand leisten oder flüchten wollen, sollen deshalb sofort erschossen werden. Noch in der Nacht werden die Gefangenen, die wieder gefasst wurden, auf einem Sportplatz versammelt. Doch an mehreren Orten artet die Suchaktion in Massaker aus. Etliche Häftlinge werden erschossen oder erschlagen, viele geradezu hingerichtet.
Der Zeitzeuge Adolf Völker schildert das 1985 in einem Beitrag des NDR: "Da bauten sich Soldaten in unseren Vorgärten auf zu einer Schützenkette. Diese Schützenkette hat die Häftlinge vor sich hergetrieben, die sich in den Gärten versteckt haben, und von beiden Seiten wurde mit Karabinern auf die geschossen, wenn die zur Seite weglaufen wollten."
Mindestens 170 Menschen fallen dem Massaker zum Opfer - Schätzungen zufolge sind es zwischen 200 und 300. Mehr als 1000 der geflohenen Häftlinge werden erneut gefangengenommen. Einen Teil der Überlebenden führt die SS auf einem Todesmarsch ins Konzentrationslager Bergen-Belsen, wobei weitere Menschen sterben. Von den etwa 4000 Häftlingen, die den Transport ursprünglich angetreten hatten, kommen nur 500 in Bergen-Belsen an. Wie viele den Krieg überleben, ist unklar. Joanna Fryczkowska ist eine von ihnen.
Nur wenige Täter werden verurteilt
Mehrere Hundert Häftlinge, die bei dem Massaker verletzt wurden, verbleiben derweil in einer Celler Kaserne. Als die Briten wenige Tage später, am 12. April, die Stadt kampflos übernehmen, entdecken sie die verwahrlosten Menschen, von denen einige im Sterben liegen oder bereits tot sind. Niemand hat sich um sie gekümmert.
Später wird das Massaker als "Celler Hasenjagd" verharmlost, auch noch lange nach Kriegsende. Der Begriff bezieht sich auf Aussagen von Zeugen, dass fliehende Häftlinge im Zickzack über Felder gelaufen seien. Immerhin kommen einige der Täter vor Gericht, wenn auch nur 14. Im "Celle Massacre Trial" werden drei Angeklagte zum Tode verurteilt - später wird dies in Haftstrafen umgewandelt. Vier Angeklagte werden zu vier bis zehn Jahren Haft verurteilt, sieben werden freigesprochen. Alle Verurteilten werden bis spätestens 1952 aus der Haft entlassen.
Eine wirkliche Aufarbeitung des Massakers gibt es lange nicht, sie beginnt erst in den 80er Jahren. 1992 wird zwischen Bahnhof und Innenstadt ein Denkmal für die Opfer errichtet. 80 Jahre nach den Gräueln wollen auch Celler Bürger an sie erinnern: Am 8. April sind ab 17 Uhr zwei Schweigewege vom Neustädter Holz und vom Güterbahnhof geplant, organisiert vom Bündnis "Netzwerk Südheide gegen Rechtsextremismus". Gemeinsamer Treffpunkt ist dann das Mahnmal an der Trift.
Quelle: ntv.de