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Historiker Piper zum 27. Januar "Auschwitz übersteigt jedes menschliche Vorstellungsvermögen"

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Das Lagertor von Auschwitz-Birkenau kurz nach der Befreiung im Februar/März 1945.

Das Lagertor von Auschwitz-Birkenau kurz nach der Befreiung im Februar/März 1945.

(Foto: picture alliance / AP)

Der 27. Januar ist in Deutschland der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. An jenem Tag 1945 befreite die Rote Armee das NS-Lager Auschwitz. Doch wie steht es um die Erinnerung an die NS-Verbrechen 80 Jahre danach? Im Interview mit ntv.de spricht der Historiker Ernst Piper über die Bedeutung des Gedenktages, das Aussterben der Überlebenden und Herausforderungen eines zukünftigen Gedenkens. "Es liegt in der Natur der Sache, dass die Überlebenden immer weniger werden und irgendwann sterben - aber deswegen werden wir unser Gedenken nicht einstellen", sagt der Historiker. "Heute gibt es viele mediale Möglichkeiten, die Kommunikation aufrechtzuerhalten - für den Zeitpunkt, an dem die Überlebenden nicht mehr leben."

ntv.de: Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das NS-Lager Auschwitz. Was haben die Soldaten vorgefunden?

Ernst Piper: Es war sehr kalt am 27. Januar 1945. Unter einer dichten Schneedecke lagen mehrere Hundert Tote, die niemand beerdigt hatte. Außerdem die Trümmer der gesprengten Krematorien. Es gab noch große Mengen an Kleidung und Tonnen von bereits zum Transport verpacktem Frauenhaar, das nicht mehr abtransportiert worden war. Das Stammlager, das aus Steinbauten bestand, war unversehrt. Aber auch die Baracken in Birkenau waren fast alle noch vorhanden. Dort hausten einige Tausend Menschen, die nicht auf den Todesmarsch geschickt worden waren. Die Lager-SS hatte eigentlich die Anweisung, sie alle zu ermorden. Dazu war es aber nicht gekommen. Die SS-Männer hatten lieber die Flucht ergriffen. Die SS hatte sich auch bemüht, alle Akten zu vernichten, dabei aber die Bauakten übersehen. Sie wurden von den Sowjets konfisziert und in ein Geheimarchiv in Moskau gebracht, was erst nach 1990 bekannt wurde.

Warum ist der 27. Januar in Deutschland der Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus?

Viele Menschen assoziieren, wenn sie an den Holocaust denken, zuallererst Auschwitz. Obwohl es als Vernichtungslager erst 1944 eine wirklich wichtige Rolle gespielt hat, ist es das Symbol der Shoah. Dort ist noch vieles erhalten, man kann den Ort besuchen. Außerdem ist Auschwitz in den Schriften der Überlebenden überaus prominent, während es aus den reinen Vernichtungslagern kaum Zeugnisse gibt. Deshalb wurde der Jahrestag der Auschwitz-Befreiung zum Gedenktag. 1996 hatte der damalige Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erklärt. Als Zeichen der Erinnerung werden die Flaggen an öffentlichen Gebäuden auf Halbmast gehisst. Zudem gibt es eine Gedenkstunde im Deutschen Bundestag, die in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu diesem Datum stattfindet. Diese Gedenkstunden sind immer wieder eindrucksvolle Ereignisse.

Inwiefern eindrucksvoll?

In den vergangenen Jahren haben sich die Organisatoren der Gedenkstunden im Deutschen Bundestag sehr bemüht, die Bandbreite nationalsozialistischer Verbrechen und deren Opfer abzubilden. 2011 sprach Zoni Weisz, als erster Vertreter der Sinti und Roma, bei der Gedenkstunde. 2023 stellte der Bundestag verfolgte sexuelle Minderheiten in den Mittelpunkt der Gedenkstunde. Ich finde diese Entwicklung sehr positiv.

Bei der Gedenkstunde am 29. Januar 2025 wird Roman Schwarzman als Holocaust-Überlebender aus Odessa in der Ukraine eine Rede halten. Welches Zeichen wird damit gesetzt?

Es ist sicher kein Zufall, dass in diesem Jahr eine Person aus der Ukraine eingeladen wurde. Ich finde es sehr gut. Um auch hier noch mal ein Zeichen zu setzen, dass wir an der Seite der Ukraine stehen. Der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, hat zu Recht immer wieder öffentlich darauf hingewiesen, dass die Ukraine im Zweiten Weltkrieg einen sehr hohen Blutzoll gezahlt hat. Problematisch ist, dass die Opfer-Übersichten der aktuellen Forschung, wie der Enzyklopädie des Holocaust, gar keine ukrainischen Juden kennen. Es gibt nur sowjetische Juden. Die ukrainischen Juden machen aber einen großen Anteil der sowjetischen Juden aus. Insofern ist es sehr gut, dass Roman Schwarzman am 29. Januar in den Deutschen Bundestag kommt, um über die NS-Verbrechen in der Ukraine und den "Holocaust der Kugeln" zu sprechen.

Was war der "Holocaust der Kugeln"?

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Heute können wir ziemlich genau sagen, dass Nationalsozialisten sechs Millionen Juden ermordet haben. Die Hälfte ist in Lagern vergast worden, überwiegend mit Kohlenmonoxid, in Auschwitz mit Zyklon B. In den besetzten Gebieten der Sowjetunion gab es keine Lager. Einsatzgruppen, Wehrmacht und SS erschossen die Menschen an Ort und Stelle. An weit über tausend Orten in Osteuropa gab es Massenerschießungen, die bekannteste in der Schlucht von Babyn Jar, in der Nähe von Kiew, wo in zwei Tagen mehr als 33.000 Menschen ermordet wurden. Auch hier gilt, dass, solange die Sowjetunion bestand, das Interesse am Schicksal der jüdischen Minderheiten in den Ostblock-Staaten - vorsichtig formuliert - nicht besonders ausgeprägt war. Es passte nicht zum sowjetischen Opfernarrativ vom "Großen Vaterländischen Krieg" gegen den Faschismus. Erst nach dem Ende des Ostblocks, nachdem die Ukraine wieder ein eigener Staat geworden war, konnten die NS-Massenerschießungen in der Ukraine erforscht und mit deutscher Unterstützung Erinnerungszeichen errichtet werden.

Ernst Piper lebt in Berlin und ist apl. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam.

Ernst Piper lebt in Berlin und ist apl. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam.

Inwiefern haben wir Deutschen eine besondere Verantwortung als Nachfahren der Tätergesellschaft?

Verantwortung im eigentlichen Sinne hat man nur für etwas, das man selbst getan hat. Das trifft für die übergroße Mehrheit der heute lebenden Deutschen in Bezug auf den Holocaust nicht mehr zu. Sie können aber einen Beitrag dazu leisten, dass ein solches Geschehen sich nicht wiederholt. Für die Gemeinschaft der Deutschen, die, wenn nicht in der Nachfolge der Täter, doch jedenfalls in der Tradition der deutschen Geschichte stehen, gilt deshalb, dass es zur Erinnerung an Auschwitz keine Alternative gibt.

Bei den vergangenen Gedenkstunden waren fast immer Überlebende als Gastredner eingeladen. Welche Bedeutung haben die Zeitzeugen für das Erinnern?

Zeitzeugen sind wichtig. Die Rekonstruktion der Realgeschichte ist nicht ihre Aufgabe, dafür gibt es die historische Forschung. Die Zeitzeugen sind nicht für die Außen-, sondern für die Innenansicht des Geschehens zuständig. Holocaust-Überlebende haben dabei vielleicht eine etwas größere Bedeutung als Zeitzeugen anderer historischer Ereignisse. Das Geschehen in der Hölle von Auschwitz übersteigt jedes menschliche Vorstellungsvermögen. Und da kann es hilfreich sein, wenn jemand darüber spricht, der es selbst er- und überlebt hat. Wir sind sehr lange mit vielen Zeitzeugen gesegnet gewesen. Das hat einen biologischen Grund.

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Welchen genau?

Die absolut unmenschlichen Existenzbedingungen in den Lagern haben am ehesten junge Menschen überlebt. Viele waren 1945 erst um die 20 Jahre alt. Und deshalb sind auch 80 Jahre danach noch einige von ihnen am Leben. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Überlebenden immer weniger werden und irgendwann sterben - aber deswegen werden wir unser Gedenken nicht einstellen.

Wie können wir ohne Überlebende weiter gedenken?

Heute gibt es viele mediale Möglichkeiten, die Kommunikation aufrechtzuerhalten - für den Zeitpunkt, an dem die Überlebenden nicht mehr leben. Wir haben eine Fülle an großartigen Büchern. Über Auschwitz gibt es eine ganze Bibliothek. Dort waren viele berühmte Menschen inhaftiert, wie Elie Wiesel, Ruth Klüger oder der Nobelpreisträger Imre Kertesz. Jedes dieser Schicksale ist einzigartig. Und es gibt Spielfilme, Serien und Dokumentarfilme. Wie zum Beispiel die Geschichte um Oskar Schindler, die Steven Spielberg in "Schindlers Liste" verfilmt hat. Das Wichtigste, was wir aus diesem Film lernen können, ist: Wenn einer nicht mitmacht und sich dem Regime entgegenstellt, kann er etwas erreichen. Zuletzt hat "The Zone of Interest" das Geschehen in Auschwitz wieder in das Bewusstsein der Menschen geholt. Zudem haben wir sehr viele Videoprotokolle. Allein die von Steven Spielberg gegründete Survivors of the Shoah Visual History Foundation hat über 50.000 Interviews mit Überlebenden geführt. Überliefert sind sogar Aufzeichnungen von Menschen, die nicht überlebt haben.

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Welche?

Denken Sie an Salmen Gradowski, einen polnischen Juden, der 1942 nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde, dort im Sonderkommando zugeteilt und am 7. Oktober 1944 beim Aufstand der Mitglieder des Sonderkommandos ermordet wurde. Mithilfe von anderen Häftlingen konnte er seine Erfahrungen in einem geheimen Tagebuch aufschreiben - das nach einer langen Irrfahrt jetzt vor wenigen Jahren ediert wurde. Es gibt viele Möglichkeiten, sich intensiv mit dem Holocaust auseinanderzusetzen und sich ein Bild zu machen - zumindest, wenn jemand das möchte. Da mache ich mir keine großen Sorgen. Wir haben beste Chancen, dass der Holocaust auch für nachwachsende Generationen begreifbar bleibt. Das sind die Menschen, auf die es ankommt. Meine Bücher schreibe ich nicht so sehr für 70-Jährige - also für meine Altersklasse -, sondern für junge Menschen - die, die unsere Demokratie weiterhin mit Leben erfüllen sollen.

Jeder zehnte junge Deutsche hat einer Umfrage im Auftrag der Jewish Claims Conference zufolge noch nie etwas vom Holocaust gehört. Inwiefern sind jüngere Generationen "geschichtsmüde"?

An diese These von der Geschichtsmüdigkeit würde ich ein großes Fragezeichen machen. Schauen Sie sich doch die Besucherzahlen der Gedenkstätte Auschwitz an: 2024 besuchten 1,83 Millionen Menschen die Gedenkstätte. 2022 waren es coronabedingt nur 1,2 Millionen und 2023 schon wieder 1,67 Millionen. Dass es 2024 weiter bergauf ging, zeigt, dass wir die 2 Millionen wieder erreichen und vermutlich auch wieder überschreiten werden. Die Authentizität des Ortes spricht für sich. Auch das Haus der Wannseekonferenz oder die Gedenkstätte in Dachau besuchen jedes Jahr mehrere Hunderttausend Menschen. Das wird mehr und nicht weniger. Meine Erfahrung ist, dass es gar nicht so schwierig ist, junge Menschen für Geschichte zu begeistern. Das Interesse ist groß. Es äußert sich nur nicht immer in den gewohnten Formen.

Und was ist mit den sozialen Medien?

Soziale Medien sind sowohl eine Gefahr als auch eine Chance in der Vermittlung des Holocaust. Einerseits halte ich Instagram-Profile, auf denen Menschen Anne Frank oder Sophie Scholl zum Geburtstag gratulieren können, für ziemlichen Blödsinn. Aber wie sagen die Betriebswirtschaftler so schön: Wir müssen den Kunden da abholen, wo er ist. Und, wenn viele junge Menschen auf Tiktok sind, dann müssen wir genau dort versuchen, mit vernünftigen Informationsangeboten gegen rechte und populistische Inhalte gegenzuhalten.

Was wären vernünftige Informationsangebote?

Ein gutes Beispiel ist der Tiktok-Account der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main. Es ist sehr verdienstvoll, dass die Bildungsstätte sich in diese Auseinandersetzung begibt.

In der Gegenwart, rund einen Monat vor den Bundestagswahlen, liegt die AfD laut RTL/ntv-Trendbarometer als zweitstärkste Partei bei rund 20 Prozent. Inwiefern droht Deutschland bald ein neues 1933?

Wir stehen nicht vor einer neuen Machtergreifung. Da bin ich mir sicher. Aber wir müssen uns umschauen und erkennen, was um uns herum in Italien, in Ungarn, in den Niederlanden oder in den USA passiert. In den Debatten vermisse ich oft diesen Weitblick. Wir leben in einer Zeit, in der die Staatsform Demokratie stark unter Druck geraten ist und es starke Tendenzen zu autoritären Regierungen gibt. Aber wir stehen heute vor anderen Herausforderungen als damals.

Und wie erreichen wir diejenigen, die Parteien wie die AfD wählen?

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Ich engagiere mich seit Jahrzehnten als Vorstandsmitglied bei "Gegen Vergessen - Für Demokratie e. V." politische Bildung, einem führenden nationalen Bildungsträger in diesem Bereich. Der Verein produziert eine Fülle von Angeboten, die Online-Beratung gegen Rechtsextremismus, Seminare und Workshops, Handreichungen für den schulischen Unterricht, etc. Unser neuestes Angebot richtet sich an Menschen in ehrenamtlichen Funktionen. Wir versuchen hier niedrigschwellig an die Menschen heranzutreten, in kleineren Gemeinden etwa an den Kassenwart des Anglervereins, Menschen, die Dorffeste organisieren, etc., und so mit den Menschen, die die Gemeinde bilden, ins Gespräch zu kommen. In einer Demokratie darf und soll jeder mitreden. Und es wäre fatal, wenn die Menschen den Eindruck gewinnen, dass man sich nicht für sie interessiert. Bei den etablierten Parteien gibt es derzeit eine solche Repräsentationslücke. Und Menschen, die das Gefühl haben, dass die etablierte Politik sie ignoriert, sind leichte Beute für die AfD.

Mit Ernst Piper sprach Rebecca Wegmann

Quelle: ntv.de

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