Wenn die Bodenoffensive kommt Israelis befürchten, "hohen Preis" zahlen zu müssen
21.10.2023, 19:11 Uhr Artikel anhören
Rauch steigt auf nach einem israelischen Luftangriff auf Gazastadt. Ein Einmarsch in den Gazastreifen dürfte für die israelische Armee verlustreich sein.
(Foto: AP)
Viele Israelis rechnen mit einer Bodenoffensive der Armee gegen die Hamas. Ein Ex-Soldat, der selbst an Häuserkämpfen beteiligt war, sagt: "Ich befürchte, das Schlimmste kommt noch." Ein Ex-General warnt vor einer Besetzung des Gazastreifens.
Es war im Juni 1982, als israelische Streitkräfte in den Libanon eindrangen, um den anhaltenden grenzüberschreitenden Terroranschlägen ein Ende zu setzen. Die Operation "Frieden für Galiläa" vertrieb zwar die Palästinensische Befreiungsorganisation, doch der Krieg führte zu einem langwierigen Konflikt und verdeutlichte vor allem die Risiken einer Bodenoffensive. Erst im Mai 2000 zog sich Israel wieder zurück. Bei den letzten Waffengängen ging das Land eher zögerlich vor, wenn es um eine Bodenoffensive ging. Sowohl der zweite Libanon-Krieg 2006 als als auch der Gaza-Krieg 2014 wurden sehr verlustreich geführt.
"Die Situation ist dieses Mal anders," sagt Avi Sasson, ehemaliger Reiseleiter aus Metulla, nahe der libanesischen Grenze. "Israel wird entschlossen gegen die Hamas vorgehen. Wir werden einen hohen Preis zahlen. Außerdem droht ein Zwei-Fronten-Krieg." Der 66-Jährige kämpfte vor 30 Jahren als Infanteriesoldat im Libanon und war in Häuserkämpfe im dichtbesiedelten Ballungsgebiet Beiruts verwickelt. Als Zivilist demonstrierte er für den Rückzug aus dem Zedernstaat.
"Aus der Luft wird man den Feind nicht besiegen können," erklärt er. Er erwartet eine Bodenoffensive: "Die israelischen Streitkräfte werden einem höllischen Dickicht aus dicht gedrängten Gebäuden, aus Minen und Tunneln gegenüberstehen, während sie die Hamas jagen, die sich unter die Zivilbevölkerung mischt. Es ist eine prekäre Situation, die immenses menschliches Leid verursachen und andere Länder hineinziehen könnte. Ich befürchte, das Schlimmste kommt noch."
Viele Israelis glauben, dass die bevorstehenden Operationen zu den bedeutendsten in der Geschichte Israels gehören könnten. Zu den wahrscheinlichen Zielen gehört die Zerstörung aller verbliebenen Raketen der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihads sowie all ihrer Tunnel, Munitionslager, Waffenwerkstätten und ihrer Kommandoinfrastruktur. Um dies zu ermöglichen, werden die Streitkräfte dieses Mal wahrscheinlich den gesamten Gazastreifen besetzen und so viele Terroristen wie möglich beziehungsweise ihre Anführer töten oder gefangen nehmen müssen. Allem voran aber müssen sie die Geiseln lebendig befreien.
Ex-General will Gefangenenaustausch
Um das Leben der Geiseln zu retten, spricht sich Ex-General und Armee-Ombudsman Yitzhak Brick daher im israelischen Channel 12 am Donnerstag für einen Gefangenenaustausch aus. "Noch haben wir die Möglichkeit, sie lebendig zu bekommen. Israel sollte die von der Hamas geforderten 6000 Terroristen aus den Gefängnissen nach Gaza entlassen. Es ist besser, wenn sie in ihren Tunneln hausen anstatt in unseren Gefängnissen. Bei aktiver Terrorbeteiligung wären sie sogar ein legales Ziel."
Der Sicherheitsexperte erklärt die Schwierigkeit, eine Bewegung mit einer so bedeutenden Basis wie der Hamas auszulöschen. Um zivile Opfer zu vermeiden, sollte Israel nicht eine überstürzte Bodenoffensive starten, sondern zunächst die Logistik der Hamas austrocknen. "Die Terroristen wissen, dass Israel einmarschieren wird, und haben sich auf einen Guerillakrieg vorbereitet." Zwar fordert Brick den Sturz der Hamas, warnt aber vor der Wiederbesetzung des Küstenstreifens. "Die Säuberung der verteidigten Standorte würde kostspielige Verluste verursachen," sagt er. "Die Präsenz der israelischen Armee in bestimmten Gebieten - mit Kasernen und Grenzübergängen - würde ein weiteres Problem schaffen. Soldaten würden zu Hauptzielen für überlebende Terroristen, die sich unter der Zivilbevölkerung verstecken."
Experten erwarten, dass es nicht bei einem Einmarsch in den Gazastreifen bleibt, sondern auch zu einer Auseinandersetzung mit der Hisbollah im Norden kommt. Auch besteht die Gefahr eines regionalen Konflikts, der weit über den Nahen Osten hinausreichen könnte. Dies könnte Teil der iranischen Einkreisungsstrategie sein. So warnten die von Teheran unterstützten schiitischen Verbündeten im Irak und Jemen, dass bei einem direkten Eingreifen der USA in Gaza amerikanische Ziele in der Region angegriffen werden könnten. Bereits am Donnerstag schossen pro-iranische Milizen Raketen aus dem Jemen, die möglicherweise Israel zum Ziel hatten. Ein Kriegsschiff der USA fing sie im Roten Meer ab.
"Teheran verlässt sich auf seine Stellvertreter"
"Die Wahrscheinlichkeit einer direkten iranischen Militärbeteiligung ist unwahrscheinlich," sagt Raz Zimmt vom Institut für nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv. "Teheran verlässt sich auf seine Stellvertreter, obwohl es zuletzt eine Bereitschaft gezeigt hat, von Syrien aus direkte Offensivoperationen gegen Israel durchzuführen."
Laut dem Nahostexperten könnte Jerusalem die aktuelle Lage für einen Präventivschlag gegen die Hisbollah nutzen, um die Situation in Gaza und im Libanon neu zu gestalten. Dies würde den Iran in eine Zwickmühle bringen, denn ein Verzicht Teherans auf eine aktive Teilnahme könnte es Israel ermöglichen, die Hamas tödlich zu treffen. "Das Mullah-Regime steht vor einem Dilemma," sagt Zimmt. "Der Eintritt der Hisbollah in einen umfassenden Krieg mit Israel könnte die Fähigkeiten ihres wichtigsten strategischen Verbündeten gefährden. "Je länger und härter der Konflikt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Teheran eine Entscheidung treffen könnte, die zu einer weiteren regionalen Eskalation führen könnte."
Schon jetzt tritt der iranische Schattenkrieg mit Israel in eine neue Phase. Teheran hat über seine Stellvertreter wie die Hisbollah den jüdischen Staat empfindlich getroffen. Außerdem hat es die Palästinenserfrage wieder auf die internationale Agenda gebracht und Normalisierungsbemühungen zwischen Israel und Saudi-Arabien gestört.
"Das jüdische Volk kämpft um sein Überleben"
"Dies könnte ein langer Konflikt werden," glaubt Avi Sasson aus Metulla in Nordisrael. "Die Bodenoffensive steht unmittelbar bevor. Natürlich müssen die einfachen Menschen geschützt werden, doch interessieren sich die NATO-Staaten durch ihre Waffenlieferungen an die Ukraine für die russische Zivilbevölkerung?"
Der ehemalige Reiseleiter fürchtet, dass Israel sich gezwungen sehen könnte, auch direkt gegen den Iran vorzugehen. Dessen nuklearen Bestrebungen seien eine Gefahr für den jüdischen Staat. "Zur iranischen Staatsdoktrin gehört die Vernichtung Israels," sagt Sasson. "Das jüdische Volk kämpft um sein Überleben. Es wird unser neuer Unabhängigkeitskrieg."
Quelle: ntv.de