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Rechtsexperte zu Regeln im Krieg Was darf Israel im Gazastreifen tun?

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Ein Trümmerfeld nach einem israelischen Luftangriff auf den Gazastreifen

Ein Trümmerfeld nach einem israelischen Luftangriff auf den Gazastreifen

(Foto: REUTERS)

Der Krieg Israels gegen die Terrororganisation Hamas hat keine Front, sondern findet auch in Wohngebieten statt, wo Zivilisten gefährdet werden. Wie dürfen die israelischen Streitkräfte da vorgehen? Was das Völkerrecht erlaubt und was nicht, erklärt der Rechtsexperte Christian Marxsen ntv.de. Er ist Professor für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin.

ntv.de: Herr Marxsen, diese Woche lagen Besatzung und Passagiere des deutschen Regierungsfliegers in Tel Aviv plötzlich flach auf dem Rollfeld, weil die Hamas weiterhin Raketen auf Israel feuert. Ist Israels Gegenschlag also nicht ein Akt von Vergeltung, wie Premier Netanjahu sagte, sondern von Selbstverteidigung?

Christian Marxsen ist Professor für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Christian Marxsen ist Professor für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Christian Marxsen: Zunächst mal ist vollkommen anerkannt und wird, soweit ich das wahrnehme, von niemandem infrage gestellt, dass wir es hier mit einem Angriff auf Israel zu tun haben. Der gibt dem Land definitiv ein Recht auf Selbstverteidigung. Es ist vollkommen völkerrechtskonform, wenn Israel sich verteidigt.

Nun stellt sich die Frage, wie Israel sich verteidigen darf. Erlaubt das Völkerrecht dem Angegriffenen, der faktisch in den Krieg gezwungen wurde, mehr als dem Angreifer? Hat man in Verteidigung mehr und andere Rechte?

Nein, da macht das Völkerrecht überhaupt keinen Unterschied. Im sogenannten humanitären Völkerrecht geht es darum: Was darf man im Krieg eigentlich tun? Ganz grundsätzlich und unabhängig davon, ob ein legitimer Kriegsgrund besteht oder nicht. Die Regeln gelten für alle Parteien gleichermaßen.

Und wenn ein Gegner sie fortwährend missachtet, muss der andere sich trotzdem danach richten?

Unbedingt. Die Hamas hat gezielt Zivilisten angegriffen, Geiseln genommen, Gräueltaten verübt. Sie schert sich offensichtlich nicht um völkerrechtliche Normen. Diese Kriegsverbrechen entbinden Israel nicht davon, sich ans Völkerrecht zu halten.

Eine der ersten Reaktionen der Israelis auf den Angriff der Hamas war, die Lieferung von Wasser und Strom einzustellen. Pro-israelisch wird argumentiert: Das waren Lieferbeziehungen und niemand ist verpflichtet, Strom oder Wasser an einen Gegner zu liefern. Was sagt das Völkerrecht dazu?

Wir haben hier einen militärischen Konflikt zwischen zwei Seiten, und wenn Israel den Palästinensern Wasser und Strom kappt, muss man das in diesen Kontext einordnen. Das betrachten wir nicht als einfache Handelsbeziehung, die Israel nun aussetzt, sondern als Maßnahme im Rahmen dieses Konflikts. Hier kommt es für eine rechtliche Bewertung nun darauf an, ob solch eine Blockade gegen die Hamas gerichtet ist und notwendig ist, um gegen diese vorzugehen. Unzulässig wäre sie jedenfalls als Maßnahme, die direkt auf die Zivilbevölkerung abzielt, also gegen diese gerichtet ist. Insbesondere darf Israel den Gazastreifen nicht "aushungern", also dauerhaft von Infrastruktur abschneiden. Anders würde es sich also verhalten, wenn etwa vorübergehend der Strom abgestellt wird, um ein konkretes militärisches Ziel gegen die Hamas zu erreichen. Das könnte völkerrechtlich zulässig sein. Dauerhaft aber nicht.

Ein wichtiges Prinzip des Kriegsrechts ist der "Unterscheidungsgrundsatz", Zivilisten nicht wie Soldaten zu behandeln. Im Ukrainekrieg ist klar: Vorn ist die Front, die Zivilisten sind im Hinterland. Im Krieg gegen die Hamas dagegen schwierig: Die Hamas hat keine Armee, sondern fährt als Terrorgruppe die Strategie, ihre Mitglieder, ihre Waffenlager und Kommandozentralen auf Kindergärten und Krankenhäuser zu verteilen. Wie kann Israel die Hamas völkerrechtskonform bekämpfen?

Durch die Aufforderung an die Zivilbevölkerung, bestimmte Teile des Gazastreifens zu verlassen, versucht Israel, eine Situation zu schaffen, in der es zielgerichtet dort vorgehen kann. Man versucht, die Zivilbevölkerung zu warnen und ist sich da seiner Pflichten gegenüber Zivilisten durchaus bewusst. Darüber hinaus dürfen sich israelische Selbstverteidigungshandlungen nur gegen militärische Ziele richten, also gegen Infrastruktur, die von der Hamas für Kriegszwecke verwendet wird.

Gerade für diese Aufrufe an Zivilisten, aus dem Norden Gazas in den Süden zu fliehen, wird Israel scharf kritisiert. Die UN sagen, 1,1 Millionen Menschen können sich nicht in so kurzer Zeit auf den Weg machen. Was sagt das Völkerrecht? Ist das Evakuierung oder, wie Kritiker sagen, Vertreibung?

Das humanitäre Völkerrecht regelt klar, dass eine Vertreibung der Zivilbevölkerung unzulässig ist. Allerdings kann eine Evakuierung auch gerade dann rechtlich geboten sein, wenn dies erforderlich ist, um die Zivilbevölkerung vor den Folgen eines Militäreinsatzes zu schützen. Wenn sich natürlich 1,1 Millionen Menschen in ein Gebiet in Bewegung setzen sollen, wo die Versorgung nicht sichergestellt ist, dann stellt sich die Frage, ob das noch verhältnismäßig ist. Denn das wird Leiden verursachen und die Beurteilung hängt dann davon ab, wie die Versorgungslage insgesamt ist und vor allem auch davon, wie lange diese Situation anhalten soll. Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen - das verlangt das Völkerrecht.

Verhältnismäßigkeit - ist dieser Begriff so dehnbar, wie er klingt?

Verlangt ist eine Abwägung und das ist in der Tat ein Vorgang, der nicht nur ein zulässiges Resultat hat. Allerdings ist das Ergebnis keineswegs beliebig. Nicht alles kann gerechtfertigt werden. Es gibt klare Fälle, in denen Verhältnismäßigkeit nicht mehr gegeben ist. Die Schwierigkeit ist bei allem aber, dass die Abwägung auf der Grundlage der konkreten Umstände erfolgt. Es müssen also die Fakten bewertet werden, die leider für außenstehende Beobachter oft nicht zugänglich sind. Insoweit haben wir ein fortwährendes Informationsdefizit.

Darf das Sonderkommando, das eine Geisel befreien will, mehr als die Truppe mit dem Ziel, ein Waffenlager auszuheben?

Bei der Abwägung kommt es auf den militärischen Vorteil an und die Befreiung von Geiseln fällt hier natürlich auch ins Gewicht. Aber grundsätzlich gelten dieselben Regeln für alle Lagen, und man muss jede einzelne Situation betrachten. Stehen die militärische Maßnahme und ihr Ziel in einem angemessenen Verhältnis zu den erwartbaren zivilen Schäden? Diese Frage gibt den Konfliktparteien erheblichen Spielraum für ihre Entscheidung. Denn das Völkerrecht erkennt an, dass es natürlich darum geht, den Krieg auch zu gewinnen, was kein ganz verlustfreier Vorgang ist. Ziel der Regeln ist es also nicht, zivile Schäden komplett zu unterbinden, sondern sie möglichst gering zu halten. In diesem Spannungsfeld bewegt sich das Ganze. Sehr schwierig wird es, wenn die Hamas Raketen vom Dach einer Schule oder einer Klinik abfeuert.

Dann wäre kein Gegenangriff möglich?

Dann muss man sehr genau hinschauen. Der Grundsatz ist, dass Krankenhäuser nicht angegriffen werden dürfen. Sie stehen unter besonderem Schutz des humanitären Völkerrechts. Allerdings kann dieser Schutz auch verwirkt werden, wenn zum Beispiel von der Klinik aus Raketen gestartet werden. Allerdings ist selbst dann eine Warnung erforderlich, dass ein Angriff erfolgen wird.

Wie verhält es sich mit anderen zivilen Gebäuden?

Angriffe müssen sich gegen Kombattanten oder gegen die militärische Infrastruktur des Gegners richtigen. Wenn sich im Gebäude ein wichtiges militärisches Ziel befindet, dann kann das einen Angriff rechtfertigen. Allerdings sind zivile Opfer so gut wie möglich zu vermeiden. Man kann etwa vorwarnen, damit sich die Zivilisten in Sicherheit bringen - zum Beispiel mit dem israelischen Vorgehen, zuvor mit einer sehr schwachen Bombe "anzuklopfen" und zu signalisieren, dass hier gleich ein Angriff erfolgen wird. Ein Problem beim humanitären Völkerrecht ist, dass sich die Einhaltung schwer überprüfen lässt. Zudem haben wir keine Gerichte, die darüber entscheiden.

Und wenn, wie es Israel vorgeworfen wird, ganze Häuserblocks ausgebombt werden?

Dann kommt es darauf an, wofür diese Häuserblocks genutzt wurden. Wenn sich dort eine Kommandozentrale der Hamas befand und keine oder nur geringfügige zivile Nutzungen oder wenn die Zivilbevölkerung vor einem Angriff gewarnt worden ist, dann wäre das mit humanitärem Völkerrecht vereinbar. Die Zivilbevölkerung darf aber niemals selbst zum eigentlichen Ziel eines Angriffs werden und unverhältnismäßige zivile Verluste sind ebenfalls völkerrechtswidrig. Sie sehen hier aber wieder die Schwierigkeit: von außen lassen sich diese Fragen nur äußerst schwer beurteilen, weil wir keine konkreten und belastbaren Erkenntnisse über die Nutzungen der Gebäude haben. Hier könnten nur gründliche Untersuchungen vor Ort helfen, die natürlich derzeit in Gaza unmöglich sind.

Mehrere NGOs melden israelischen Einsatz von Phosporbomben im Gazastreifen. Durch weißen Phosphor besteht die Gefahr, dass größere Brände verursacht werden. Wie sieht das völkerrechtlich aus?

Für bestimmte Waffen besteht ein ausdrückliches völkerrechtliches Verbot, zum Beispiel für Chemiewaffen. Für Phosphorbomben ist das nicht der Fall, sondern hier kommt es auf den konkreten Einsatz an. Da sich durch die Brandwirkung dieser Waffen ein Einsatz kaum begrenzen lässt, ist ein Einsatz durch Abwurf dieser Bomben aus der Luft immer unzulässig in Gebieten, in denen eine hohe Konzentration von zivilen Objekten besteht. Hier muss man also genau schauen, unter welchen Umständen der Einsatz erfolgte.

Ist es unter den gegebenen Umständen möglich, eine Art Zwischenbilanz zu ziehen? Durch Gräueltaten wird Israel bis ins Mark erschüttert und wehrt sich - zu Recht. Dabei ist das Völkerrecht einzuhalten. Wie gut gelingt das Ihrer Einschätzung nach derzeit?

Für eine Zwischenbilanz ist es meiner Meinung nach zu früh. Ein Urteil ist erst seriös möglich, wenn die Fakten von unabhängigen Institutionen aufgearbeitet worden oder doch jedenfalls glaubhaft von mehreren Seiten bestätigt sind. Derzeit ist leider alles in den - wie man im Englischen sagt - fog of war, also den Nebel des Krieges, gehüllt.

Mit Christian Marxsen sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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