"Eine Hand wäscht die andere" Ist Erdogan der Putin-Flüsterer?
11.11.2022, 18:01 Uhr
"Beide brauchen einander", sagt der türkische Außenpolitik-Experte Hüseyin Bagci über Erdogan und Putin.
(Foto: picture alliance / AA)
Fast alle westlichen Länder haben die offiziellen Gesprächskanäle nach Russland längst abgebrochen. Mit Wladimir Putin will sich kaum einer der Staats- und Regierungschefs an einen Tisch setzen. Recep Tayyip Erdogan sieht das anders: Der türkische Präsident hat einen guten Draht zum Kreml-Chef und gibt regelrecht damit an.
Im Juli vermittelt die Türkei ein Getreideabkommen zwischen Russland, der Ukraine und den Vereinten Nationen. Damit soll sichergestellt werden, dass Getreideschiffe einen sicheren Korridor über das Schwarze Meer haben, um die wichtigsten Lebensmittel aus der Ukraine heraus in die Welt zu schicken. Ende Oktober tritt Russland plötzlich vorzeitig aus dem Deal aus, wenige Tage später aber schon wieder ein. Hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine gute Beziehung zu seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin genutzt?
Aber erstmal der Reihe nach: Als Russland im Oktober aus dem Getreide-Abkommen aussteigt, begründet Moskau das mit den Drohnenangriffen auf russische Kriegsschiffe im Krim-Hafen von Sewastopol. Russland wirft der Ukraine vor, unter Anleitung britischer Spezialisten die Angriffe durchgeführt zu haben.
"Das Getreideabkommen ist ein indirektes Druckmittel, denn der Getreideexport ist eine der wenigen Krisenquellen für die Ukraine", sagte Militärexperte Gustav Gressel dazu bei ntv. "Der Krieg kostet die Ukraine etwa zwischen 30 und 40 Millionen Euro pro Tag. Wenn dieses Geld nicht mehr im Land erwirtschaftet werden kann, muss es halt von außen geliehen werden. Die Rechnung Putins ist, dass das dem Westen irgendwann zu viel wird."
Russlands Rückzieher vom Rückzieher
Merkwürdig wirkt in der Hinsicht das, was ein paar Tage später passiert: Putin macht den Rückzieher vom Rückzieher, tritt der Getreide-Vereinbarung wieder bei. Angeblich, weil die Ukraine über das ursprüngliche Abkommen hinaus neue Garantien gemacht haben soll. Nämlich, dass man den Korridor und die Häfen wirklich nur für die Ausfuhr von Lebensmitteln nutzen werde, heißt es aus Moskau. Kiew dementiert, dass man neue Garantien gegeben hat.
Bekannt ist, dass es vor der Einigung ein Telefonat zwischen Putin und Erdogan gab. Der türkische Staatschef sagte danach, dass Russland nur wegen seiner guten persönlichen Beziehung zu Putin zum Abkommen zurückgekehrt sei. Nur deshalb könnten über neun Millionen Tonnen Getreide von den ukrainischen Häfen aus in die Welt geschickt werden.
Rainer Munz, ntv-Russland-Korrespondent, sieht das anders. Putins Manöver sei keine direkte Reaktion auf Erdogan, vielmehr habe der Kremlchef eingesehen, dass der Weizendeal gar kein richtiges Druckmittel ist. "Was soll man denn tun, wenn die Ukraine in Zusammenarbeit mit der Türkei und der UNO trotzdem die Weizenschiffe fahren lässt? Will man sie versenken? Das war einfach nicht möglich. Und das hat man dann auch im Kreml gemerkt, es war eine Gesichtswahrungs-Aktion."
Erdogan bleibt derweil eisern bei seiner Version der Geschichte. Während Putin mit anderen Staats- und Regierungschefs gar nicht erst rede, habe er nach seinem Anruf "den Getreidekorridor sofort geöffnet", sagte Erdogan vorige Woche im türkischen Fernsehen.
Putins Charmeoffensive gegenüber der Türkei
Putin hat im Gegenzug die Türkei gelobt: Dank ihrer Vermittlung habe die Ukraine versprochen, in dem Schiffskorridor im Schwarzen Meer nicht gegen Russland zu kämpfen - sondern ihn nur für Getreidetransporte zu benutzen. Putin lobte explizit Erdogans Neutralität und wie er sich für ärmere Länder einsetze.
Diese Worte kommen nicht von ungefähr, schließlich ist die Türkei für Russland in letzter Zeit immer wichtiger geworden. Grund sind die westlichen Sanktionen gegen Moskau, an denen sich die Türkei als einziges NATO-Land nicht beteiligt.
Im August hatte Erdogan seinen Autokraten-Kumpel sogar in dessen Sommerresidenz in Sotschi besucht. Die beiden vereinbarten, ihre wirtschaftlichen Beziehungen sogar noch auszubauen. Die Türkei will außerdem der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) beitreten. Das ist eine Wirtschaftsunion mit Mitgliedern wie Russland, Iran, China oder Indien. "Das darf man aber auch nicht zu hoch hängen. Dieses Bündnis hat sehr unterschiedliche Interessen und viele interne Konflikte. Aber es sind 30 Prozent der Weltwirtschaft dort vereint. Das ist für die Türkei interessant. Und Erdogan braucht auch außenpolitische Erfolge, er will ja wiedergewählt werden", hat ntv-Korrespondent Munz dazu gesagt.
Russisch-türkische Zweckbeziehung
Für beide Staaten ist ihr Verhältnis eine Art Zweckbündnis. Für Russland liegen die wirtschaftlichen Vorteile auf der Hand. Die Türkei ist für Russland ein wichtiger Gasabnehmer, während sich die anderen Großkunden im Westen zurückgezogen haben. Durch Exporte aus der Türkei kann Russland zudem westliche Sanktionen zum Teil umgehen. Die Türkei importiert Waren aus anderen EU-Ländern, weil sie mit der Europäischen Union in einer Zollunion ist.
Tatsächlich könnten die boomenden Handelsbeziehungen für Putin zumindest ein nicht zu unterschätzender Grund gewesen sein, um beim Getreideabkommen einzulenken. Die türkischen Exporte sind im Oktober um 86 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, die Importe aus Russland haben sich sogar mehr als verdoppelt, heißt es vom Handelsministerium in Ankara.
Die Türkei ist ihrerseits auf Russland angewiesen. Voriges Jahr kamen die meisten Urlauber in der Türkei aus Russland, 19 Prozent. Dieses Jahr werden es deutlich weniger sein, die Türkei hofft aber darauf, das Minus einigermaßen einzudämmen. "Türkischen Quellen zufolge fehlen der Türkei in diesem Jahr knapp fünf Millionen Besucher aus Russland. Aber auch etwa zwei Millionen aus der Ukraine. Das trifft die Türkei schon relativ stark", hat Marco Gardini, Professor für Tourismus an der Hochschule Kempten, im ntv-Podcast "Wieder was gelernt" berichtet. Auch deshalb gibt es in der Türkei wenige Einschränkungen für Urlauber aus Russland.
Aus Russland kommen aber nicht nur Urlauber, sondern auch große Investitionen. Der russische Atomkonzern Rosatom baut derzeit ein milliardenschweres Atomkraftwerk im Süden der Türkei.
"Eine Hand wäscht die andere"
Generell sei Ankara für Moskau zu einer "wichtigen wirtschaftlichen Lebensader geworden", analysiert die "Financial Times". Gleichzeitig habe sich Erdogan zum "Friedensstifter" hochgespielt. "Eine Hand wäscht die andere. Beide brauchen einander", fasst es Hüseyin Bagci, Leiter des Instituts für Außenpolitik in Ankara, im Interview mit der US-Zeitung zusammen.
Putins enge Beziehungen zu Erdogan können ihm auch für den Kriegsverlauf in der Ukraine helfen. Weil der Kreml-Machthaber einen guten und stetigen Kontakt zu Erdogan pflegt, besitzt er eine "diplomatische Rettungslinie" hinein in die NATO, wie es die "Financial Times" treffend beschreibt. Die könnte noch wichtig werden für Putin, um die Ukraine mithilfe des Westens zu einer Verhandlungslösung zu bewegen. Denn mit seinem Angriffskrieg kann er derzeit, wie es aussieht, nichts anderes als Zerstörung erreichen.
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Quelle: ntv.de