Politik

Machtchancen nach Union-Absturz Parteien spielen "Reise nach Jerusalem"

Olaf Scholz, Annalena Baerbock, Christian Lindner - für alle drei eröffnet der Abrutsch der Union in den Umfragen  spannende Machtoptionen. Rot-Grün-Gelb, die "Ampel"-Koalition wäre eine davon.

Olaf Scholz, Annalena Baerbock, Christian Lindner - für alle drei eröffnet der Abrutsch der Union in den Umfragen spannende Machtoptionen. Rot-Grün-Gelb, die "Ampel"-Koalition wäre eine davon.

(Foto: picture alliance/dpa)

Das aktuelle Trendbarometer sieht die Union auf 23 Prozent abrutschen von vormals 26. Die SPD kann um drei Punkte zulegen auf 19 Prozent, die Grünen stehen stabil auf 20. Der herbe Einbruch der Union macht den Bundestagswahlkampf unerwartet spannend: Verschiedene Dreier-Bündnisse werden möglich - aus Schwarz, Grün, Rot oder Gelb. Eine der vier Parteien aber ist am Ende raus. Der Wahlforscher Thorsten Faas von der FU Berlin freut sich im Gespräch mit ntv.de: Die Zeit nach der Wahl werde mindestens so spannend wie die Zeit vorher.

Sieben Wochen vor der Wahl kommt Armin Laschet auf desaströse 12 Prozent Zustimmung. Wäre ein Wechsel zu Markus Söder als Kanzlerkandidaten für die Union noch irgendwie stemmbar?

Die sehr guten Werte von Angela Merkel und eben auch Markus Söder in Umfragen tun der Union gerade weh, weil sie eben tagtäglich zeigen, dass es auch beliebte Personen in der Partei gibt, die aber gerade nicht an ihrer Spitze stehen. Ein Wechsel steht dennoch nicht zur Debatte. Die Kampagne steht, die Plakate sind gedruckt: Jetzt zu wechseln, wäre ein Eingeständnis des eigenen Scheiterns und organisatorisch nicht mehr umsetzbar.

Der Abstand der Union schmilzt dahin. Schwarz, Grün und Rot kommen sich näher. Welche Regierungs-Option macht das wahrscheinlich?

Das ist spannend und die Situation unglaublich beweglich. Eine seriöse Prognose kann man derzeit nicht abgeben. Die Zahlen bedeuten allerdings, dass die Idee einer Zweier-Koalition - also Schwarz-Grün, Schwarz-Rot oder Rot-Grün - gerade in weite Ferne rückt. Wir werden uns erstmal auf ein Dreier-Bündnis einstellen müssen. Und das heißt, dass die drei genannten Parteien entweder selbst zu einer Koalition zusammenfinden müssen, oder aber weitere Akteure hinzukommen. Die FDP spielt da eine Rolle, aber auch die Linke sollten wir nicht vergessen. Auf der Basis der Forsa-Umfrage etwa wäre durchaus auch ein rot-rot-grünes Bündnis denkbar.

Der Wahlforscher Thorsten Faas lehrt an der Freien Universität Berlin.

Der Wahlforscher Thorsten Faas lehrt an der Freien Universität Berlin.

(Foto: Bernd Wannenmacher)

Wenn es keiner zu zweit schafft, entstehen so viele Dreier-Optionen. Man verliert fast den Überblick.

Das zeigt auch der Blick auf die Bundesländer: Vieles ist in der Praxis schon Realität, seit vorgestern auch Schwarz-Rot-Gelb in Sachsen-Anhalt. Es gibt in Deutschland für eine solche Situation keine etablierten Verfahren, auch das hat Sachsen-Anhalt ja gezeigt. Selbst der Satz: "Wenn die Union die stärkste Kraft ist, wird sie an der Regierung beteiligt sein", den man derzeit oft hört, stimmt letztlich nicht. Das zeigt auch der Blick in die Geschichte: Die Union lag in den Siebzigern vor der SPD und trotzdem hatten wir eine sozial-liberale Regierung. Wer wen wie überzeugen kann, in eine Dreier-Koalition einzusteigen, das wird hoch spannend.

Und könnte sich im Verlauf der Gespräche auch noch mehrmals drehen?

Letztlich wird nach dem 26. September eine Situation herrschen wie bei der Reise nach Jerusalem: Wenn wir die Linke doch mal für einen Moment außen vor lassen, dann hätte letztlich jede Kombination aus drei von vier Parteien eine Mehrheit, also Union-Grüne-SPD, Union-Grüne-FDP, Grüne-SPD-FDP, Union-SPD-FDP.

Wer sondiert denn da als Erstes miteinander?

Da geht es schon los: Sprechen dann erstmal immer zwei Parteien miteinander und sondieren bilateral? In welchen Konstellationen wird man miteinander reden, um so langsam hin zu einer Regierung zu kommen? Das ist wirklich Neuland. Aber trotz dieser Unvorhersagbarkeit wird die Koalitionsfrage den Wahlkampf jetzt prägen. Denn es ist nicht egal, welche Koalition sich bildet, damit sind Konsequenzen verbunden. Das ist eine paradoxe Situation, weil Wählerinnen und Wähler natürlich gerne wissen würden: Was passiert denn eigentlich nach der Wahl? Gleichzeitig produzieren wir alle ein Ergebnis, dessen Konsequenzen unvorhersehbar sind.

Das heißt: Wer gerne strategisch wählt, hat diesmal ein Problem?

In dieser Konstellation strategisch zu wählen, ist eigentlich unmöglich. Stattdessen müssten die Wählerinnen und Wähler sagen: Ich hab eine klare Präferenz für Partei A oder vielleicht auch Person A, also wähle ich die. Und den Rest kann ich ohnehin nicht beeinflussen. Die Parteien wiederum ziehen sich auf Formulierungen zurück wie: "Wir müssen so stark wie möglich werden und erst dann schauen, mit wem wir am meisten umsetzen können." Jetzt bezogen auf ein Bündnis zu sagen "Das schließe ich aus", das limitiert die Machtoptionen und ist darum nicht klug.

Ist es also riskant, wie sich die FDP derzeit zur Ampel-Option verhält?

Die FDP sagt zwar, dass sie große Vorbehalte gegen eine grün geführte Ampel hat, aber das würde letztlich ihre eigene Verhandlungsposition schwächen, weil sie damit eine Machtoption aufgibt. Man darf nicht vergessen: Parteichef Christian Lindner hat gesagt, er führt die Partei in die Regierung, sonst tritt er zurück.

Also könnte er alles darauf setzen, Schwarz-Rot-Gelb zu erreichen.

Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann wäre Schwarz-Rot-Gelb ganz klar eine Option, aber die Grünen hätten natürlich ein riesiges Interesse, eine grün geführte Ampel auf den Weg zu bringen, einfach, weil sie dann im Kanzleramt wären, solange sie vor der SPD bleiben. Um das zu erreichen, wären sie vermutlich bereit, sehr große personelle, aber auch inhaltliche Kompromisse einzugehen. Für die SPD wäre es sicherlich nicht die erste Präferenz, aber ausschließen wird sie es auch nicht.

Bei der Ampel müssten soziale Gerechtigkeit, Marktliberalismus und Klimaschutz unter einen Hut gehen. Ist das inhaltlich überhaupt denkbar?

Bisher funktionieren Koalitionen so, dass man sagt: Wir müssen uns auf eine gemeinsame Linie verständigen. Aber man könnte natürlich auch sagen: Bestimmte Parteien kriegen bestimmte Ministerien und die dürfen dort relativ rein ihre Lehre umsetzen. Die Politikfelder werden weniger integriert betrachtet, darunter leidet natürlich die Stimmigkeit des Gesamtprojekts, aber den Preis muss man dann vielleicht zahlen.

Auch eine rot geführte Ampel wäre denkbar - aber auch für die Grünen?

Natürlich ist das nicht die Präferenz der Grünen, aber wenn die Alternative ist, eine schwarz-rot-gelbe Koalition ohne die Grünen oder eine Ampel mit Vizekanzlerin oder Vizekanzler Baerbock oder Habeck, dann ist doch relativ klar, wie die Entscheidung wäre: lieber Juniorpartner als wieder nicht dabei. Ganz kalt machtstrategisch gesprochen sind die vier Parteien, inklusive der FDP wohlgemerkt, alle gleich stark. Sie sind alle in gleich vielen realistischen Koalitionsmodellen drin und in gleich vielen nicht drin. Da ist das Modell der Reise nach Jerusalem ganz passend, weil es am Ende darum geht: Welche eine Partei fliegt raus? Das will keine sein und entsprechend werden sie sich am Ende alle auf Kompromisse einlassen.

Mit Thorsten Faas sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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