Reisners Blick auf die Front "Die Russen versuchen, einen Kessel zu bilden"
04.11.2024, 19:40 Uhr Artikel anhören
Brände entlang der Straße von Kurachowe nach Hirnyk als Folge des russischen Artilleriebeschusses im Bezirk Pokrowsk.
(Foto: dpa)
Die Präsidentschaftswahl in den USA könnte auch eine Richtungsentscheidung für die Ukraine werden - so zumindest die landläufige Meinung. Militärexperte Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer befürchtet so oder so ein Nachlassen der Hilfe seitens Washingtons. Warum, das erklärt er im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Herr Reisner, am Dienstag wählen die USA einen neuen Präsidenten. Oder eine Präsidentin. Was wäre besser für die Ukraine?
Markus Reisner: Die meisten Kommentatoren gehen davon aus, ein Sieg von Harris wäre besser für die Ukraine. Vielleicht macht es aber keinen so großen Unterschied. Betrachtet man die US-Medienberichte, so meine ich immer mehr zu erkennen, dass die Ukraine in den nächsten Monaten weniger Unterstützung bekommt. Das liegt daran, dass selbst die USA nicht mehr in der Lage sind, so viel zu liefern, wie sie liefern müssten.
Warum nicht?
Die USA sind in mehreren Konflikten gebunden, Stichwort Ukraine, Naher und Mittlerer Osten und Infopazifik. Auch die US-Rüstungsindustrie steht unter großem Druck. Außerdem lehnen die USA offenbar den "Siegesplan" Selenskyjs ab. Sie fordern realistische Ziele. Gerade hat Selenskyj in einem Interview sehr drastisch den USA unterstellt, kein Interesse mehr an einem Sieg der Ukraine zu haben. Er klagte darüber, dass geheime Gespräche über eine Lieferung des Marschflugkörpers Tomahawk an die Öffentlichkeit geraten sind.
Trump behauptet, er könne noch vor der Vereidigung im Januar Frieden schaffen. Ist das in irgendeiner Form ernst zu nehmen?
Ich glaube nicht daran. Aus Sicht der Russen läuft der Krieg zu ihren Gunsten. Trotz aller Probleme, die sie wirtschaftlich haben mögen, marschieren sie auf dem Gefechtsfeld vor. Will die Ukraine aber in Verhandlungen einen Kompromiss, vielleicht nur einen Waffenstillstand erreichen, müsste sie auf dem Schlachtfeld die Oberhand oder zumindest eine Parität haben. Das ist aber nicht der Fall. Putin wird daher Verhandlungen so lange wie möglich herauszögern, um weiter am Boden Fakten zu schaffen. Auch im Falle eines Wahlsiegs Trumps. Das ist aber nur meine Spekulation.
Die Russen haben also weiter die Oberhand? Vergangene Woche sagten Sie, sie marschierten 2,5 bis 5 Kilometer pro Tag vor. Konnte die Ukraine den russischen Vormarsch zumindest verlangsamen?
Danach sieht es nicht aus. Im Raum Kurachowe, südlich von Pokrowsk, rücken die Russen weiter bis zu fünf Kilometer am Tag vor. Dort versuchen sie einen Kessel zu bilden. Auf der taktischen Ebene greifen die Russen jetzt wieder in Kompanie- und Batallionsstärke an. Also nicht mehr mit zwei, drei Fahrzeugen, sondern mit zehn, manchmal 20 Fahrzeugen. Sie versuchen also mit Nachdruck, Ergebnisse zu erzielen. Insgesamt marschieren sie noch immer nur langsam vor. Daran erkennen wir, dass auch sie abgekämpft sind. Sie haben aber noch mehr Ressourcen als die Ukraine. Kurzum: Die Sommeroffensive läuft für die Russen gut, für die Ukrainer schlecht.
Woran fehlt es bei den Ukrainern? Waffen?
Das ist das eine. Dieses Jahr sind laut Präsident Selenskyj nur zehn Prozent der versprochenen Hilfsgüter aus den USA eingetroffen. Während die Ukraine mit den Ressourcen kämpft, produziert Russland immer größere Mengen. Das zeigt sich beim Einsatz der Drohnen. Die Shahed-Drohnen-Einflüge nehmen signifikant zu. Im August meldeten die Ukrainer knapp 800, im September waren es 1300 und im Oktober 1900. Pro Tag fliegen hier 60 bis 100 Drohnen ein.
Wie sieht es mit der Munition aus?
Die Munitionsausstattung der Ukraine hat immer noch nicht das Niveau, das sie bräuchte. Sie kann russische Artilleriegruppierungen und Raketenwerfer nicht im notwendigen Maß angreifen. Ganz zu schweigen vom Einsatz der russischen Gleitbomben. Den könnte man nur unterbinden, wenn man die Startplätze russischer Flugzeuge oder diese selbst zerstören könnte. Dafür bräuchte die Ukraine die weitreichenden Systeme, die sie bisher aber nicht bekommt oder nicht auf russischem Gebiet nutzen darf.
Wie ist die Lage in Kursk? Kämpfen dort bereits Nordkoreaner?
Darauf gibt es Hinweise, die aber meiner Ansicht nach Propaganda sind. Ein Video soll einen schwer verletzten Nordkoreaner zeigen, der in ukrainisches Feuer geraten sein soll. Ein anderes Foto den ersten getöteten Nordkoreaner. Ich halte das alles nicht für echt. Erst wenn wir jeden Tag Videos kämpfender aber auch verletzter, gefallener und gefangen genommener Nordkoreaner sehen, können wir davon ausgehen, dass sie tatsächlich im Fronteinsatz sind. Kursk wird zudem immer mehr zum Nachteil der Ukraine.
War es also ein Fehler, dort einzumarschieren?
Die Ukraine kämpft dort auf bedeutungslosem Gelände, nur um weiter sagen zu können: Wir haben den Krieg nach Russland getragen. Es wurden keine strategischen Ziele erreicht. Man hat nichts in der Hand. Will sie das Gebiet halten, muss sie ihre Kräfte dort aber weiter unterstützen. Diese Ressourcen fehlen aber womöglich entscheidend an anderer Stelle. Die große Herausforderung der Ukraine ist aber nicht mehr die Verfügbarkeit von Waffen und Munition.
Sondern?
Die Verfügbarkeit von Soldaten. Die Situation ist prekär. Wie ich aus der Ukraine höre, haben Brigaden teils nur 50 Prozent ihre Sollstärke. In den Kompanien, normalerweise 100 bis 150 Mann stark, ist teils nur ein Drittel verfügbar. Der Rest ist aufgrund von Tod oder Verwundung ausgefallen. Mit diesen ausgedünnten Formationen lässt sich die Front nur sehr, sehr schwer halten. Vor allem, weil Russland versucht, mit Nachdruck Truppen nachzuführen.
Wie schnell könnte Europa in die Lage kommen, effektiv zu helfen? Obwohl es wohl kaum die US-Lieferungen vollständig ersetzen könnte?
Die notwendigen Entscheidungen hätten vor zwei oder drei Jahren getroffen werden müssen. Wir erleben hier einen Abnutzungskrieg. Derjenige wird gewinnen, der mehr Material und mehr Soldaten ins Feld schicken kann. Unsere Hilfe hat der Ukraine bisher viele Vorteile, aber keinen wirklich entscheidenden Vorteil verschafft. Wenn die USA ausfallen, müsste Europa massiv umdenken. Die Produktion von Waffen und Munition müsste massiv hochgefahren werden. Aber die Zeit verrinnt, denn der Ukraine gehen die Soldaten aus. Die Bevölkerung der Ukraine ist viel kleiner als die Russlands. Das ist ein massiver Nachteil.
Deutschland scheint gerade endgültig in eine Regierungskrise zu schlittern. Was wäre schlimmer, ein führungsloses Deutschland oder ein Trump-Wahlsieg?
Als Österreicher möchte ich den Deutschen keine Ratschläge erteilen. Eines muss man aber feststellen: Wenn die Regierungen der potentesten europäischen Staaten, und dazu gehört Deutschland, durch die Innenpolitik gelähmt sind und in der EU keine Führung übernehmen können, spielt das den Russen in die Hände. Denken Sie an das militärische Prinzip des Teilens und Schlagens. Will man einen Gegner angreifen, muss man ihn erst portionieren und dann Stück für Stück bekämpfen. Das passiert gerade. Wir werden in Teile geschlagen. Es gibt kein geeintes Europa, das gerade in Anbetracht der US-Wahl mit einer Stimme spricht. Und das sollte sich ändern, und zwar rasch.
Mit Oberst Markus Reisner sprach Volker Petersen
Quelle: ntv.de