"Unerwünscht" in Russland "Russland versucht, deutsche Institutionen zu diskreditieren"
13.07.2024, 16:05 Uhr Artikel anhören
"Das russische Justizministerium veröffentlicht seit einigen Jahren inzwischen jeden Freitag eine neue Liste mit ausländischen Agenten und unerwünschten Organisationen", sagt Julian Hans.
(Foto: imago stock&people)
Dekoder ist ein deutschsprachiges Medium, das mithilfe einer Mischung aus Journalismus und Wissenschaft Expertise zu Russland und Belarus bereitstellt. Ende Mai wurde Dekoder in Russland als "unerwünscht" eingestuft. Das bedeutet ein Risiko für die Autoren, die immer noch in Russland arbeiten. Wie das Unternehmen damit umgeht, erzählte im Interview mit ntv.de der Redakteur und Journalist Julian Hans.
ntv.de: Viele Medien und Organisationen wurden in Russland und in Europa bereits für unerwünscht erklärt. Nun hat es Dekoder erwischt. Sind Sie überrascht?
Julian Hans: Nein. Dekoder ist nicht die erste Organisation aus Deutschland, die für unerwünscht erklärt wurde. Davor gab es auch schon andere Organisationen, gerade aus der Wissenschaft. Dazu gehört zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Osteuropa, das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien oder das Deutsche Historische Institut, das früher in Moskau gearbeitet hat. Dekoder gehört eben auch durch die Nähe zur Wissenschaft eher zu dieser Gruppe von Organisationen, die Expertise zu Russland anbieten.
Wurde die Einstufung irgendwie erklärt?
In der Begründung der russischen Generalstaatsanwaltschaft hieß es, Dekoder verbreite systematisch Falschinformationen über "die Spezialoperation" und die russischen Streitkräfte. Auf diese Weise versucht die Regierung in Moskau, deutsche Institutionen mit Expertenwissen über Russland zu diskreditieren.
Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Wir dürfen nicht auf dem Territorium der Russischen Föderation arbeiten. Das haben wir auch nie, hatten weder Korrespondenten noch ein Büro in Russland. Was wir aber getan haben: Wir haben Artikel von unabhängigen russischen Medien veröffentlicht. Die sind inzwischen zu großen Teilen im Exil. Aber es gibt tatsächlich auch Autoren, Illustratoren und Fotografen mit Wohnsitz in Russland, deren Arbeiten wir zum Teil in Übersetzung veröffentlicht haben. Diese Menschen werden durch die Einstufung gefährdet, zum Beispiel jemand, der früher etwas für die "Nowaja Gaseta" geschrieben hat, das auf unserer Seite publiziert wurde, und der sich jetzt noch in Russland aufhält.
Können Sie Autoren, die weiter in Russland sind, schützen?
Wir mussten alle unsere Autoren warnen und sagen: Passt auf, da ist jetzt folgendes Risiko. Wenn ihr noch in Russland lebt, dann bieten wir euch an, dass wir entweder die Artikel anonymisieren oder die Artikel ganz aus dem Netz nehmen.
Wie viele Artikel haben Sie schon aus dem Netz genommen?
Wir haben knapp zwei Dutzend Artikel gelöscht. Das ist nicht so viel. Und eine niedrige dreistellige Zahl von Artikeln anonymisiert.
Russland droht auch mit Geld und Freiheitsstrafen. Gibt es schon Fälle, wo Personen, die mit Ihnen zusammengearbeitet haben, bestraft wurden?
Dafür hat Dekoder wohl noch nicht lange genug den Status einer "unerwünschten Organisation". Aber wir wissen von anderen "Unerwünschten", dass es dort Fälle gab. Beim ersten Verstoß gibt es eine Strafe von 5000 Rubel, das sind etwa 50 Euro. Dann steigert sich das beim zweiten Verstoß auf 15.000 Rubel, also 150 Euro. Aber dann wird es sehr schnell gefährlich und kann Haftstrafen bedeuten.
Hat die Einstufung weitere Konsequenzen?
Es ist auch strafbar, eine unerwünschte Organisation finanziell zu unterstützen. Dekoder ist durch Spenden finanziert. Spender aus Russland kann man an einer Hand abzählen. Die meisten unserer Unterstützer sind in Deutschland oder jetzt jedenfalls in Europa. Wir haben auch unsere Unterstützer, die uns über Stiftungen finanzieren, über unsere Einstufung informiert.
Wie haben die darauf reagiert?
Wir haben überwiegend Solidaritätsbekundungen bekommen. Eine Stiftung hat uns sogar aufgefordert, schnell noch einen Antrag zu stellen, damit sie uns noch zusätzlich fördern können.
Haben Sie Reaktion und Unterstützung von den unabhängigen russischsprachigen Medien bekommen?
Wir haben ganz viele Reaktionen von unseren russischsprachigen Partnermedien bekommen. Da hieß es "Willkommen im Club!", weil sie selbst schon eingestuft sind. Und "Lasst uns noch mehr Artikel austauschen!"
Was hat Ihrer Meinung nach zur Einstufung von Dekoder geführt?
Ich bin mir sicher, dass kein konkreter Artikel jemanden gestört hat. Die Inhalte, die es bei uns gibt, sind auch in anderen deutschen Medien zu finden. Es geht vermutlich darum, die Kooperation mit Partnern aus Russland zu stören oder zu verhindern. Das müssen nicht mal besonders kritische Artikel sein. Wir haben zum Beispiel den Autor eines Artikels über einen russischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts anonymisiert. Der Artikel hatte nichts mit dem Krieg oder mit Kritik an der aktuellen Regierung zu tun. Aber allein, dass der Name des Autors auf unserer Webseite steht, war für den Betroffenen eine mögliche Gefahr.
Dekoder schreibt seit mehr als zwei Jahren über die russischen Verbrechen in der Ukraine. Warum wurden Sie erst jetzt verboten?
Das russische Justizministerium veröffentlicht seit einigen Jahren inzwischen jeden Freitag eine neue Liste mit ausländischen Agenten und unerwünschten Organisationen. Es gibt da Verantwortliche, die Woche für Woche jemand neuen auf die Liste schreiben müssen. Und irgendwann ist die Auswahl nicht mehr so groß. Ich glaube, das ist ein Grund, warum wir darauf gekommen sind. Nicht, weil wir so groß und bedeutsam waren oder Russland solchen Schaden zufügen, sondern weil auch irgendwann nicht mehr so viel übrig ist.
Welche Auswirkungen erwarten Sie für Ihre weitere Arbeit?
Einige unabhängige Journalisten versuchen, weiter in Russland zu arbeiten. Sie umgehen die Militärzensur zum Beispiel dadurch, dass sie nicht direkt über den Krieg berichten. Stattdessen veröffentlichen sie etwa Reportagen aus der russischen Provinz, die veranschaulichen, welche Folgen der Krieg hat - wenn die jungen Männer weg sind oder wenn sie zurückkommen und gewalttätig werden. Von solchen Medien, die noch im Land sind, kriegen wir vielleicht nicht mehr das Einverständnis, dass wir ihre Reportagen auf Deutsch auf unserer Seite übernehmen, weil das ansonsten für die eine Gefahr ist. Nachrichten direkt aus dem Land zu bekommen, wird so auch für uns schwieriger.
Wie ist es in Belarus?
Wir sind in Belarus noch nicht als unerwünscht eingestuft, aber wir erwarten das jederzeit, weil das Regime dort in der Repression eigentlich weiter ist als Moskau. Es ist dort schwieriger, irgendeine Form von Journalismus zu machen, der nicht staatlich kontrolliert ist. Insofern haben wir in Belarus wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die dann betroffen wären, deren Texte oder deren Beiträge wir nicht mehr veröffentlichen könnten.
Können Sie in Zukunft noch aus diesen Ländern berichten?
Die Vielfalt unabhängiger Medienangebote in russischer und belarussischer Sprache ist immer noch so groß, dass es interessant ist, das abzubilden. Auch wenn diese Medien inzwischen in Tiflis sitzen, in Riga und teilweise in Berlin: Die haben immer noch ihre Kontakte in Russland und bringen weiter interessante Materialien hervor. Obwohl die Mehrheit der unabhängigen Medien und der unabhängigen Analysten und Intellektuellen inzwischen nicht mehr im Land ist, wird weiterhin viel und breit aus und über Russland berichtet.
Mit Julian Hans sprach Maryna Bratchyk
Quelle: ntv.de