Politik

Schroeder über Junge Union"Sie nutzen die strategische Schwäche des Kanzlers erbarmungslos aus"

18.11.2025, 16:35 Uhr RTL01231-1Volker Petersen
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Friedrich Merz, Bundeskanzler, nach seiner Rede, mit Johannes Winkel, Bundesvorsitzender Jungen Union und Mitglied Junge Gruppe der CDU-CSU-Bundestagsfraktion (Foto: picture alliance / Chris Emil Janßen)

Der Streit um die Rente stürzt Union und SPD in eine Krise - die Junge Union bleibt dabei: Sie will das Paket in der jetzigen Form ablehnen. Im Interview erklärt Professor Wolfgang Schroeder die verfahrene Lager - und übt deutliche Kritik an Merz.

ntv.de: Herr Schroeder, die Union streitet um das Rentenpaket. Können Sie die Kritik der Jungen Union verstehen?

Wolfgang Schroeder: Zunächst einmal ist unser Rentensystem relativ schlecht aufgestellt. Wir zahlen zu viel Geld insgesamt für zu wenig Gegenleistung. Im internationalen Vergleich sind die Rentenzahlungen bestenfalls im Mittelfeld angesiedelt. Insofern ist in der Tat eine umfassende Rentenreform notwendig. Wie da durch die 47 oder 48 Prozent eine große Veränderung herbeigeführt werden kann, sehe ich nicht. Zugleich muss man aber sehen, dass über 70 Prozent in Ostdeutschland und über 50 Prozent in Westdeutschland primär auf die erste Säule, also die umlagefinanzierte Rente angewiesen sind.

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Der Politikwissenschaftler Wolfgang Schröder ist Professor an der Uni Kassel und forscht außerdem am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. (Foto: privat)

47 oder 48 Prozent Rentenniveau, damit sind wir schon genau bei der Streitfrage. Die Koalition hat sich auf 48 Prozent bis 2031 geeinigt. Die Junge Union will 47 Prozent.

Diese Frage an diesem einem Prozent Rentenniveau aufzuhängen, zeigt: Diese Truppe von der Jungen Union hat gar keine Vorstellung, worum es eigentlich in der großen Dimension geht. Es sind eher neoliberale Vorstellungen: Jeder soll selbst Vorsorge treiben und den Staat entlasten. Dabei ist die Eigentumsquote in Deutschland gering, die Einkommen sind im Vergleich zu anderen Ländern unterproportional. Die Vermutung, dass eine von der Jungen Union angeleitete Rentenreform zu einem staatlich organisierten Verarmungsprogramm führt, ist, wie der Kanzler mit seinem Hinweis auf den rentenpolitischen Unterbietungswettbewerb anmerkte, nicht so weit hergeholt.

Die Rente ist ein Kernthema der Jungen Union, sie kann in so einer Debatte nicht schweigen. Oder?

Die Junge Union hat sich mit der Debatte scheinbar zum Anwalt der jungen Generation in der Gesellschaft emporgearbeitet. Zugleich hat sie aber keine Position auf den Tisch gelegt, die mehrheitsfähig oder gar reformfähig zu einem besseren System für die Mehrheit der Gesellschaft führen würde. Sie hat lediglich darauf hingewiesen, dass es sehr teuer wird, was angesichts der Ungewissheit von Zukunft und der anderen Herausforderungen relativ ist.

Ich halte die Debatte angesichts der vielen Herausforderungen und der Schwerfälligkeit dieser Koalition zum gegenwärtigen Zeitpunkt für brisant. Zu bedenken ist zudem, dass die Frage, wie weiter mit dem Nachhaltigkeitsfaktor umzugehen ist, erst in sechs Jahren relevant werden wird. Außerdem hat der Kanzler ja angeboten, in einer Begleitnote die Rentenkommission zu grundsätzlicheren Reformen aufzufordern. Es geht also aufs Ganze gegenwärtig weniger um eine bessere Lösung in der Sache, was durchaus notwendig wäre, sondern um einen Machtkampf in der Union, der eben auch Auswirkungen hat auf die politische gesamte politische Richtung in Deutschland.

Warum wagt es die Junge Union, sich gegen den Kanzler zu stellen?

Sie wissen, dass der Kanzler strategisch schwach ist. Diese strategische Schwäche des Kanzlers nutzen sie erbarmungslos aus. Die drei, vier Spitzenleute haben es jetzt schon geschafft, ihre Bekanntheitsgrade nach oben zu jazzen, wie das sonst nie möglich gewesen wäre. Das ist schon eine aufmerksamkeitsorientierte Inszenierung, die die Karriere dieser jungen Avantgarde befördern kann.

So wie JU-Chef Johannes Winkel und der Vorsitzende der Jungen Gruppe sich äußerten, das wirkte schon sehr ernsthaft, fast wie bei Martin Luther: Hier stehe ich und kann nicht anders.

Mit Martin Luther hat das nichts zu tun, weil sie nichts zu befürchten haben. Luther ist ins Gefängnis gekommen. Diese Truppe kann machen, was sie will. Sie betreibt ein Positiv-Spiel für ihre Bekanntheit, das aber ein Negativ-Spiel für die Union ist.

Droht nun das Aus der schwarz-roten Koalition?

Die Akteure von der Jungen Union treiben natürlich den Preis hoch. Aber ich glaube nicht, dass sie am Ende diese Regierung opfern werden. Es gibt ja für ihre Position keine Mehrheit, nirgendwo. Sie werden aber versuchen, den Preis hochzutreiben, auch im Hinblick auf zukünftige Positionen in und durch die Fraktion. Hinter allem steht aber auch ein Fraktionsvorsitzender, der diesem Treiben zuschaut; auf jeden Fall nicht in der Lage oder nicht Willens war, den Kanzler zu schützen.

Nun wird in Berlin sogar über eine Minderheitsregierung nachgedacht.

Die Junge Union spielt über dieses Thema indirekt die Klaviatur einer Minderheitsregierung. Wohl wissend, dass dies die Union zerreißen würde, weil dies zu einem Aufwertungsprogramm für die AfD werden würde. Auch wenn dies nicht eintritt, haben sie jetzt schon dazu beigetragen den Kanzler, ja die gesamte Koalition zu schwächen.

Was versprechen sie sich davon, aus Ihrer Sicht?

Die Idee der Minderheitsregierung, eine Art Drohkulisse, scheint darauf hinauszulaufen: Wir haben den Politikwechsel versprochen, doch er scheitert an einer uneinsichtigen, inkompetenten Sozialdemokratie. Deshalb sollte man darüber nachdenken, wie man aus der babylonischen Gefangenschaft herauskommt. Und aus dieser Gefangenschaft kann man nur heraus, indem man die SPD in die Falle laufen lässt.

In welche Falle?

Dass die SPD möglicherweise nach dem Scheitern des Rentenpakets diese Koalition infrage stellt. Dann wären CDU und CSU die Opfer. Denn eine Minderheitsregierung wäre, wenn überhaupt, nur denkbar, wenn die Union als Opfer erscheint. Dafür könnte das Rentenpaket ein taktischer Hebel sein. Bei manchen in der Jungen Union habe ich das Gefühl, dass sie sich in diese Richtung drängen lassen, vielleicht auch von anderen. Aber ich glaube nicht, dass sie wirklich überschauen, was sie da für ein Risiko eingehen.

Welches Risiko?

Diese Leute, die jetzt die Koalition gefährden, die gefährden nicht nur den Zusammenhalt der Union. Eine Minderheitsregierung wäre ja auch ein Aufwertungsprogramm für die AfD. Man würde die AfD in eine Position bringen, in der sie die Union stützt. Alle bisher geäußerten Vorbehalte wären null und nichtig. Es käme zu einer rasanten Normalisierung der AfD. Die Vorbehalte gegenüber der AfD könnten sich relativieren, wie man es bislang nicht für möglich gehalten hat.

Was wäre die Gefahr einer Normalisierung der AfD?

Wenn die AfD sich in einem Moratorium der Selbstverharmlosung dazu durchringt, der Union alles zu geben, was sie braucht, wäre ein temporärer Beweis ihrer Regierungsfähigkeit erbracht. Dann könnte man sagen: Alles, was die AfD fordert, ist zur Staatsräson geronnen. Das wäre eine Gefährdung der parlamentarischen Demokratie in Perspektive. Denn die wollen ja mehr. Das wäre für die ja nur eine Zwischenetappe. Und sie können gar nicht bei der Unterstützung der Union stehen bleiben. Denn dann würde die AfD sich selbst überflüssig machen und ihre radikale Orientierung aufgeben, die auf eine Transformation des Systems hinausläuft.

Warum wäre das ein Zerstörungsprogramm der Union?

Ein nicht unerheblicher Teil in der Union würde diese Kooperation mit der AfD und der Verabschiedung aus einer Konsens- und Kompromiss-orientierten Politik mit der anderen Mitte-Partei, der SPD, als ein Abrücken von den Grundfesten der von Adenauer, Brandt und Kohl gestifteten Bundesrepublik begreifen. CDU und CSU würden einen Teil ihrer Mitglieder und ihrer Wählerschaft verlieren.

Würden die zu anderen Parteien wandern?

Es könnte sein, dass die linke Mitte wieder gestärkt wird: SPD, Grüne, Linke. Auf jeden Fall würde die erwartete Politik einer Union pur sich nicht einfach so realisieren lassen. Gleichsam wäre der Preis für den Ausstieg aus der Koalition mit der SPD, dass man sich in die Hände einer radikalen Partei gibt. Das selbst verantwortete Projekt der repräsentativen, freien Demokratie würde gefährdet. Die Union muss anerkennen, dass der Widerspruch nicht zwischen Union und SPD liegt, die Wähler also nicht Mitte-rechts wählen und Mitte-links regiert werden, sondern dass gegenwärtig der Hauptwiderspruch zwischen freiheitlich-demokratisch und illiberaler Demokratie verläuft und sie sich darauf einstellen sollte. Merz scheint dies verstanden zu haben.

Aber würde eine Minderheitsregierung der Union nicht die AfD auch unter Druck setzen? Sie müsste sich bekennen und Politik von CDU und CSU mittragen.

In einer Minderheitsregierung sucht man sich die Mehrheiten dort, wo sie sich anbieten. Mit der AfD könnte man die steuersenkenden, staatsreduzierenden Positionen sowie eine konservativere Familienpolitik durchsetzen. Mit SPD und Grünen könnte man ein bisschen Klimaschutz und Sozialpolitik machen. Am Ende würde deutlich: Man kann das nur machen, weil man der AfD das Mitregieren ermöglicht. So könnte sie sich das kulturelle Kapital erwerben, um am Ende selbst zu regieren. So zumindest ihre Idee.

Ist die Debatte auch ein Zeichen für die Schwäche des Kanzlers?

Ausdrücklich. Wir hatten selten einen Kanzler, der die Dinge so wenig vom Ende her denkt und so wenig ein Gefühl für die eigene Partei hat und viele Fettnäpfchen und Fallstricke durch eigene Argumentationen aufbaut. Es gab kaum je einen Spitzenpolitiker, der so inkonsistent ist in der Herangehensweise an Probleme. Er ist überhaupt noch nicht in seiner Kanzlerschaft angekommen. Er pendelt zwischen Kanzler- und Oppositionsmodus. In Rust war er im Kanzlermodus, das war eigentlich richtig, denn er verwies auf die Koalitionszwänge und auf das große Ganze. Er muss ja auf die SPD Rücksicht nehmen. Aber er ist angeschlagen und kann kaum die Dinge durchsetzen, für die er gewählt wurde.

Ist es wirklich so schlimm?

Ich sehe eine kumulative Verstärkung von Führungsschwäche. Noch nie war die Kanzlerdemokratie so weit weg und die Kakophonie des Regierens so hautnah spürbar. Also eine massive Aufwertung der Fraktionen und des Parlaments und dass mit einem Fraktionschef Spahn, der kaum Rückendeckung für den Kanzler gibt: Spahn sollte durch Frei ersetzt werden, dann würde zumindest eine loyale Achse zwischen Kanzleramt und Fraktion bestehen.

Haben Sie Beispiele für die Fehleinschätzungen und Schwäche des Kanzlers?

Er hat angefangen mit der Einschätzung, dass die Außenpolitik die Innenpolitik dominiert. Er hat geglaubt, dass sich durch seine Kanzlerschaft die wirtschaftliche Lage innerhalb von Wochen grundlegend verändert. Er hat Reformen innerhalb von Monaten versprochen. Immer wieder springt er ambitioniert als Tiger los und landet als Bettvorleger. Er muss ambitioniert sein, klar, aber er muss auch zeigen, in welchen Etappen und Zeitabläufen er die Ziele erreichen will. Wenn das alles nicht da ist, fühlen sich die Leute nicht richtig verstanden und orientiert. Da kann es sein, dass diese Rentendebatte das Fass zum Überlaufen bringt.

Muss man nicht auch berücksichtigen, dass wir in außergewöhnlich schwierigen Zeiten leben? Sind das nicht mildernde Umstände?

Ja, das sind tatsächlich mildernde Umstände. Aber man kann es auch drehen: Gerade weil es so herausfordernde Zeiten sind, muss man umso sorgfältiger, maßvoller und präziser mit den eigenen Worten und Ideen sein. Gerade in schwierigem Fahrwasser ist eine gute Führung besonders wichtig. Sie muss maßvoll, nachvollziehbar und zielorientiert vorgehen. Falsche oder nicht vorhandene Führung ist da umso problematischer.

Mit Wolfgang Schroeder sprach Volker Petersen

Quelle: ntv.de

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