Labour vor dem Wahlsieg "Der Ruf der Konservativen als Partei der Redlichkeit ist zerstört"
29.06.2024, 18:39 Uhr Artikel anhören
Mit Rishi Sunak könnte die zuletzt recht schnelle Abfolge konservativer Premiers vorerst enden.
(Foto: AP)
Die jüngsten Parteivorsitzenden der britischen Konservativen haben ihre Partei nachhaltig beschädigt, sagt der britische Politologe Tim Bale: "Boris Johnson hat den Ruf der Konservativen als Partei der Redlichkeit zerstört, Liz Truss hat die Glaubwürdigkeit der Tories als Wirtschaftsmanager verspielt und Rishi Sunak wirkt einfach nur schwach." Bale geht davon aus, dass Labour bei der Wahl am kommenden Donnerstag "zumindest eine komfortable Mehrheit erringen wird".
ntv.de: Was sind die Hauptthemen des aktuellen Wahlkampfs in Großbritannien?

Tim Bale lehrt Politikwissenschaften an der Queen Mary University of London. In seinem jüngsten Buch beschreibt er das Chaos der britischen Konservativen nach dem Brexit.
(Foto: QMUL)
Tim Bale: Die wichtigsten Themen waren Steuern und Ausgaben, Einwanderung, die schlechte Führung von Premierminister Rishi Sunak und die Integrität der Abgeordneten und Mitarbeiter der Konservativen Partei nach dem Wettskandal. Der Nationale Gesundheitsdienst (NHS) ist nicht so sehr in den Vordergrund gerückt, wie man vielleicht vorhergesagt hätte, aber die Labour-Partei wird sich zum Ende des Wahlkampfs wahrscheinlich auf dieses Thema konzentrieren.
Welche Rolle hat der Brexit gespielt?
Er ist der sprichwörtliche Elefant im Raum - niemand will über ihn reden, obwohl er für so viele Probleme verantwortlich ist, mit denen sowohl die Konservative Partei als auch das Land konfrontiert sind. Umfragen deuten darauf hin, dass viele Menschen - möglicherweise die Mehrheit der Menschen - den Austritt für einen Fehler halten, aber nur wenig Lust haben, die Frage erneut zu stellen.
Warum haben die Konservativen so viel Vertrauen in der Bevölkerung verloren?
Die Tories sind seit vierzehn Jahren an der Macht und haben nur wenig vorzuweisen: Die Wirtschaft stagniert seit einiger Zeit, die Lebenshaltungskosten sind gestiegen, die öffentlichen Dienste befinden sich in einer Krise. Und sie haben es versäumt nachzuweisen, dass der Brexit irgendwelche Vorteile gebracht hat, etwa wenn es um die Kontrolle der Einwanderung geht, was einer der Hauptanreize für die Wähler war. Und dann sind da noch die Parteiführer: Boris Johnson hat den Ruf der Konservativen als Partei der Redlichkeit zerstört, Liz Truss hat die Glaubwürdigkeit der Tories als Wirtschaftsmanager verspielt und Rishi Sunak wirkt einfach nur schwach.
Was hat die Labour Party in den letzten Jahren richtig gemacht?
Sie hat signalisiert, dass sie sich verändert hat und sich seit den offensichtlich linken Corbyn-Jahren zur Mitte des politischen Spektrums hin bewegt. [Anm.: Jeremy Corbyn war von 2015 bis 2020 Labour-Chef. Er gehörte dem sehr linken Flügel der Partei an, seine Amtszeit war von Kontroversen geprägt.] Und Labour hat die Botschaft und die Parteidisziplin wiederhergestellt, die sie in dieser Zeit verlassen hatten. Sie haben einen Vorsitzenden gewählt, der als sicheres Ass im Ärmel angesehen wird: Keir Starmer mag langweilig sein, aber er ist nicht furchteinflößend.
Auch die rechtsgerichtete britische Reformpartei von Nigel Farage könnte viele Stimmen gewinnen. Was will diese Partei?
Kurz gesagt, will sie weit weniger Einwanderung, weniger "Wokeness" und weniger Klimapolitik. Sie behauptet, dass sie die hohen Ausgaben für öffentliche Dienstleistungen durch fantasievolle Steuersenkungen und Effizienzsteigerungen finanzieren kann.
Was glauben Sie, wie das Wahlergebnis am Donnerstag aussehen wird?
Ich gehe davon aus, dass Labour zumindest eine komfortable Mehrheit erringen wird, dass Nigel Farage ins Parlament einziehen wird, dass die Liberaldemokraten stark zulegen werden und die Tories eher 100 als 200 Sitze erringen, obwohl Letzteres keineswegs sicher ist.
Was muss sich nach den Wahlen im Vereinigten Königreich ändern?
Wir brauchen ein stärker proportionales Wahlsystem, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Unterstützung für kleinere Parteien wächst und dass es ungerecht ist, dass sie im Parlament nicht angemessen vertreten sind. Das werden wir aber nicht bekommen: Die Labour-Partei wird nicht in die Hand beißen, die sie in diesem Fall so gut zu füttern scheint, und die Konservativen werden hoffen, dass sie eher früher als später wieder an der Reihe sind. Dabei kann ihnen das Mehrheitswahlrecht helfen.
Mit Tim Bale sprach Marko Schlichting
Quelle: ntv.de