Tunesien ist nicht die Türkei Warum der EU-Tunesien-Deal problematisch ist


Auf dem Weg von Nordafrika nach Europa sind allein auf der sogenannnten Zentralroute seit 2014 nach offiziellen Zahlen der IOM mehr als 22.000 Menschen ums Leben gekommen.
(Foto: picture alliance/dpa)
Mit einem neuen Abkommen will die Europäische Union die Migration von Tunesien über das Mittelmeer stoppen. Als Blaupause gilt das damals erfolgreiche EU-Türkei-Abkommen von 2016. Es gibt allerdings gravierende Unterschiede.
Die EU und Tunesien haben in Tunis ein "Memorandum of Understanding" für eine "strategische und umfassende Partnerschaft" unterzeichnet. Aus europäischer Sicht geht es bei dem Abkommen vor allem darum, die irreguläre Migration einzudämmen. Auf den ersten Blick folgt das Abkommen mit Tunesien dem Beispiel des EU-Türkei-Deals. Doch der Schein trügt.
Die Gründe, die für ein solches Abkommen sprechen, liegen auf der Hand: Durch seine Nähe zur italienischen Küste ist Tunesien eines der wichtigsten Transitländer für Migranten. Bis zur italienischen Insel Lampedusa sind es nur 130 Kilometer. Nach Angaben der italienischen Regierung kamen vom 1. Januar bis zum 14. Juli dieses Jahres mehr als 75.000 Migranten in Italien an. Im selben Zeitraum des Vorjahres waren es 31.920 (pdf). Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni steht unter erheblichem Druck, ihr Wahlversprechen von weniger Migration einzulösen.
Zudem gibt es auf der zentralen Route, zu der die Abfahrten ab Tunesien gehören, die meisten Toten auf dem Weg über das Mittelmeer nach Europa. Allein in diesem Jahr ertranken dort nach einer Zählung des "Missing Migrants Project" der UN-Organisation für Migration (IOM) 1761 Menschen.
Zur Unterzeichnung des Abkommens kamen neben Meloni EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der scheidende niederländische Regierungschef Mark Rutte nach Tunis. Im Zuge der Verhandlungen hatten die drei Tunesien bereits vor gut einem Monat besucht und damals die nun ausgehandelte Partnerschaft angekündigt.
Tunesien hofft auf Geld
Ähnlich wie beim EU-Türkei-Deal von 2016 profitiert auch Tunesien in erster Linie finanziell. Bereits bei ihrem Besuch am 11. Juni hatte von der Leyen angekündigt, die EU erwäge finanzielle Unterstützung in Höhe von bis zu 900 Millionen Euro sowie Haushaltshilfen von bis zu 150 Millionen Euro. Darüber hinaus sieht das Abkommen 105 Millionen Euro für den Kampf gegen irreguläre Migration vor, deutlich mehr als bislang. Dafür verpflichtet Tunesien sich, nicht anerkannte Asylbewerber und vorbestrafte Tunesier aus Europa zurückzunehmen.
Das Thema ist nur ein Aspekt der gemeinsamen Erklärung, die nach Darstellung der EU insgesamt fünf "Säulen" hat: makroökonomische Stabilität, Handel und Investitionen, eine grüne Energiewende, Kontakte zwischen den Bevölkerungen etwa durch Studierendenprogramme sowie Migration.
Teil der von Ursula von der Leyen angekündigten Hilfen sind ein 10-Millionen-Euro-Programm, um den Austausch von Studierenden zu verstärken, sowie 65 Millionen Euro, mit denen tunesische Schulen modernisiert werden sollen. Nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters sollen die 900 Millionen Euro als Kredit zur Verfügung gestellt werden - aber nur dann, wenn Tunesien sich mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) auf weitere Hilfskredite einigt. Mit dem IWF verhandelt Tunesien seit Oktober über ein Darlehen im Umfang von 1,9 Milliarden Dollar, bislang ohne Erfolg, weil der tunesische Präsident Kais Saied sich weigert, Subventionen und öffentliche Löhne zu kürzen, um die Staatsfinanzen zu stabilisieren.
Saied ist nicht Erdogan
Es gibt allerdings erhebliche Unterschiede zwischen dem EU-Türkei-Deal und dem jetzigen Abkommen mit Tunesien. Dazu gehört, dass Saied ein höchst unangenehmer Verhandlungspartner ist - noch problematischer als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Saied hat führende Oppositionspolitiker festnehmen lassen und ist dabei, eine Autokratie zu errichten. Und während Erdogan die syrischen Flüchtlinge in der Türkei als "Gäste" bezeichnete, schürte Saied Gewalt gegen Migranten, während er das Abkommen mit der EU aushandelte. Die selbst verursachten Probleme will er dann mit Deportationen lösen.
Grundsätzlich gelten Abkommen nach dem Vorbild des EU-Türkei-Deals als durchaus erfolgversprechend. Dem Migrationsforscher Gerald Knaus, auf den die Idee für das Abkommen mit der Türkei zurückgeht, geht es nach eigenem Bekunden nicht darum, Europa abzuschotten, sondern das Asylrecht zu retten: "An den Außengrenzen findet ein Verlust des Flüchtlingsrechts statt, nicht theoretisch, sondern jeden Tag", sagte Knaus im Interview mit ntv.de. Der einzig realistische Ansatz, um das Flüchtlingsrecht zu retten, seien Migrationsabkommen. "Die irreguläre Migration, die so vielen Menschen Angst macht und die Populisten zum Aufstieg verhilft, wird so ersetzt durch eine reguläre Migration und Kooperation."
Die Übereinkunft mit Tunesien folge jedoch nicht dem Vorbild des EU-Türkei-Abkommens, sagte Knaus dem ZDF, sondern sei "ein Wiederbeleben der Art Kooperation, wie sie Italien seit 2017 mit Libyen verfolgt". Eine Folge dieser Politik seien Gräueltaten. Die Abkommen müssten aber auch die Menschenrechte derer achten, die gestoppt werden sollen.
Hunderte Migranten wurden in der Wüste ausgesetzt
Knaus sagte, der von Präsident Saied angestachelte Rassismus lasse "Böses erwarten". Mit einer rassistischen Hetzrede hatte Saied Spannungen in Tunesien im Februar noch angefacht. Ähnlich wie europäische Verschwörungstheoretiker stellte er Migration darin als Versuch dar, die tunesische Bevölkerung auszutauschen. "Das unerklärte Ziel der immer neuen Wellen illegaler Einwanderung besteht darin, Tunesien als rein afrikanisches Land zu betrachten, das keine Zugehörigkeit zu den arabischen und islamischen Nationen hat", behauptete Saied.
Die Afrikanische Union warf dem tunesischen Präsidenten vor, eine "Hassrede" gehalten zu haben, deren Inhalt und Form schockierend sei. Das tunesische Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte, FTDES, schätzt, dass sich bis zu 50.000 Migranten aus Sub-Sahara-Staaten in Tunesien aufhalten. Ein FTDES-Sprecher sagte, Saied versuche, einen imaginären Feind aufzubauen, um die Tunesier von ihren tatsächlichen Problemen abzulenken.
Saieds Rede löste eine Welle von Gewalt gegen schwarze Afrikaner in Tunesien aus, so Amnesty International. Vor allem in Sfax, der zweitgrößten tunesischen Stadt, kam es in den vergangenen Wochen zu Auseinandersetzungen zwischen Migranten aus Staaten südlich der Sahara und Einheimischen. Im Mai wurde ein Mann aus Benin getötet, im Juli ein Tunesier. Tunesische Sicherheitskräfte reagierten mit gewaltsamen Ausweisungen: Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft Tunesien vor, mehrere hundert Migranten, darunter Kinder, schwangere Frauen und Personen mit legalem Aufenthaltsstatus, an der Grenze zu Libyen ausgesetzt zu haben. Nach Angaben des FTDES wird eine Gruppe von 28 Personen vermisst.
Erst an diesem Montag retteten libysche Sicherheitskräfte mindestens 80 erschöpfte und dehydrierte Migranten, die wahrscheinlich von tunesischen Sicherheitskräften an der Grenze ausgesetzt worden waren. In einem vom libyschen Innenministerium veröffentlichten Video sagten zwei Nigerianer, sie seien von tunesischen Soldaten geschlagen, in die Wüste gebracht und in Richtung Libyen geschickt worden. Mit Verweis auf solche Praktiken nannte der frühere Fraktionschef der Liberalen im Europaparlament, Guy Verhofstadt, das Abkommen empörend.
Ausweg Drittstaaten
Unproblematisch sei es, so Migrationsforscher Knaus, wenn die EU mit Tunesien darüber verhandele, dass das Land eigene Staatsbürger schneller zurücknehme und im Gegenzug legale Wege für Tunesier nach Europa anbiete, etwa für Studierende. Im vergangenen Jahr waren Tunesier mit knapp 18.500 Personen nach Angaben der IOM die drittgrößte Gruppe der in Europa ankommenden Migranten, 2021 sogar die größte Gruppe. In diesem Jahr liegen tunesische Staatsbürger allerdings nur noch auf Platz neun. Als Flüchtlinge anerkannt werden Tunesier nur selten. Es gebe politische Verfolgung in Tunesien, sagte Knaus, "aber das sind selten die Menschen, die sich in diese Boote setzen". Die Bürger anderer Staaten nach Tunesien zurückzuschicken, würde dagegen nur funktionieren, wenn die EU die katastrophale Menschenrechtslage ignoriere.
Knaus plädiert für Abkommen mit "sicheren Drittstaaten, die nicht notwendigerweise in Nordafrika liegen", wo dann Asylverfahren stattfinden könnten. In einem Interview mit der österreichischen Zeitschrift "Profil" erläuterte Knaus, was er damit meinte: "Wir brauchen mehr sichere Drittstaaten, damit der Flüchtlingsschutz eine Zukunft als globale Konvention im 21. Jahrhundert hat. Und nur so lässt sich irreguläre Migration human reduzieren." Diesen Drittstaaten müsse Europa dann dabei helfen, ein verlässliches Asylsystem zu entwickeln.
Quelle: ntv.de