Verschärfte Asylverfahren Die Abschottung der EU steht auf wackeligem Fundament


Ein Offizier der Küstenwache verschließt den Eingang zu einem Flüchtlingslager nahe Athen - bald sollen an Europas Grenzen Asylzentren mit haftähnlichen Bedingungen entstehen.
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Werden aufgrund der geplanten EU-Asylreform weniger Flüchtlinge nach Deutschland kommen? Viele Anhaltspunkte gibt es dafür bisher nicht. Mitgliedsstaaten an der Außengrenze könnten Migranten weiter durchwinken. Auch auf die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern ist kaum Verlass.
Abschottung nach außen, Geschlossenheit nach innen. Diese Botschaft suggeriert der Plan der EU-Mitgliedsstaaten für eine Reform der gemeinsamen Asylpolitik, zumindest auf den ersten Blick. Wer in der Europäischen Union geringe Aussicht auf Asyl hat, wird vor der Abschiebung einige Wochen in Lagern an den Außengrenzen untergebracht. Migranten mit Aufenthaltserlaubnis oder hoher Aussicht darauf verteilen sich dann auf die einzelnen Staaten, die wiederum zur Kasse gebeten werden, falls sie die Aufnahme verweigern. So weit die Theorie.
Doch das marode Fundament, auf dem das europäische Asylsystem aufgebaut ist, wird dadurch nicht zwangsläufig stabiler. Probleme, die eine gemeinsame Migrationspolitik in Europa über viele Jahre scheitern ließen, bleiben trotz der Reform bestehen. Dass Deutschland künftig mit einem geringeren Flüchtlingsstrom rechnen kann, ist entgegen der Beteuerungen der Bundesregierung nicht sicher. Denn das Misstrauen, das zwischen den EU-Mitgliedsländern herrscht, lässt sich durch eine Gesetzesänderung kaum abbauen.
So fühlen sich die Staaten, in denen ein überwiegender Teil der Flüchtlinge ankommt, im Stich gelassen. Italien erreichten in den ersten Monaten dieses Jahres 50.000 Migranten, etwa 2,5-mal so viele wie im Vorjahr. Die Ankunftsländer sind nach EU-Recht verpflichtet, die Asylverfahren durchzuführen. Gegen diese Vorgabe aus der sogenannten Dublin-Verordnung protestierten die Anrainerstaaten des Mittelmeers in den vergangenen Jahren lauthals. Sie forderten einen verbindlichen Schlüssel, nach dem Flüchtlinge auf dem Kontinent verteilt werden. Ohne Erfolg. Das hatte zur Folge, dass sie ihrer Pflicht nicht mehr nachkamen und Migranten in Länder wie Deutschland durchwinkten.
Polen will Koalition gegen Migrationspakt schmieden
Die geplante Reform sieht nun vor, dass 30.000 Flüchtlinge pro Jahr aus den Ankunftsstaaten auf andere Mitglieder verteilt werden. Doch diese Zahl ist nicht besonders hoch angesichts der Migrationsströme, die allein Italien innerhalb weniger Monate bewältigen muss. Zudem sollen erstmals Strafzahlungen von 20.000 Euro pro Migrant anfallen, wenn eine Nation die Aufnahme ablehnt.
Insbesondere Polen und Ungarn, die sich seit jeher gegen jede Art von Migration sträuben, gehen dagegen auf die Barrikaden. Warschau hat angekündigt, im Europäischen Parlament nach Verbündeten zu suchen, um eine Koalition gegen diesen Solidaritätsmechanismus zu bilden. Die Abgeordneten müssen über die Reform noch abstimmen, bevor sie verabschiedet wird.
Auch unter den Ankunftsstaaten könnte erneut Unmut aufkommen. Falls die im neuen Migrationspakt beschworene Solidarität ihrer Meinung nach zu wünschen übrig lässt, könnten sie wieder dazu übergehen, Flüchtlinge einfach passieren zu lassen. Auf sie kommen durch die Gesetzesänderung sogar neue Verpflichtungen zu. An den EU-Außengrenzen sind nämlich sogenannte Asylzentren geplant.
Migranten können weiterhin mehrere Asylanträge stellen
Dabei handelt es sich um Lager, in denen Asylbewerber unter haftähnlichen Bedingungen ihr Verfahren durchlaufen sollen. Für Menschen, die aus Ländern mit einer Anerkennungsquote unter 20 Prozent stammen, ist ein Schnellverfahren vorgesehen. Ein Antrag könnte auch abgelehnt werden, wenn Migranten aus einem Transitland einreisen, das als sicherer Herkunftsstaat eingestuft wird, wie etwa Tunesien.
Menschen, denen bewusst ist, dass ihre Chancen auf Asyl gering sind, könnten versuchen, die Lager zu meiden. Erik Marquardt, Abgeordneter der Grünen im Europäischen Parlament, sagte in den ARD-"Tagesthemen", dass die schlechten Bedingungen der Unterbringung dazu führen könnten, dass sich Migranten in den Ankunftsstaaten "gar nicht registrieren oder melden". Er befürchtet, dass sie dann "Schlepper nehmen, die vielleicht direkt nach Deutschland kommen".
Selbst wenn Asylbewerber sich ordnungsgemäß registrieren, hindert sie nichts daran, in einem weiteren EU-Land erneut einen Antrag zu stellen. An dieser Schwachstelle des Dublin-Systems ändert die Reform nichts. Und Deutschland ist in Europa nach wie vor eines der bevorzugten Ziele von Flüchtlingen. Zwar hat die Bundesregierung ein Recht darauf, Menschen in den Ankunftsstaat zurückzuschicken, in dem sie ihr erstes Asylverfahren durchlaufen haben. Länder wie Italien verweigern jedoch in vielen Fällen die Wiederaufnahme. Dass Teile der Grünen gegen die EU-Novelle Sturm laufen, mag also nicht nur auf Ideologie, sondern auch auf Zweifeln an der praktischen Umsetzung begründet sein.
Tunesiens Präsident will nicht "Grenzpolizei" spielen
Das Ziel, Flüchtlingsströme zu bändigen, kann die EU nicht im Alleingang erreichen. Sie muss auf die Kooperation mit Herkunfts- und Transitstaaten setzen, damit diese Migranten an der Reise hindern oder sie zumindest wieder aufnehmen, falls sie kein Bleiberecht haben. Aus diesem Grund ermöglicht der Gesetzentwurf in seiner aktuellen Fassung explizit die Abschiebung von Migranten in Transitländer, die als sicher eingestuft werden.
Sowohl EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser umwarben bei ihren Besuchen in Tunis den Präsidenten Kais Saied, damit er Flüchtlingsboote vor der Küste Tunesiens am Ablegen hindert. Vorbild für einen Pakt mit dem Autokraten könnte die Zusammenarbeit mit Libyen sein, das seit Jahren Migranten bei ihrer Flucht übers Mittelmeer abfängt. Menschenrechtsorganisationen wie "Human Rights Watch" beschuldigen die EU-Grenzschutzagentur Frontex, Flüchtlingsboote durch Flugzeuge und Drohnen zu orten, damit die libysche Küstenwache sie abpasst. Anschließend würden die Menschen in Lager gesteckt, wo Folter und Misshandlungen drohten.
Um eine vermutlich ähnlich geartete Partnerschaft mit Tunesien zu vertiefen, legte von der Leyen insgesamt mehr als eine Milliarde Euro sowie Visa-Erleichterungen für Fachkräfte auf den Tisch. Saieds Begeisterung über das Angebot hielt sich jedoch in Grenzen. Er wolle nicht Europas "Grenzpolizei" spielen, sagte er.
Aufwärtstrend für Populisten setzt EU unter Druck
Vielleicht pokert Saied, damit europäische Staats- und Regierungschefs bei den nächsten Besuchen weitere Geldgeschenke im Gepäck haben. Oder er hat wirklich keine Lust. Dafür spricht zum einen, dass der Präsident selbst durch rassistische Hetze sowie die Zerstörung der letzten Überbleibsel demokratischer Institutionen die jüngste Migrationswelle aus seinem Land angestoßen hat. Zum anderen weigert sich Tunesien - wie viele andere afrikanische Staaten - vehement, seine Landsleute wieder aufzunehmen, wenn die EU sie abschieben will. Warum also sollte Saied nun ein verlässlicher Partner werden, wenn es um das Abfangen anderer Staatsangehöriger geht?
Die Anbandelungsversuche mit dem Autokraten spiegeln die Verzweiflung der EU wider. Die Zahl der Flüchtlinge auf dem Kontinent wird höchstwahrscheinlich weiter steigen, auch aufgrund zunehmender Klimakatastrophen. Zudem setzte der Aufwärtstrend für rechtspopulistische Parteien in vielen Ländern des Kontinents die Staats- und Regierungschefs unter Druck, bei der Dauerbaustelle Asylpolitik eine Einigung zu erzielen, die sich als Fortschritt verkaufen lässt. Denn viele EU-Abgeordnete blicken angesichts der Umfragewerte bereits nervös auf die anstehende Europawahl im kommenden Jahr.
Quelle: ntv.de