Gerald Knaus im Interview "Abschiebungen lösen das Problem nicht"
18.05.2023, 10:08 Uhr Artikel anhören
Flüchtlinge aus der Ukraine am Bahnhof von Przemysl, einer polnischen Stadt an der Grenze zur Ukraine. Mehr als vier Prozent der Bevölkerung in Polen sind derzeit ukrainische Flüchtlinge.
(Foto: picture alliance / NurPhoto)
Abschiebungen seien wichtig, sagt der Migrationsexperte Gerald Knaus im Interview mit ntv.de, aber weder sie noch schnellere Asylverfahren würden das Problem der überforderten Kommunen lösen. Grenzkontrollen innerhalb Europas hält Knaus für "pures politisches Theater". Eine einzige Maßnahme sei geeignet, die irreguläre Migration einzudämmen und zugleich das Asylrecht zu retten.
ntv.de: Beim Bund-Länder-Gipfel vor einer Woche wurde eine Begrenzung der "irregulären Migration" beschlossen, eine konsequentere Durchsetzung von Abschiebungen und außerdem will sich der Bundeskanzler für eine Reform des europäischen Asylsystems einsetzen. Täuscht der Eindruck oder führen wir seit Jahren dieselben Debatten?
Gerald Knaus: Ein paar Dinge haben sich schon verändert. Das Konzept, das die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag beschlossen hat, ist ein erster, richtiger Schritt, auch wenn das zunächst nur auf dem Papier steht. Die Ampel hat sich darauf festgelegt, irreguläre Migration zu reduzieren, und sie weiß, dass man dazu die Kooperation von Herkunftsländern und Transitstaaten braucht. Diesen will sie etwas anbieten, das es ihnen attraktiv macht, zu kooperieren.

Gerald Knaus ist Migrationsforscher und Chef der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative (ESI).
(Foto: imago images/Fotostand)
Sprechen wir nicht auch darüber schon seit Jahren?
Aber passiert ist das bisher kaum. Warum nicht? Weil die Zuständigkeiten so kompliziert waren. Ein Beispiel: Im Bundesinnenministerium gab es Leute, die für Abschiebungen zuständig waren. Im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit lag die Zuständigkeit für Entwicklungshilfeprojekte, und das Arbeitsministerium hat sich um legale Arbeitsmigration gekümmert, hatte aber keine Vision, wie man damit kooperationsbereite Länder unterstützen könnte. Es gab schlicht keinen Ansatz, was man Ländern wie Tunesien, Marokko oder Nigeria anbieten könnte, damit diese Länder ihre eigenen Staatsbürger zurücknehmen, wenn sie in Deutschland ausreisepflichtig sind, oder wie man Transitländer dazu bewegt, Menschen aus anderen Ländern zurücknehmen. Die einzige Ausnahme war die EU-Türkei-Erklärung von 2016.
Der sogenannte EU-Türkei-Deal, der auf eine Idee von Ihnen zurückgeht.
Darin erklärte die Türkei sich bereit, auch Nicht-Türken zurückzunehmen. Das ist jetzt eigentlich das Vorbild für das Konzept im Koalitionsvertrag der Ampel.
War es aus Ihrer Sicht ein Fortschritt, dass die Ampel dafür den früheren nordrhein-westfälischen Integrationsminister Joachim Stamp als Sonderbeauftragten eingesetzt hat?
Das erste Resultat, das er erzielt hat, war Georgien. Da ist er hingefahren, und die Georgier haben klar gesagt, dass sie ein sicheres Herkunftsland werden wollen.
Die offizielle Einstufung eines Landes als "sicheres Herkunftsland" bedeutet, dass Asylanträge von Bürgern dieser Staaten schneller bearbeitet und abgelehnt werden können.
Georgien schickt mittlerweile eigene Flugzeuge, um Staatsbürger abzuholen. Jetzt geht es darum, in Deutschland die Verfahren so zu beschleunigen, dass Georgier gar keinen Antrag mehr stellen, weil sie ja nicht verfolgt sind. Im vergangenen Jahr haben 8865 Georgier einen Antrag auf Asyl in Deutschland gestellt. Davon haben neun Menschen Schutz bekommen. Georgien als sicheres Herkunftsland einzustufen, ist also vollkommen legitim. Klar, das hätte schon früher passieren sollen. Aber für manche in der Ampel, vor allem bei den Grünen, ist das Konzept der sicheren Herkunftsländer prinzipiell ein Problem. Das nächste für Deutschland wichtige Land, bei dem es auch viele Ablehnungen gibt, ist der Irak.
Und Syrien und Afghanistan, die beiden Länder, die in der Asyl-Statistik (pdf) ganz oben stehen?
Hier erfolgen derzeit zu Recht keine Abschiebungen - kein Land in Europa schiebt nach Syrien ab. Das war ja der Grund für die gemeinsame Erklärung der EU mit der Türkei: Die EU unterstützt die Türkei mit 6 Milliarden Euro, damit syrische Kinder dort in die Schulen gehen können, damit Syrer Türkisch lernen, damit sie sich dort integrieren können.
Der türkische Oppositionskandidat für die Präsidentschaftswahlen, Kemal Kilicdaroglu, hat es nicht ausdrücklich angekündigt, aber es galt als wahrscheinlich, dass er das Flüchtlingsabkommen kündigen würde, wenn er die Präsidentschaftswahlen gewinnen sollte.
Faktisch ist die EU-Türkei-Erklärung längst tot. Die letzte Rate der zugesagten Summe wird in diesem Jahr überwiesen, ein Nachfolgeprojekt ist nicht in Sicht. Und seit März 2020 nimmt die Türkei niemanden mehr aus Griechenland zurück. Dabei ist die Frage der Migrationsabkommen absolut zentral für die europäische Flüchtlingspolitik.
Was könnte die EU anbieten, um Kilicdaroglu oder Erdogan davon zu überzeugen, das Abkommen zu verlängern?
Im Wahlkampf hat Kilicdaroglu versprochen, dass er die Syrer entweder alle nach Syrien zurückschicken wird, was total unrealistisch ist. Oder nach Europa. Auch das kann er nicht durchsetzen. Aber das würde zu enormen Spannungen führen, zu noch mehr Gewalt an der griechisch-türkischen Grenze. Was wir brauchen, ist die Wiederbelebung einer Kooperation. Die muss im beiderseitigen Interesse sein. Kilicdaroglu hat im Wahlkampf eine Visaliberalisierung für die Türken versprochen. Das ist seit 20 Jahren ein großes Ziel für die Türkei, es war auch Teil der EU-Türkei-Erklärung von 2016. Damals ist das gescheitert, unter anderem, weil die Türkei die Menschenrechtsbedingungen nicht erfüllt hat. Kilicdaroglu ist dazu bereit, sagt er. Das würde auch die EU entlasten, weil es für Türken dann keinen Grund mehr gäbe, Asyl in der EU zu beantragen. Das ist mittlerweile die dritte Gruppe in Deutschland. Dafür könnten Türken visafrei nach Europa reisen - wie fast alle Südamerikaner, wie die Ukrainer schon seit Langem, wie alle Menschen auf dem westlichen Balkan. Aber ohne ein Rücknahmeabkommen gibt es keine Visaliberalisierung.
Visaliberalisierung allein würde als Angebot vermutlich nicht reichen.
Die Türkei bräuchte auch eine neue finanzielle Unterstützung für die Syrer im Land, und für die Gemeinden in der Türkei, die vom Erdbeben dramatisch betroffen sind - dort leben ja auch die meisten syrischen Flüchtlinge. Hier ein finanzielles Angebot zu machen, könnte sicherlich zu einer Einigung führen. Wenn man dazu noch eine geordnete Arbeitsmigration anbietet, Kontingente, über die sich Türken und Syrer, die unter der Wirtschaftskrise leiden, für Jobs in Deutschland bewerben können, dann hätte man ein wirklich gutes Angebot, um irreguläre Migration zu reduzieren.
Ist es überhaupt legitim, von der Türkei zu fordern, dass sie ein Problem löst, das wir so nicht lösen wollen?
Die Türkei hat ihre Grenzen viele Jahre für Flüchtlinge aus dem Nachbarland offengehalten, hat viele Syrer ins Land gelassen und ihnen temporären Schutz gegeben. Das war großartig. Das Gleiche tut die Europäische Union heute für die Ukrainer. In der EU haben im vergangenen Jahr etwa 5 Millionen Ukrainer temporären Schutz beantragt. Mehr als vier Prozent der Bevölkerung in der Türkei sind derzeit syrische Flüchtlinge. Der Anteil der ukrainischen Flüchtlinge in Polen und Tschechien ist genauso hoch. Es ist im europäischen Interesse, der Türkei dabei zu helfen, die syrischen Flüchtlinge aufzunehmen. Derzeit passiert das Gegenteil: Derzeit haben wir eine Politik, wo an der Außengrenze der EU zur Türkei Menschen mit Gewalt zurückgestoßen werden. Diese Pushbacks durch die griechische Grenzpolizei, in der Ägäis und am Grenzfluss Evros, sind ein Bruch von EU-Recht, ein Bruch von internationalem Recht. Das ist dramatisch für den Rechtsstaat, für die Menschenrechte, für die Flüchtlingskonvention und für die türkisch-europäischen Beziehungen. Das durch Kooperation zu ersetzen, wäre für alle ein Gewinn.
Wird so das Problem der deutschen Kommunen gelöst, die über Überlastung klagen?
Im vergangenen Jahr gab es in Deutschland 47.031 erstinstanzliche Ablehnungen von Asylanträgen. Manche werden in Berufung gehen, manche werden doch noch Schutz bekommen. Aber nehmen wir rund 47.000 Negativentscheidungen als Richtwert. Ein Drittel dieser Antragsteller kam aus den Westbalkanstaaten, aus Georgien und Moldau. Wenn diese beiden Länder sichere Herkunftsländer werden, und wenn die Verfahren für sichere Herkunftsländer noch schneller werden, wie das jetzt beschlossen wurde und wie Österreich und die Schweiz das längst machen, dann würden rund 15.000 Asylanträge vielleicht gar nicht mehr gestellt. Für die Asylverfahren wäre das eine wirkliche Entlastung in relativ kurzer Zeit, mit Maßnahmen, die sehr realistisch sind, denn Nachbarländer haben sie schon ergriffen.
Aber diese 47.000 sind nur vier Prozent der Menschen, die im letzten Jahr in Deutschland insgesamt Schutz bekommen haben. Von einer echten Entlastung der Kommunen durch Abschiebungen oder schnellere Asylverfahren zu reden, ist also ein Irrtum. Abschiebungen sind wichtig - bei Straftätern, bei Gefährdern, um das Prinzip des Rechtsstaats aufrechtzuerhalten. Aber sie lösen nicht das Problem der Überforderung der Kommunen.
Was löst das Problem der Überforderung?
Die Kommunen haben im vergangenen Jahr einer Million Menschen aus der Ukraine Schutz gegeben. Wenn bis zum Herbst 200.000 Ukrainerinnen zurückgehen könnten, weil die Ukraine erfolgreich ist bei der Rückeroberung ihrer Gebiete, dann wäre das ein Effekt für die Kommunen, der mit nichts anderem erreicht werden kann. Die wichtigste Bekämpfung von Fluchtursachen ist, was Verteidigungsminister Boris Pistorius macht: die Unterstützung der Ukraine. In der öffentlichen Debatte wird das häufig nicht gesehen, da wirkt es oft so, als wären Abschiebungen in die Maghreb-Staaten der zentrale Schlüssel zum Erfolg. Wissen Sie, wie viele Abschiebungen es 2022 nach Marokko, Tunesien und Algerien gab?
Nicht so viele?
In Deutschland gab es 2022 aus den drei Maghreb-Ländern insgesamt 3718 Asylanträge und 664 Abschiebungen dorthin. Das entspricht 5 Prozent aller 12.945 Abschiebungen im vergangenen Jahr. Aber insgesamt hat Deutschland mehr als 1,1 Millionen Menschen Schutz gewährt. Die Überlastung der Kommunen geht zu 80 Prozent auf Putins Angriffskrieg auf die Ukraine zurück. Das ist keine Ausrede der Bundesinnenministerin, das stimmt.
Nehmen wir mal an, dass nicht ständig Krieg ist in Europa …
Aber das ist leider nicht die Ausnahme! In den 1990er Jahren gab es in Europa infolge der Balkankriege Millionen Flüchtlinge, wir hatten Flüchtlinge aus Tschetschenien, seit 2014 ist Krieg in der Ukraine, jetzt dieser große Krieg mit 12 Millionen Vertriebenen, von denen ein Großteil in der Ukraine geblieben ist. Europa ist der Kontinent der Flüchtlinge geworden! Die Zahl der Menschen, die irregulär über das Mittelmeer kommen, ist im Vergleich dazu klein. Laut Frontex waren es im vergangenen Jahr 160.000 Menschen, von Spanien über Italien bis Griechenland, die über das Mittelmeer gekommen sind. Das sind so viele, wie in zwei Tagen im März 2022 aus der Ukraine nach Polen gekommen sind.
In diesem Jahr steigt die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine nicht so stark.
80 Prozent der Menschen, die 2022 in Deutschland Schutz bekamen, waren Ukrainerinnen. In diesem Jahr hielt sich die Zahl der Ukrainerinnen und die Zahl der Asylanträge aus anderen Ländern die Waage - jeweils ungefähr 80.000. Bis zum Ende dieses Jahres könnten es 300.000 Ukrainerinnen und 300.000 Asyl-Antragsteller werden. Das zusammen ergibt eine enorme, eine einmalige Herausforderung für die Kommunen.
Wie sehen Sie Forderungen nach stärkeren Kontrollen an den deutschen Grenzen, um potenzielle Asylbewerber gleich dort abweisen zu können?
Das ist pures politisches Theater. Das zeigen die Erfahrungen aller Schengen-Länder, die seit 2015 Binnengrenzkontrollen eingeführt haben. Frankreich kontrolliert an seinen Binnengrenzen seit November 2015. Es gab eine Einigung mit Italien, in der Italien zugesagt hat, Flüchtlinge zurückzunehmen. Damals verkündete Frankreich stolz, man habe 50.000 Leute nach Italien zurückgeschickt. Aber diese Leute verschwinden nicht einfach, die probieren es ein zweites, ein drittes, zur Not auch ein viertes Mal. Zwischen 2015 und 2019 hat sich die Zahl der Asylanträge in Frankreich verdoppelt! Auch Österreich kontrolliert seine Grenzen seit 2016, der spätere Bundeskanzler Sebastian Kurz war ganz stolz darauf. Nach sechs Jahren Grenzkontrollen hatte Österreich im letzten Jahr mehr Asylanträge als in der Zeit davor. 109.000 Asylanträge gab es 2022 in Österreich. Das ist die Hälfte von Deutschland bei einer Bevölkerung von ungefähr einem Zehntel. Nebenbei: Trotz Sebastian Kurz war Österreich in den vergangenen fünf Jahren das Land in der Welt, das nach Verfahren am meisten Schutz pro Kopf gegeben hat. Das zeigt uns etwas ganz Wichtiges: Es kommt nicht auf die Rhetorik an, sondern auf die Rechtsstaatlichkeit.
Seit den 1990er Jahren wird eine striktere Flüchtlingspolitik in Deutschland damit begründet, dass das Asylrecht geschützt werden müsse. Ist das nicht zynisch, Menschen daran zu hindern, ein Recht wahrnehmen zu können, damit dieses Recht erhalten bleibt?
An den Außengrenzen der EU haben wir einen Zustand der permanenten und systematischen Rechtlosigkeit. Menschen werden an der kroatisch-bosnischen Grenze verprügelt, ausgeraubt, Kinder zurückgestoßen nach Bosnien. Die griechische Küstenwache packt Leute auf Plastikboote und schickt sie zurück in die Türkei. An der polnischen Grenze zu Belarus werden Kinder, Frauen und Männer zurückgeschickt in den Urwald. An den Außengrenzen findet ein Verlust des Flüchtlingsrechts statt, nicht theoretisch, sondern jeden Tag. Wenn man das Flüchtlingsrecht retten will, auch an den Außengrenzen der EU, dann braucht man eine Strategie. Man muss diese Länder davon überzeugen, dass es besser ist, Menschenrechte und Kontrolle zu verbinden. Da ist der Ansatz der Ampel der einzige, der eine Chance hat: nämlich Migrationsabkommen. Die irreguläre Migration, die so vielen Menschen Angst macht und die Populisten zum Aufstieg verhilft, wird so ersetzt durch eine reguläre Migration und Kooperation. Das ist die einzige Chance, das Asylrecht zu retten.
Mit Gerald Knaus sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de