Angriffe auf Einberufungsämter Warum russische Rentner plötzlich zu Molotow-Cocktails greifen


Die Hälfte aller Täter, die in den vergangenen Tagen Brandanschläge auf Einberufungsämter verübt haben, sind über 50 Jahre alt.
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Innerhalb weniger Tage werden in Russland und auf der annektierten Krim 30 Einberufungsämter angegriffen. Die Täter sind oft ältere Menschen, einige sind auch bekennende Kriegsunterstützer. Was treibt sie dazu, Militäreinrichtungen in Brand zu stecken? Ihre Erklärungen sind oft skurril.
Schüler einer Schule in Feodossija auf der Krim staunten nicht schlecht, als sie nach der versuchten Brandstiftung einer Einberufungsbehörde in ihrer Stadt in der Täterin ihre Russischlehrerin Tatjana B. erkannten. Wie kann es sein, dass die zierliche, 51 Jahre alte Frau am helllichten Tage plötzlich einen Molotow-Cocktail auf das Gebäude eines Amts wirft, das für die Einberufung junger Männer für den Krieg in der Ukraine zuständig ist? Zumal B. in ihrer Stadt als eine glühende Anhängerin der "militärischen Spezialoperation" bekannt ist - nach lokalen Medienberichten sammelte sie Spenden und humanitäre Hilfe für russische Soldaten und schickte diese an die Front.
B.s versuchter Angriff - sie verfehlte das Ziel und wurde festgenommen - ist nur ein Beispiel aus einer mysteriösen Reihe von 30 Brandanschlägen auf Einberufungsämter, die sich innerhalb einer Woche in ganz Russland und auf der annektierten Krim ereigneten. In Moskau, Sankt Petersburg, Kasan, in Sibirien, im Kaukasus und anderen Regionen zündeten mehrere Russen in den vergangenen Tagen Brandflaschen an. In den meisten Fällen gab es keine Verletzten, die Gebäude wurden nicht oder nur leicht beschädigt, die Angreifer ließen sich nach der Tat widerstandslos festnehmen. Doch warum greifen Russen jetzt - 18 Monate nach Beginn des Krieges - plötzlich massenhaft Militärkommissariate an?
Über 50, weiblich, regimetreu
Schon ein kurzer Blick auf die Biografien der Täter lässt vermuten: Hier handelt es sich nicht um eine Aktion von jungen Kriegsgegnern, die von einer möglichen weiteren Mobilisierungswelle betroffen sein könnten. Die Hälfte der identifizierten Angreifer sind über 50 Jahre alt. In Wolgograd wurde sogar eine 82-Jährige bei einem gescheiterten Brandanschlag mit einem Molotow-Cocktail in der Hand festgenommen. Die meisten Täter sind Frauen. Bei ihren Aktionen zeigen und rufen sie keine Antikriegsbotschaften.
Und fast alle geben nach ihrer Festnahme an, auf Anweisung von Fremden gehandelt zu haben. So berichtet das russische Medium "Shot" von einem 76-jährigen Rentner aus Sewerodwinsk in der Region Archangelsk, den ein "ukrainischer Kurator" kontaktiert und verlangt haben soll, das Rekrutierungsbüro in Brand zu setzen, um die dort anwesenden Menschen zu "bestrafen", weil sie "am Hochverrat beteiligt" seien. Auch in vielen anderen Fällen ist die Rede von Betrügern und ausländischen "Kuratoren", die regimetreue Russen dazu bringen, Brandanschläge auf Militäreinrichtungen zu verüben.
Um Ersparnisse gebracht, zum Brandanschlag angestiftet
Ein Familienmitglied eines älteren Mannes, der wegen versuchter Brandstiftung festgenommen wurde, erzählte dem regierungskritischen Exil-Medium "Meduza" anonym, die Betrüger hätten seinen Verwandten zum ersten Mal bereits vor mehr als einem Jahr kontaktiert. Sie hätten sich als Mitarbeiter der Zentralbank ausgegeben und den Rentner dazu gebracht, seine Ersparnisse an sie zu überweisen. Angeblich habe eine Person Zugriff auf sein Konto erhalten und plane, einen größeren Betrag abzuheben, sollen die Betrüger dem Mann vorgegaukelt haben. Um dies zu verhindern, solle der Mann selbst sein Geld auf ein spezielles Konto überweisen. Um sein Geld gebracht, alarmierte der ältere Mann schließlich die Polizei, doch die Ermittlungen verliefen im Sande.
Ende Juli habe sein Verwandter erneut einen Anruf erhalten, erzählt der Mann "Meduza". Er werde sein Geld zurückbekommen, wenn er "bestimmte, für unser Land notwendige Maßnahmen" ergreife, soll dem alten Mann gesagt worden sein. Der Rentner fiel wieder auf den Betrug herein: Auf Anweisung der falschen Ermittler steckte er die Einberufungsbehörde in seiner Stadt in Brand und wurde anschließend festgenommen.
"Sie sind eine Patriotin Russlands, Sie müssen Ihrem Land helfen"
Auch Tatjana B., die Russischlehrerin aus Feodossija, ließ sich offenbar von Betrügern manipulieren. Wie die russische Boulevard-Zeitung "Komsomolskaja Prawda" berichtet, wurde die Frau zuvor um umgerechnet rund 30.000 Euro gebracht. Hinter der Aktion stehe eindeutig der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU, behauptet das Blatt, ohne Belege zu nennen. Laut dem Bericht redeten die Betrüger der "leicht zu beeinflussenden Frau" ein, dass ihr Mann, der im vergangenen Jahr an einer Krankheit gestorben ist, in Wirklichkeit "von ukrainischen Nationalisten" getötet worden sei. Und sie sei angeblich die nächste auf der Todesliste.
Die "Terroristen" hätten sich in einem Gebäude im Zentrum der Stadt versammelt und die Frau müsse dringend auf sie aufmerksam machen, indem sie einen Molotow-Cocktail gegen das Haus werfe, wurde der Frau laut "Prawda" am Telefon gesagt. Als die Lehrerin ihre Zweifel geäußert habe, sei ihr gesagt worden: "Sie sind eine Patriotin Russlands, Sie müssen Ihrem Land helfen", heißt es im Bericht.
Betrugsopfern drohen lange Haftstrafen
Die aktuellen Angriffe auf die Einberufungsämter sind nicht die ersten solcher Art in Russland. Im April berichtete das regierungskritische Portal "Mediazona" von 16 Attacken auf Einberufungsämter, Banken und eine Polizeistation, bei denen die Täter oft regimetreue Rentner waren und nach der Festnahme angaben, von falschen Polizisten oder Geheimdienstmitarbeitern zu den Taten aufgefordert worden zu sein.
Russische Medien und Behörden beschuldigen zwar ukrainische Geheimdienste, hinter der Betrugsserie zu stecken. Belege dafür gibt es aber keine. Die ukrainische Regierung äußerte sich nicht dazu. Selbst wenn die russischen Ermittler die echten "Auftraggeber" ausfindig machen, drohen den Betrugsopfern wegen Brandstiftung zum Teil lange Haftstrafen.
Nach Angaben von "Mediazona" wurden in 10 der 30 aktuellen Fälle Strafverfahren eingeleitet. Sieben Russen wurden wegen "vorsätzlicher Zerstörung oder Beschädigung von Eigentum", zwei weitere wegen Rowdytums angeklagt. Ihnen drohen Haftstrafen von bis zu acht Jahren. Gegen einen 35-Jährigen und eine 70-Jährige, die in der Stadt Ulan-Ude ein ehemaliges Gebäude des Einberufungsamts in Brand stecken wollten, wird sogar wegen Terrorismus ermittelt. Den beiden droht eine Strafe von bis zu 20 Jahren Haft.
Quelle: ntv.de