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Touristen als "Schutzschild" Für Krim-Urlaub nehmen Russen alle Risiken in Kauf

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"Menschen, die ihren Urlaub auf der Krim verbringen, sind psychisch stabil genug", sagt ein russischer Reise-Experte.

"Menschen, die ihren Urlaub auf der Krim verbringen, sind psychisch stabil genug", sagt ein russischer Reise-Experte.

(Foto: picture alliance/dpa/TASS)

Schöne Strände, milde Temperaturen und niedrige Preise locken viele Russen auf die Krim. Dass die Halbinsel eigentlich im Kriegsgebiet liegt, scheint hier niemanden zu stören, man fühlt sich "wie zu Hause". Bis es mal wieder kracht.

Es ist August vergangenen Jahres, als die Bloggerin Swetlana aus Nordsibirien über Nacht überregionale Bekanntheit erlangt. Ihr Video einer überstürzten Flucht von der annektierten Halbinsel Krim nach einem ukrainischen Angriff auf eine russische Militärbasis bei Saki wird millionenfach geteilt. "Ich will die Krim überhaupt nicht verlassen, wir haben uns hier wie zu Hause gefühlt", weint die Frau im kurzen Clip. In der Ukraine sorgt das böse Erwachen der russischen Touristin für Häme und unzählige Parodien. Dabei schlug Swetlana wenige Tage zuvor noch ganz andere Töne an. "Hier ist es so ruhig, kommt her, erholt euch, habt keine Angst!", warb die Frau schwärmend für einen Urlaub auf der 2014 völkerrechtswidrig durch Russland annektierten Krim.

Der Angriff auf den russischen Stützpunkt im Osten der Halbinsel war erst der Anfang, seitdem wird die Krim immer wieder von der ukrainischen Armee attackiert. Nach dem Angriff auf die Krim-Brücke am vergangenen Montag – dem zweiten innerhalb von neun Monaten – dürfen viele russische Urlauber am eigenen Leib erleben, wovon Bloggerin Swetlana im vergangenen August gesprochen hatte. "Uns wurde gesagt 'Kommt auf die Krim, hier ist es sicher' - wir haben es geglaubt. Und wie kommen wir nun nach Hause?", beschwert sich etwa ein Tourist aus St. Petersburg auf Telegram. Der Traumurlaub am Meer wird für viele Russen zum Albtraum.

Russen sollen durch Kampfgebiete reisen

Nach der Explosion am Montag können Tausende Touristen nicht abreisen und sitzen auf der Halbinsel fest. Durch die Beschädigung der Brücke fiel eine wichtige Verbindung zwischen der Halbinsel und dem russischen Festland teilweise weg. Am Dienstag gaben die Behörden zwar eine Spur für den PKW-Verkehr frei, die Zug-Strecke wurde bei den Explosionen nicht beschädigt. Dennoch bilden sich seit Montag kilometerlange Staus - vor der Brücke, vor den Fähr-Terminals auf der Halbinsel sowie auf der Landroute, die über die besetzten Gebiete im Süden der Ukraine nach Russland führt.

Nach dem Angriff hatte das russische Verkehrsministerium den Urlaubern empfohlen, zur Umfahrung der beschädigten Brücke die Straße über die "neuen Regionen" zu nutzen – eine 400 Kilometer lange Strecke durch im Zuge der russischen Invasion besetzten ukrainischen Gebiete. Wer sich für die Reise über Melitopol und Mariupol entscheidet, muss nicht nur mit fehlender Infrastruktur und mangelhaftem Mobilnetz rechnen: In der Nähe der Straße verläuft die Front, die Gebiete werden immer wieder von der ukrainischen Armee angegriffen. Statt eigene Bürger vor möglichen Gefahren einer solchen Route zu warnen, schickt der Kreml die Touristen mitten ins Kriegsgebiet. "Es gibt nicht sehr viele Länder auf der Welt, denen die eigenen Menschen derart egal sind", schrieb der von der Krim stammende ukrainische Journalist Denis Trubetskoy daraufhin auf Twitter.

Dabei ist die Empfehlung, durch die Kampfgebiete auf die Krim zu reisen, nicht ganz neu. Bereits Anfang des Monats schlug der russische Verkehrsminister Witalij Saweljew bei einem Treffen mit Präsident Wladimir Putin vor, russische Bürger sollten nach Möglichkeit durch den Landkorridor auf die Halbinsel reisen. Der Hintergrund: Bereits nach dem ersten Angriff auf die Krim-Brücke im Oktober 2022 kam es zu Logistikproblemen. Seitdem dürfen nur noch PKW die Brücke von Kertsch befahren. Lastwagen und Touristenbusse werden mit Fähren über die Meerenge transportiert.

Jedes zweite Hotelbett bleibt leer

Kilometerlange Staus an der Krim-Brücke sorgten bereits im Juni für Schlagzeilen in russischen Medien. Grund für die Verzögerungen waren nicht nur der Beginn der Urlaubssaison, sondern in erster Linie die langen Kontrollen der Fahrzeuge wegen der angespannten Sicherheitslage. Die Tatsache, dass es trotz zahlreicher Maßnahmen zum erneuten Angriff kam, sorgt bei vielen Russen und Krim-Bewohnern für Kopfschütteln: "Die Menschen wurden wegen der Kontrollen vor der Brücke sieben Stunden lang im Stau mariniert, und jetzt kommt der Angriff von einer ganz anderen Seite", zitiert das Exil-Medium Meduza eine Bewohnerin von Simferopol.

Die langen Staus entstanden, obwohl die Zahl der Buchungen auf der Halbinsel seit Beginn der Invasion stark zurückging - nach Angaben örtlicher Behörden waren die Hotels im Juni nur zu etwa 50 Prozent ausgelastet. Krim.Realii, der Ableger des US-Senders Radio Liberty, berichtete vor einer Woche von halbleeren Stränden selbst in beliebtesten Ferienorten wie Jalta oder Sudak. Immer mehr Russen bekommen mit, dass Urlaub auf der Halbinsel nicht sicher ist – auch wenn die Staatspropaganda da anderer Meinung ist.

Neben den ukrainischen Angriffen und Anschlägen auf Vertreter der Besatzungsverwaltung dürften die Urlauber auch die zahlreichen Verteidigungsanlagen abschrecken, die in den letzten Monaten angesichts der ukrainischen Pläne, die Halbinsel zurückzuerobern, massiv ausgebaut wurden. So wurden einige Strände vermint, an anderen entstanden Schützengräben. Wie Krim.Realii berichtet, wurde etwa der ehemals beliebte Badeort Mizhvodne an der Ostküste zum Stützpunkt der russischen Armee. Der Tourismus-Betrieb sei dadurch komplett entfallen. Nach ukrainischen Angaben wurden Eigentümer von Immobilien an der Küste sogar dazu aufgefordert, ihre Häuser zu räumen, weil sie "den Bau von Verteidigungsanlagen behindern". Unabhängig lassen sich diese Angaben nicht überprüfen.

Touristen als Schutzschild vor ukrainischen Angriffen?

Urlauber auf der annektierten Halbinsel sind wichtig für den Kreml. Zum einen unterstützen sie die angeschlagene Tourismus-Branche der seit 2014 international isolierten Halbinsel, zum anderen könnte Russland Touristen auch als Schutzschild gegen die ukrainischen Angriffe einsetzen. Nach Ansicht des ukrainischen Präsidenten-Beraters Mychajlo Podoljak habe Russland die Staus im Juni absichtlich verursacht, um die Krim-Brücke vor Attacken zu schützen. Anfang Juli warnte Podoljak die Russen vor Reisen in die besetzten ukrainischen Gebiete, einschließlich der Krim. Menschen, die dort Urlaub machen, müssten verstehen, "dass sie dort keine Touristen sind – sondern Komplizen der Besatzung, mit allen juristischen Konsequenzen in der Zukunft", sagte Podoljak im ukrainischen Fernsehen.

Auch wenn die Krim weniger Besucher zählt als vor der Invasion: Es gibt immer noch Menschen, die trotz aller Risiken und Gefahren dort Urlaub machen. Die Preise der Unterkünfte auf der besetzten Halbinsel sind selbst im Vergleich zu Ferienorten an der Schwarzmeer-Küste in Russland relativ niedrig. Zudem ist Trubetskoy zufolge vielen Russen tatsächlich nicht bewusst, dass es auf der Krim gefährlich ist. "Einige kapieren es erst vor Ort, dass einige Strände beispielsweise vermint und daher geschlossen sind", schreibt der Journalist auf Twitter.

Krim-Urlauber sind "psychisch stabil"

Der Verband der Reiseveranstalter Russlands erklärt die Bereitschaft der Russen, auf die Halbinsel zu reisen, dagegen mit ihrer angeblich hohen Stresstoleranz: "Menschen, die ihren Urlaub auf der Krim verbringen, sind psychisch stabil genug: Sie verstehen, dass die Brücke ein militärisches Ziel ist, die Risiken sind da, sie sind hoch, und sie nehmen diese Risiken in Kauf", erklärt Sergej Romaschkin, Vizepräsident des Verbands, dem russischen Nachrichtenportal 161.ru.

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Und wenn nach größeren Zwischenfällen - wie dem Angriff auf die Krim-Brücke – die Zahl der Touristen zurückgeht, werden sie bald zurückkehren, ist sich Vizepräsident der Allianz der Reisebüros Russlands, Alexan Mkrtchyan, sicher. "Ich bin seit 33 Jahren im Tourismus tätig und kann sagen, dass sich die Menschen an schlechte Nachrichten nur zwei Wochen lang erinnern. Dabei spielt es keine Rolle, was es ist: ein Tsunami, ein Hai, der jemanden gefressen hat, ein explodierter Vulkan oder die Vogelgrippe", sagt Mkrtchyan 161.ru. "In vierzehn Tagen werden die Nachrichten ganz anders aussehen."

Wenn es tatsächlich so kommt, wie der russische Reise-Experte voraussagt, kann es auch sein, dass die Bloggerin Swetlana aus Sibirien ihren Sommerurlaub wieder auf der Krim verbringt. Vielleicht kann sie sich dann auf der besetzten Halbinsel auch wieder "wie zu Hause" fühlen - zumal Angriffe und Kampfhandlungen auch auf dem russischen Staatsgebiet keine Seltenheit mehr sind.

Quelle: ntv.de

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