Deportationen und Pässe Wie Russland an der Russifizierung der besetzten Gebiete arbeitet


Putin bei einem Treffen mit der russischen "Menschenrechtsbeauftragten" Tatjana Moskalkowa.
(Foto: picture alliance / Russian Look)
Wer in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine nicht Russe werden will, muss künftig damit rechnen, deportiert zu werden. Die Maßnahmen könnten als Kriegsverbrechen eingestuft werden. Moskau will offenbar Fakten schaffen, bevor es zu spät ist.
Ende April unterschrieb der russische Präsident Wladimir Putin ein Dekret, das sowohl in der Ukraine als auch international für Wirbel sorgte. Vorgeblich soll das Dokument die Aufenthaltsregeln für Ausländer in den von Russland besetzten Teilen der ukrainischen Bezirke Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja festlegen. Tatsächlich öffnet es die Tür für Deportationen. Denn bis Juli 2024 müssen ukrainische Staatsbürger in den Gebieten, die nach russischer Lesart zur Russischen Föderation gehören, die russische Staatsbürgerschaft annehmen, wenn sie in ihrer eigenen Heimat nicht als Ausländer gelten wollen.
Auf dem Papier schützt Artikel 11 des Putin-Dekrets auch Ukrainer, die die russische Staatsbürgerschaft ablehnen, vor Ausweisungen, Deportationen und einigen anderen festgeschriebenen Prozeduren. Im Endeffekt macht das Dekret aber deutlich, dass sich diese Personen auf dem besetzten Gebiet alles andere als sicher fühlen können. Deportiert werden können Ukrainer dann, wenn sie "eine Bedrohung für die nationale Sicherheit der Russischen Föderation" darstellen oder "in die öffentliche Ordnung und Sicherheit" eingreifen.
Selbst die Annahme der russischen Staatsbürgerschaft schützt nicht
Die Definitionen dieser Begriffe sowie ihre bisherige Anwendung in der Praxis ist in Russland derart breit angelegt, dass darunter so gut wie alles fallen kann. Zur "Gefahr für die nationale Sicherheit" gehören etwa "Wege der Unterstützung extremistischer und terroristischer Tätigkeit". In Russland steht allerdings selbst der US-Technologiekonzern Meta - das Unternehmen, dem Facebook und Instagram gehören - auf der Liste extremistischer Organisationen. Noch breiter ist die "Gefahr für die öffentliche Ordnung". Direkt erwähnt wird im Dekret die Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen. Was darüber hinaus noch dazu gehören könnte, bleibt aber offen.
Nicht einmal Ukrainer, die den russischen Pass bis Juli 2024 erhalten, sind komplett vor Ausweisungen und Deportationen sicher. Denn nach jüngsten Gesetzesänderungen ist es in Russland möglich, die Staatsbürgerschaft zu entziehen, wenn sie erst nach der Geburt erworben wurde. Als Grund werden auch hier "Aktionen, die die nationale Sicherheit gefährden" können, genannt. Nach dem Staatsbürgerschaftsentzug könnten Ukrainer also trotz allem deportiert werden. Anders als bei einer Ausweisung ist für eine Deportation nicht mal ein Gerichtsurteil notwendig. Deswegen ist davon auszugehen, dass dieser Weg in der Praxis bevorzugt wird.
Deportationen können als Kriegsverbrechen eingestuft werden
Artikel 49 der Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung während eines Krieges verbietet jegliche Deportationen der einheimischen Bevölkerung aus besetzten Gebieten. Russland hat dagegen bereits verstoßen; wegen der Verschleppung von Kindern aus der Ukraine hat der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehl gegen Putin erlassen. Auch die erst noch geplanten Deportationen könnten für das Gericht in Den Haag als Kriegsverbrechen eingestuft werden. Die Genfer Konvention konzentriert sich zwar auf die Zivilbevölkerung und lässt sich so deuten, dass ein Zivilist, der zu den Waffen greift, um den Besatzer zu bekämpfen, zum Konfliktteilnehmer wird. Aber es ist klar, dass die Deportation eines Zivilisten, der lediglich an Demonstrationen teilnimmt, durchaus als Kriegsverbrechen bewertet werden kann.
Welchen Teil der aktuell besetzten Gebiete Russland im Juli 2024 noch kontrollieren wird, hängt zu einem großen Teil von ukrainischen Streitkräften und ihrer kommenden Frühjahrsoffensive ab. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass Russland so schnell wie möglich dafür sorgen will, dass es keine Ukrainer mehr in den besetzten Gebieten gibt: Ein von Putin Mitte März unterschriebenes Gesetz schreibt vor, dass die ukrainische Staatsbürgerschaft am Tag der Beantragung des russischen Passes beendet wird - zumindest aus russischer Sicht, die Ukraine erkennt dies natürlich nicht an. Vom Tag der Antragstellung an verbietet es das russische Gesetz, den ukrainischen Pass in irgendeiner Weise zu benutzen. Wer dies trotzdem tut, kann die russische Staatsbürgerschaft erst zehn Jahre später wieder beantragen.
In den "Volksrepubliken" läuft der Prozess bereits seit 2019
Ohne russischen Pass können Bewohner der russisch besetzten Gebiete schon jetzt keine russischen Renten und andere Sozialzahlungen beziehen, von vielen Unternehmen werden sie zudem nicht mehr angestellt. Solche Maßnahmen haben offenbar damit zu tun, dass vor allem in Cherson und Saporischschja die Neigung, russische Pässe zu beantragen, nicht sonderlich ausgeprägt ist - sei es aus Patriotismus oder aus der praktischen Überlegung, dass die Ukraine diese Gebiete bald zurückholen könnte, wie es mit der Stadt Cherson ja im vergangenen Jahr geschehen ist. Unklar ist, ob die offiziellen russischen Zahlen etwas mit der Realität zu tun haben. Demnach haben Stand Ende März angeblich 165.000 Menschen im Bezirk Saporischschja und 90.000 Personen im Bezirk Cherson die russische Staatsbürgerschaft angenommen.
In Donezk und Luhansk ist es anders, weil russische Pässe dort schon seit 2019 an die Bevölkerung der sogenannten Volksrepubliken ausgegeben wurden. Das geschah vor der großen Invasion im Februar 2022 zwar auf russischem Staatsgebiet, weil Russland bis zum 21. Februar 2022 Donezk und Luhansk formal als ukrainisches Territorium betrachtete. Aber die Entscheidung, den Bewohnern dort russische Pässe zu geben, war doch ein gewaltiger Verstoß gegen den Geist der Minsker Friedensvereinbarungen, da es ein Instrument der schleichenden Annexion des Donbass darstellte. Von Teilen der in Donezk und Luhansk verbliebenen Bevölkerung war dies damals zugleich als Chance gesehen worden, zumindest ein halbwegs ernsthaftes Dokument in der Tasche zu haben, denn für die Pässe der "Volksrepubliken" traf das in keiner Weise zu.
Russland will Fakten schaffen, solange es noch geht
Deutlich weniger schleichend ging Russland bei der Annexion der Krim im März 2014 vor. Alle Stand 18. März 2014 auf der Krim gemeldete Personen wurden damals automatisch zu russischen Staatsbürgern erklärt, solange sie nicht innerhalb eines Monats den schriftlichen Verzicht auf den russischen Pass unterzeichneten. Russland annektierte damit gleichsam nicht nur das Territorium, sondern auch die Bewohner der Krim. Viele behielten die so erlangte Staatsbürgerschaft, weil sie Angst vor den Folgen eines Verzichts hatten. Tatsächlich blieb das Unterzeichnen einer Verzichtserklärung lange folgenlos: Wer dies tat, erhielt in der Regel eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung für die Krim. Wenn es sich bei diesen Personen nicht um politische aktive Menschen handelte, interessierten sich die Besatzungsbehörden lange nicht für deren Status.
Dass Russland heute anders vorgeht als vor neun Jahren auf der Krim, hat mehrere Gründe. Zum einen war die Zustimmung der Krim-Bewohner zu den russischen Besatzern unbestritten höher. Zum anderen könnte Russland ein Interesse daran haben, auch Männer aus den Bezirken Cherson und Saporischschja der Mobilmachung zu unterziehen. In Donezk und Luhansk wurden schon zu Beginn der großen Invasion Zehntausende Männer zwangsrekrutiert. Und ganz generell läuft die Zeit Russland davon. Es dürfte Moskaus klares Ziel sein, so viele vermeintliche Tatsachen wie möglich zu schaffen, bevor es dafür zu spät wird.
In der ukrainischen Regierung gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die Bevölkerung in den besetzten Gebieten russische Pässe in Extremfällen annehmen sollte oder nicht. Ein freiwilliger Gang in die russische Staatsbürgerschaft wird in Kiew verständlicherweise nicht gerne gesehen. Der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Dmytro Lubinez rät aber zur Annahme des Passes, wenn es ums Überleben geht. Laut Lubinez wird gerade ein Gesetz vorbereitet, das es nach der Befreiung erlauben soll, offiziell auf die russische Staatsbürgerschaft zu verzichten. Die Ukraine betrachte die Ausgabe der Pässe als Kriegsverbrechen, nicht aber deren Annahme, betonte er.
Iryna Wereschtschuk, Vizepremierministerin für die Reintegration der besetzten Gebiete, empfahl den Ukrainern dagegen deutlich, keine russischen Pässe anzunehmen und die besetzten Gebiete am besten zu verlassen. Sie zeigte aber auch Verständnis dafür, dass dies nicht immer möglich ist. Die offizielle ukrainische Position scheint näher an der von Lubinez als an der von Wereschtschuk zu sein. Die Debatte wird jedoch bestimmt weitergehen.
Quelle: ntv.de