
Andrij Melnyk verlässt am 14. Oktober Berlin und übernimmt einen Posten im ukrainischen Außenministerium.
(Foto: picture alliance/dpa)
Der ukrainische Botschafter ist im Bemühen, seinem Land zu dienen, manchmal in der Wortwahl übers Ziel hinausgeschossen. Bereuen muss er das nicht. Im Gegenteil: Andrij Melnyk hat der deutschen Politik den Spiegel vor die Nase gehalten - und das war gut so.
Die Ukrainer haben einen Hang zu Galgenhumor. Das hat guten Grund: Kaum ein Volk hat in den vergangenen 100 Jahren so sehr unter Fremdherrschaften gelitten wie sie - und alle überlebt. Stalin ließ Millionen Ukrainer verhungern, die Wehrmacht besetzte ihr angestammtes Gebiet, Putin ließ im Februar 2022 seine Armee einmarschieren, annektierte nach der Krim weiteres ukrainisches Staatsgebiet und droht nun mit Atomkrieg. Da kann einem schon mal der Sinn nach schwarzem Humor stehen.
Würde man den ukrainischen Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, als "Kriegsgewinnler" bezeichnen - er würde sicherlich darüber lachen. Vor mehr als einem halben Jahr kannten ihn nur sehr wenige Deutsche. Nun, wo er in seine Heimat zurückkehrt, ist er der vermutlich bekannteste Diplomat, den die Bundesrepublik jemals erlebt hat. Melnyk wird es in viele Geschichtsbücher schaffen, sicher oft mit dem Verweis, er sei "umstritten" gewesen: Die einen liebten ihn für seine klaren Worte, die anderen sahen in ihm eine undiplomatische Nervensäge.
Putin-Versteher forderten Außenminister Annalena Baerbock immer wieder auf, den Ukrainer zur Persona non grata zu erklären. Der Wunsch kam vor allem aus den Reihen von AfD und Linke, deren Basis geeint ist in der Verachtung Amerikas und Hochachtung für Russland. Die marxistische Zeitung "Junge Welt" bezeichnet Melnyk als "sogenannten Botschafter" und "obersten Sittenmullah der Bundesrepublik für den Umgang mit ukrainischen Faschisten". Es verwundert, dass Ultralinke, sonst eifrig bemüht, absolut nichts auf den Islam kommen zu lassen, den Diplomaten eines demokratischen Landes, um ihn schlecht zu machen, ausgerechnet mit muslimischen Rechtsgelehrten vergleichen, die - zugegebenermaßen - bisweilen in der Gedankenwelt des Mittelalters leben.
Der Streit um Bandera
Das kann man über Melnyk nicht behaupten, auch wenn er sich in der Tat bei Äußerungen zum ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera verrannt hat. Der Partisanenführer, der einen ukrainischen Staat anstrebte, hatte im Zweiten Weltkrieg zeitweilig mit der Wehrmacht kooperiert, kam ins KZ Sachsenhausen und wurde später vom KGB ermordet. Die Frage lautet: verehrungswürdiger Nationalheld oder verabscheuungswürdiger Faschist? Der Diplomat neigt wie viele seiner Landsleute zur ersten Variante.
Stepan Bandera war einer der wichtigsten Anführer der Organisation Ukrainischer Nationalisten, die 1929 in Wien gegründet wurde und einen unabhängigen ukrainischen Staat erkämpfen wollte. "Die Ideologie dieser Organisation war faschistisch, antisemitisch, antirussisch und antipolnisch", sagt die Historikerin Franziska Davies im Interview mit ntv.de. Milizen, die Bandera nahestanden, haben sich im Zweiten Weltkrieg an der Vernichtung der Juden beteiligt und waren verantwortlich für die Ermordung von 70.000 Polen 1943 und 1944 in Wolhynien. Davies weist darauf hin, dass die Ukraine erst seit den 1990er Jahren die Beteiligung am Holocaust aufarbeitet. Bandera sei in der Ukraine hoch umstritten.
"Sie haben recht - die Person Bandera müsste neu beleuchtet werden", sagte Melnyk kürzlich dem "Spiegel" und zeigte damit genau das, was seinen Kritikern, allen voran den Putin-Verehrern darunter, massenweise abgeht: die eigene Haltung in Frage zu stellen. Und auch, wenn das in Deutschland aus nachvollziehbaren Gründen extrem schwerfällt, Verständnis für einen faschistischen Nationalisten wie Bandera aufzubringen, dessen Milizen an der Judenverfolgung beteiligt waren, so sollte man versuchen, Melnyks Standpunkt nicht automatisch zu verdammen: "Es ist von uns nicht zu erwarten, dass wir nüchtern unsere Vergangenheit unter die Lupe nehmen, während wir in der Gegenwart von Russland schon wieder ausgemerzt werden."
Baerbock ließ unsinnige Forderungen, den Botschafter des Landes zu verweisen, unkommentiert an sich abprallen - richtig so. Die Grünen-Politikerin verabschiedete Melnyk stattdessen auf Staatssekretärsebene, eine Ehre, die nicht jedem Diplomaten zuteilwird. Der Botschafter hat alle denkbare Wertschätzung verdient, genau wie seine 41 Millionen Landsleute, ganz besonders die, die im wahrsten Sinne des Wortes an vorderster Front gegen die russische Armee kämpfen und - auch für uns Deutsche - europäische Werte verteidigen. Melnyk hat hohen Anteil daran, dass die Bundesrepublik Waffen in die Ukraine lieferte und Kanzler Olaf Scholz mit seinem zögerlichen Kurs nicht durchkam.
Melnyk bohrt in offenen Wunden
Mehr als sieben Jahre vertrat Melnyk die Interessen seiner Landsleute in Deutschland. Wie es für Botschafter üblich ist, trat er lange leise auf, obwohl er längst wusste, was Russland seit der Krim-Annexion Übles trieb und wie gefährlich Putin für die Ukraine ist. Er wurde erst zum undiplomatischen Rumpelstilzchen, als Russland sein Land überfiel. Auch hier sind es vor allem die deutschen Putin-Kumpane im Geiste, die an Melnyk den Maßstab anlegen, der für das Verhalten von Diplomaten normalerweise gilt. "Gut, dass er weg ist", frohlocken sie nun und legen in Wahrheit damit nur offen, dass ihnen die Anliegen und Interessen der Ukraine egal sind. Ihr Motto lautet: Deutschland zuerst. Danach Russland. Der Rest der Welt interessiert sie nicht.
Derlei Kurzsichtigkeit ist Melnyk fremd. Der Ukrainer denkt in internationalen Zusammenhängen. Seinen analytischen Scharfsinn, seine offenkundige Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis hat er dafür genutzt, den Deutschen, vor allem Politikern aller Couleur, immer wieder den Spiegel vor die Nase zu halten und zugleich in offenen Wunden zu bohren, nicht nur was Scholz und seinen ewigen Panzer-Ringtausch angeht.
Ein Beispiel aus jüngster Vergangenheit: Als sich der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer zum Sprecher aller (!) Ostdeutschen aufschwang und Akzeptanz dafür forderte, "dass wir eine andere Position haben" zum russischen Überfall auf die Ukraine, erklärte Melnyk auf Twitter, was es dazu zu sagen gibt: "Es sind nicht 'die Ostdeutschen', die eine 'andere Position' zum Krieg haben. Es sind Sie, der eine andere Position zum Massenmörder Putin hat & sich am 3. Oktober anmaßt, als selbsternannter Anwalt von wunderbaren Menschen aus Ostdeutschland aufzutreten."
Melnyk behielt recht
Schon im Frühjahr 2020 beschrieb Melnyk Altkanzler Gerhard Schröder "als Top-Lobbyist von Russlands Präsident Putin" - er behielt recht. Als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Bau von Nord Stream 2 im Februar 2021 als die "fast letzte Brücke zwischen Russland und Europa" verteidigte und dabei auf die deutsche Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg mit mehr als 20 Millionen Toten in und aus der Sowjetunion verwies, schimpfte der Botschafter öffentlich über "die abwegige Gleichsetzung Russlands mit der Sowjetunion", weil es "das unermessliche Leid anderer Völker der UdSSR während der Nazi-Gewaltherrschaft komplett" ausblende. Auch bei der Beurteilung der Gas-Pipeline behielt Melnyk recht.
Nach Beginn des Krieges, als die Republik über das Engagement von Manuela Schwesig, SPD-Ministerpräsidentin in Mecklenburg-Vorpommern, und Schröder für Putins wirtschaftliche Interessen diskutierte, twitterte der Sozialdemokrat Sören Bartol, Staatssekretär im Bauministerium: "Ich finde diesen 'Botschafter' mittlerweile unerträglich." Er löschte das Statement später und entschuldigte sich. Denn inzwischen setzte sich auch in der SPD der Gedanke durch, dass Melnyk alles Recht der Welt hatte, auf Schwesig und Schröder wütend zu sein.
Jedenfalls konnte der Botschafter schon bald nicht mehr klagen, in der deutschen Spitzenpolitik kein Gehör zu finden. Er war medial stark präsent. "Natürlich gibt es viele Äußerungen, die man im Nachhinein bedauert. Wir sind ja alle Menschen", sagte Melnyk bei einer Veranstaltung des "Tagesspiegel" in Berlin. "Dieser Rückblick wird auch für mich irgendwann kommen, wo ich sagen werde: Wie konnte ich so laut und unhöflich sein seit dem Kriegsbeginn?" Er fügte an: "Ich bereue nicht, was ich hier in Deutschland getan habe." Dazu gibt es auch keinen Grund. Das Gegenteil sollte der Fall sein. Melnyk kann stolz auf das sein, was er für sein Land in einer Ausnahmesituation getan hat.
Quelle: ntv.de