Person der Woche

Person der Woche: Franziskus Fünf Gründe für einen nahenden Waffenstillstand in der Ukraine

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Der ungelenke Aufruf des Papstes, im Ukraine-Krieg Mut zu Verhandlungen aufzubringen, erfährt in der westlichen Politik offiziöse Kritik. Tatsächlich sagt das Kirchenoberhaupt aber, was viele denken. Hinter den Kulissen mehren sich zudem diplomatische Initiativen - aus machtpolitischen Erwägungen.

"Papst Franziskus ist ein besonnener Mann. Seinen Aufruf 'Mut zu Verhandlungen' teile ich", sagt Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer. Der CDU-Landesfürst gehört damit zu den wenigen Spitzenpolitikern der politischen Mitte, die den päpstlichen Aufruf zu Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine unterstützen. Von CDU bis zu den Grünen, von der FDP bis zum Bundeskanzler distanzieren sich die meisten von Franziskus' Vorstoß, vor allem weil dessen Interview mit der missglückten Metapher vom "Hissen der weißen Fahne" verbreitet wurde - so als habe der Papst der Ukraine eine Kapitulation nahegelegt.

Der Vatikan müht sich seither klarzustellen, dass der Papst nur einen Friedensappell aussenden und zu einem beiderseitigen Waffenstillstand ermutigen wollte. Das missverständliche Interview wirkt in der Weltpolitik gleichwohl wie ein Dosenöffner zu einem tatsächlichen Waffenstillstand. Denn nicht nur Kretschmer findet es an der Zeit, für den Start diplomatischer Lösungen. In Wahrheit platzt das Papstwort mitten hinein in einen möglichen Wendepunkt des Krieges. Fünf Gründe sprechen dafür, dass ein Waffenstillstand bald nahen könnte.

Die Front steht still, der Rückhalt schrumpft

Erstens zeigt der Frontverlauf seit nunmehr einem Jahr einen festgefahrenen Stellungskrieg. In einem Korridor von 20 Kilometer haben sich die Armeen ineinander verkeilt. Nachdem die Gegenoffensive der Ukraine vor Jahresfrist stecken blieb, gewinnen die Russen wieder leicht die Überhand. Doch die Front verschiebt sich nur wenige Kilometer - und das bei Zehntausenden Toten. Militärisch ist eine Todesmaschinerie des Stillstands entstanden. Die Ukraine hat keine wirkliche Chance mehr eine Gegenoffensive voranzutreiben und kann mit Mühe den Status Quo halten. Der populäre Ex-Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee Walerij Saluschny hat die militärische Situation im britischen "Economist" als grausames Patt beschrieben. Saluschny ist seinen Job los, steht mit seiner Meinung aber in Land und Armee nicht alleine da. Damit hat der populäre General die Tür zu Waffenstillstandsverhandlungen als oberster Militär selbst aufgestoßen. Der Ukraine gäbe ein Waffenstillstand - ohne irgendeine territoriale Anerkennung - eine dringend nötige Atempause und zudem die Gelegenheit, die erhoffte Einbindung in EU und NATO voranzutreiben.

Zweitens schwindet im Westen der Rückhalt für die militärische Unterstützung der Ukraine. Das Meinungsklima in mehreren Staaten hat sich messbar verändert. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz wurde eine Studie veröffentlicht, die Menschen in verschiedenen Staaten befragt hat, welche Gefahren sie wie hoch einschätzen. In der gesamten G7-Ländergruppe wurde die von Russland ausgehende Bedrohung vor einem Jahr noch als die dringlichste und größte Sorge betrachtet. Jetzt fällt Russland als Bedrohung auf den vierten Platz zurück. In vielen westlichen Ländern geht die Bereitschaft zur Militärhilfe deutlich zurück. In Deutschland befürworten beispielsweise nur noch 35 Prozent die Bereitstellung der Bundeswehr-Taurus-Raketen für den ukrainischen Abwehrkampf gegen Russland. 56 Prozent sind gegen die Lieferung dieses Waffensystems.

Biden macht Wahlkampf, die BRICS-Staaten machen Druck

Drittens kippt die Stimmung in den USA. Donald Trump und ein wachsender Teil der Republikaner mobilisieren gegen die teure Ukraine-Militärhilfe. Das Werben für eine isolationistische US-Politik gewinnt an Dynamik. Präsident Joe Biden weiß das und wird - ähnlich wie in der Gaza-Frage - versuchen, das Thema aus dem Wahlkampf herauszuhalten. In Bidens Umfeld wird daher die Option "diplomatische Lösung" inzwischen aktiv erwogen. Der Rücktritt der Staatssekretärin und Vizeaußenministerin Victoria Nuland, einer der schärfsten Putin-Kritikerinnen und profiliertesten Militärhilfebefürworterinnen der Ukraine, gilt in Washington als Signal für einen Kurswechsel. Nach einer aktuellen Umfrage fordern mehr als zwei Drittel der Amerikaner (69 Prozent), so bald wie möglich diplomatische Verhandlungen mit Russland und den USA aufzunehmen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden, so das Meinungsforschungsinstitut Quincy Institute/Harris Poll. Joe Biden will nicht gegen diese von Trump befeuerte Stimmung Wahlkampf machen müssen. Er hatte schon größte Mühe, die letzten Finanzzusagen für Kiew zu mobilisieren. Auch dem US-Präsidenten käme daher ein Waffenstillstand gerade Recht.

Viertens formiert sich die Welt der Drittmächte zu einer breiten Waffenstillstands-Fraktion. Von China bis Brasilien, von Indien bis zur Türkei wird der Wunsch immer lauter artikuliert, dass der Krieg in Europa endlich enden müsse. Die Kollateralschäden für die Weltwirtschaft sind aus Sicht vieler Regierungen in Asien, Afrika und Lateinamerika zu hoch. China hat eigens seinen Sonderbeauftragten Li Hui zum zweiten Mal in die Ukraine, die europäischen Länder und nach Russland entsandt, um nach einer politischen Lösung der "Ukraine-Krise" zu suchen. Die Türkei wiederum ruft im Wochentakt zu einem Einstieg in Friedensgespräche auf. Sowohl China als auch die Türkei wollen dabei auch sich selbst als internationale Akteure profilieren. Ihre Vorschläge, zunächst mit einem befristeten Waffenstillstand und einem Gefangenenaustausch zu beginnen, treffen auf zusehends mehr Resonanz.

Den Kreml beim Wort nehmen

Fünftens gibt sich Moskau nach den Papst-Einlassungen einmal mehr gesprächsbereit. Glauben kann man dem Kreml nicht und sollte dennoch versuchen, ihn darauf festzunageln. Russland verstehe die Äußerungen des Papstes in dem Interview nicht als Aufruf an die Ukraine zur Kapitulation, sondern als Plädoyer für Verhandlungen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Montag. Wladimir Putin habe immer wieder davon gesprochen, bereit und offen zu sein für Verhandlungen. "Das ist der bevorzugte Weg", behauptete Peskow. Womöglich könnte auch Putin Waffenstillstandsverhandlungen etwas abgewinnen, und sei es nur eine Atempause zur eigenen Wiederaufrüstung. Er könnte sich mit den jüngsten Eroberungen im Donbass und der Verteidigung der vor zwei Jahren eroberten Landbrücke zur Krim als Sieger inszenieren. Das wäre aber fernab der vielen Maximalforderungen, die der Kreml bislang unablässig formuliert.

Fazit: Der Papst könnte mit seinem missverständlichen Interview einen Nerv getroffen haben. Nicht weil man ihm moralisch folgen und das Grauen in der Ukraine endlich beenden will, sondern weil ein Waffenstillstand den Interessen vieler Akteure gerade recht käme.

Quelle: ntv.de

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