Duell der Tennis-Wunderkinder Alcaraz überrollt Rune in Wimbledon
12.07.2023, 19:53 Uhr
Carlos Alcaraz steht im Halbfinale von Wimbledon.
(Foto: IMAGO/Shutterstock)
In Wimbledon spielt sich ein Kampf um die Zukunft im Tennis ab - und Carlos Alcaraz gewinnt die erste Runde völlig abgebrüht. Im Viertelfinale schlägt er Holger Rune in drei umkämpften Sätzen. Damit kann das spanische Wunderkind nun Boris Becker nacheifern.
Carlos Alcaraz Garfia. Holger Vitus Nødskov Rune. Allein diese Namen versprechen ein episches Duell. Das klingt nach Konquistador gegen Wikinger. Nach Eroberungstouren und Plünderungen. Nach Hernán Cortés und Francisco Pizarro gegen Ragnar Lodbrok und Leif Erikson. Nun stehen sich in Wimbledon glücklicherweise "nur" zwei Tennisprofis gegenüber und keine Krieger, es fließt kein Blut. Aber das Aufeinandertreffen der 20-jährigen Alcaraz und Rune im Viertelfinale des Rasenklassikers bedarf ebenso viel Mut und Geschick und ist ein richtungsweisender Clash. Es ist das Duell der Wunderkinder. Der Kampf um die Zukunft im Tennis.
Statt eines Schlachtfelds ist am Nachmittag der Centre Court die Arena für das Gefecht der Machtübernahme. Alcaraz und Rune führen es von Beginn an mit knallharten Aufschlägen, peitschenden Vorhänden und unerbittlichen Sprints. Im ersten Viertelfinale von Wimbledon in der Open Era, in dem sich zwei Jungspunde unter 21 Jahren gegenüberstehen, Rune ist fünf Tage älter, siegt Alcaraz in einem oft hochklassigen und stets spannenden Krimi mit 7:6, 6:4, 6:4.
Der mental unglaublich starke Spanier gibt dabei kein einziges Aufschlagspiel ab und steht zum ersten Mal im Halbfinale von Wimbledon. "Das war mein Traum, seit ich mit Tennis angefangen habe. Es ist verrückt", sagt der überglückliche Alcaraz nach der Partie auf dem Rasen. "Am Anfang war ich sehr nervös, aber dann habe ich mein Spiel gespielt und es sehr genossen."
Wer, wenn nicht sie?
Alcaraz bringt zu Beginn selbst Rune mit seinen Vorhand-Peitschen zum Staunen. Der Däne kontert mit einigen erstklassigen Returns - und sogar einem "Tweener", bei dem er den Ball zwischen den Beinen spielt und so den Punkt erzielt. Im ersten Satz ist alles ausgeglichen. Es geht hin und her, doch beide haben keinen einzigen Breakball, auch weil Alcaraz zweimal ein 0:30 bei eigenem Aufschlag eiskalt dreht. Im Tiebreak ist der Spanier einen winzigen Tick besser, er schnappt sich mit einem kraftvollen Return-Winner den ersten Durchgang.
Das Duell der Wunderkinder - mitten in der großen Zeitenwende. Roger Federer ist weg. Serena Williams ist weg. Rafael Nadal ist immer wieder verletzt. Können Alcaraz und Rune die Lücke füllen, die Federer und Nadal (und irgendwann auch der schier ewig fitte Novak Djokovic) hinterlassen? Werden sie über die nächsten 10 bis 20 Jahre eine Rivalität führen wie der Schweizer und der Spanier? Gelingt es ihnen, den Rest der Tennisszene zu dominieren? Zu früh, um das zu beurteilen. Aber wenn es jemandem gelingt, den Legenden nachzueifern, dann wohl diesen beiden Jungspunden.
Vom sportlichen her wirkt der Vergleich eher wie Djokovic gegen Nadal, weil Alcaraz und Rune so komplett und körperlich stark spielen, besonders mit einer enormen Beinarbeit. Aber trotz aller Titel des serbischen Rekord-Champions waren Federer und Nadal noch prägendere Ikonen - und dort wollen der Spanier (natürlich Nadal-Fan) und der Däne (nennt Federer sein Idol) hin.
"Holger"- gegen "Carlito"-Rufe
Alcaraz ging als Weltranglistenerster und mit einem Grand-Slam-Titel in der Tasche, US Open 2022, natürlich als Favorit in die Partie. Er gilt hier als erster Herausforderer von Titelverteidiger Djokovic. Außerdem ist er physisch noch stärker als Rune und sein Spiel ist vielseitiger: Neben krachenden Vorhand-Winnern setzt er auf messerscharfe Volleys und einen Drop Shot, der fast unmöglich zu lesen ist, so spät passt er seinen Griff an, um den Ball zu unterschneiden. Aufgrund seiner Schnelligkeit erläuft der Däne die Stopps in diesem Viertelfinale aber hervorragend.
Auch im zweiten Satz geben die beiden sich zunächst keine Blöße beim eigenen Aufschlag. Die Ballwechsel und Spiele sind zunächst kurz, intensiv und explosiv. Bald aber streuen die Kontrahenten ein ums andere Mal eine lange Rally der Extraklasse ein. Nach einer solchen geht Rune beim Stand von 4:4 zum ersten Mal aus sich heraus, ballt die Faust und heizt die Zuschauerinnen und Zuschauer an. Diese messen sich mit "Holger"- und "Carlito"-Rufen, auch dort gibt es keinen klaren Gewinner. Mit einem weiteren intensiven Schlagabtausch erkämpft sich Alcaraz den ersten Breakball der Partie - den er sofort mit einem Vorhand-Winner genau auf die Grundlinie zum 5:4 nutzt. Wow. Eiskalt wie damals Federer oder Nadal. Der Weltranglistenerste lässt ein abgeklärtes Aufschlagspiel folgen und schnappt sich auch Durchgang zwei.
Die Einsamkeit auf dem Tenniscourt ist absolut. Nirgends kann sich ein Spieler verstecken. Erwartungen und ungesunden Druck gibt es in allen Profisportbereichen. Aber selten ist eine Athletin oder ein Athlet so allein und so absolut auf sich selbst gestellt, umgeben von Tausenden frenetischen Fans, mit Millionen Zuschauern am Bildschirm, wie im Tennis, wo man seinem Gegenüber keinerlei Schwäche zeigen darf. Wo Dämonen versuchen, in den Köpfen der Spieler für Unheil zu sorgen. Doch Alcaraz und Rune - das Viertelfinale bestätigt die Weltrangliste und zeigt, dass der Spanier hier noch vor dem Dänen liegt - sind als 20-Jährige auch mental schon unglaublich weit. Ganz wie ihre großen Vorbilder. Beste Voraussetzungen für eine spanisch angeführte Machtübernahme. Für Alcaraz' ersten Titel in Wimbledon in jungen Jahren.
Ein anderer, dem das gelang, war Boris Becker. Der deutsche Ex-Profi wusste schon früh, auf höchster Ebene den Druck abzuschmettern. Mats Wilander, siebenmaliger Grand-Slam-Sieger und nun Eurosport-Experte, verglich die Siegeszüge der beiden Youngster in Wimbledon prompt mit Becker, der 1985 als 17-Jähriger den ersten Triumph in seinem späteren "Wohnzimmer" feiern konnte. "Bei Alcaraz und Rune wissen wir nicht genau, wo sie stehen. Wir dachten nicht, dass Boris Becker 1985 gewinnen würde, bis er ins Viertelfinale oder Halbfinale kam", sagte Wilander und fügte hinzu: "Und ich denke, Alcaraz und Rune können das auch." Diese Chance hat in diesem Jahr nur noch der Spanier.
Der erste Teil ist entschieden, weitere werden kommen
Rune aber, der schon als Vierjähriger Tennis-Legenden am Fernseher studierte, hat in kurzer Zeit einen gewaltigen Sprung gemacht, dürfte in Zukunft auch bei Grand Slams ganz vorne angreifen und kann im Vergleich mit Alcaraz die bessere Rückhand sein Eigen nennen. Doch gerade nützt es dem Dänen nichts, der von Experten gerne als "Bad Boy" dargestellt wird, aber heute auf dem Platz meist ruhig bleibt. Ohnehin ist er eher ein Muttersöhnchen, ohne jegliche negative Konnotation. Seine Mutter treibt ihn an, bestimmt seine Karriere. Bei den Partien in Wimbledon peitscht sie ihn nach vorne, beide schreien und gestikulieren normalerweise zwischen den Punkten. Heute bleibt auch Frau Mama still.
Denn im dritten Durchgang kann zunächst der Widersacher ihres Sohnes für Furore sorgen. Beim Stand von 2:2 krallt Alcaraz sich bei einem engen Kampf am Netz einen dieser wichtigen, weil seltenen Breakpoints. Anschließend haut Rune eine Vorhand ins Netz und der Spanier führt wenige Minuten darauf mit 4:2.Er lässt wiederum bis zum Ende keinen einzigen Breakpoint zu und auch wenn Rune einen ersten Matchball bei eigenem Aufschlag noch abwehren kann, macht Alcaraz den Sack danach eiskalt zu. Wie ein großer Champion.
Damit ist der erste Teil des Kampfes um die Tennis-Zukunft entschieden. Es werden weitere hinzukommen. Die beiden Fast-Noch-Teenager kennen sich seit ihren Jugendtagen, sind gut befreundet. Sie sprechen warmherzig übereinander, aber die Freundschaft dürfte in den nächsten zwei Dekaden durch den Wettbewerb auf die Probe gestellt werden. Und genau das macht das heutige, so arg umkämpfte Match so besonders: Es sind die Gewissheit, dass dies wohl der Beginn einer langen Grand-Slam-Rivalität ist, und die Ungewissheit, wer in den kommenden Dekaden die Oberhand behalten wird. Schaffen die Jungspunde die letzten Schritte, um Dominatoren wie Federer und Nadal zu werden?
Klar ist, Alcaraz und Rune - auch der 21-jährige Jannik Sinner, der im Halbfinale auf Djokovic trifft, gehört dazu - haben keine Lust zu warten, bis sie an der Reihe sind. Sie drängen sich an der älteren Generation vorbei an die Spitze der Schlange. Sie erproben den Coup live vor unseren Augen. Eine Machtübernahme, die der Spanier derzeit anführt.
Als 13-Jährige spielten Alcaraz und Rune sogar einmal Doppel zusammen. "Es war irgendwie lustig, weil er kein Englisch sprach", sagte Rune vor dem Viertelfinale. "Wir mussten uns mit Zeichensprache verständigen. Wir haben nicht viel gesprochen, aber wir haben uns verstanden. Hoffentlich können wir mal wieder Doppel spielen. Aber jetzt müssen wir erstmal gegeneinander kämpfen."
Das taten sie. Wie Konquistadore gegen Wikinger. Zum Glück ohne Blutvergießen und mit einem verdienten Gewinner namens Carlos Alcaraz Garfia. Er fordert am Freitag im Halbfinale den Russen Daniil Sergejewitsch Medwedew. Auch kein schlechter Name.
Quelle: ntv.de