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Hinter den Kulissen in Wimbledon Djokovic brütet bei "Mensch ärgere …", Switolinas Bier-Coup

Novak Djokovic will in Wimbledon Geschichte schreiben.

Novak Djokovic will in Wimbledon Geschichte schreiben.

(Foto: IMAGO/Action Plus)

Sensation, Märchen, Fan-Liebling: Die junge Mutter Elina Switolina wirft als krasser Underdog die Weltranglistenerste Iga Swiatek aus dem Tennisturnier in Wimbledon. Derweil zeigt ein Blick hinter die Kulissen besondere Djokovic-Momente. Und Tommy Haas kann es noch immer.

Natürlich war mal wieder die Liebe schuld. Im Viktorianischen Zeitalter gewann Tennis in England rapide an Popularität, weil Frauen und Männer sich zu einem neuen Spiel an der frischen Luft treffen - und dabei flirten konnten. Überall im Land sprossen Tennis-Klubs aus dem Boden, 1877 veranstaltete der All England Club das erste Wimbledon-Turnier. Dabei sahen 200 Zuschauerinnen und Zuschauer für einen Schilling das Finale. Natürlich an einem verregneten Nachmittag.

Auch heute flirten die Tennisstars gerne. So geschehen bei Elina Switolina und dem französischen Profi Gaël Monfils. Das ist deshalb von Bedeutung, weil die Ukrainerin vor sechs Monaten das Kind von ihr und Monfils zur Welt brachte, vor drei Monaten ihr Comeback gab - und nun im Halbfinale steht und eines dieser verrückten Wimbledon-Märchen schreibt. Als Ungesetzte (Platz 76 der Weltrangliste), mit einer Wildcard ins Hauptfeld gerückt, wirft die 28-Jährige am Dienstag die Nummer 1 der Welt, Iga Swiatek aus Polen, aus dem Turnier. Und wie.

Für ein paar wenige Schilling mehr als damals zur Wimbledon-Premiere bekommen die Tennis-Fans auf dem Centre Court eine atemberaubende Partie geboten. Nachdem Switolina sich den ersten Satz schnappt, sieht sie im Anschluss schon wie die Siegerin aus. Aber die Nummer 1 der Welt gibt natürlich nicht so einfach auf und kämpft sich in den Tiebreak. Dort führt die Ukrainerin mit 4:1 - doch plötzlich krallt sich Swiatek das Ding trotzdem noch. Weit gefehlt aber, wer dachte, dass die Polin nun Oberwasser hätte. Mit 6:2 schickt Switolina ihre Gegnerin nach Hause und erntet stehende Ovationen. Minutenlang klatschen die Londoner, so laut war es in diesem Jahr noch nie zuvor.

Switolina geht "ein Bier trinken"

Das Märchen der Switolina, es geht weiter. Und ein neuer Wimbledon-Liebling ist geboren. Die Ukrainerin schickt Handküsse ins Publikum und muss ihr Interview auf dem Court immer wieder für frenetischen Jubel unterbrechen. "Ich weiß gar nicht, was hier passiert", stammelt sie. "Das ist einfach unglaublich. Hätte mir jemand vor dem Turnier jemand gesagt, dass ich im Halbfinale stehen werde, hätte ich ihn für verrückt erklärt."

Dann wird es politisch. Switolina sendet eine Botschaft des Zusammenhalts mit Blick auf den Angriffskrieg Russlands, die im Rund gut ankommt. Sie schätze Swiatek nicht nur aufgrund ihrer sportlichen Erfolge, sondern sie sei auch "eine tolle Person, die als eine der ersten den Menschen in der Ukraine geholfen hat". Wieder spenden die Fans Applaus für ihren neuen Darling.

Zum Abschluss lockert die Ukrainerin die Situation wieder auf und erntet sogar Lacher. Nachdem sie zuvor scherzhaft verraten hatte, dass ihr Lauf in London sie Tickets für einen Auftritt von Harry Styles in Wien gekostet habe, hatte sich der Popstar gemeldet und Switolina Tickets für einen anderen Termin angeboten. Im Interview auf ihre verschobene Verabredung angesprochen, antwortete sie: "Ich gehe jetzt erstmal ein Bier trinken." Und kann sich damit auf ihrer weiteren Reise in Wimbledon die Sympathien wirklich jedes Engländers und jeder Engländer sicher sein.

Djokovic und Rublew hinter den Kulissen

Ansonsten bleiben Tennisstars heutzutage lieber unter sich. Hinter den Kulissen, in der Player's Lounge, im dritten und vierten Stock über dem Medienzentrum überblicken sie die gesamte Anlage des Rasenklassikers. In kleinen Gruppen sitzen die Profis mit ihren Teams und Familien unter Sonnenschirmen. Ganz hinten in der letzten Ecke der letzten Terrasse hockt etwa Ons Jabeur mit ihrem Team beim Mittagessen, flachst und grinst nach ihrem dominanten Achtelfinalsieg am Vortag. Die Spielerinnen und Spieler bekommen an diesem Tag für knapp 20 Euro ein Tagesgericht oder für 19 Pasta (23 Euro für die Protein-Version) aufgetischt. Etwa drei Euro kosten die traditionellen Erdbeeren zum Nachtisch.

Titelverteidiger Novak Djokovic brütet derweil wenige Stunden vor seinem Viertelfinale gegen Andrej Rublew über einer Partie "Mensch ärgere dich nicht". Trainer Goran Ivanisevic, früher selbst ein Weltklassespieler, tritt gegen ihn an. Geredet wird nicht, der serbische Rekord-Grand-Slam-Champion hat Kopfhörer in den Ohren. Rublew schlendert keine 15 Meter entfernt nach dem absolvierten Mittagstisch vorbei und richtet den Blick schüchtern bis konzentriert auf den Boden.

Etwa 180 Minuten später duellieren sich beide mit epischen Ballwechseln auf dem Centre Court. Rublew gewinnt den ersten Satz und macht damit Djokovic verdammt wütend. Der Serbe stürmt zurück, indem er dem Russen Satz zwei mit 6:1 abnimmt. Anschließend heizen beide das Publikum nach genialen Schlägen an. Am Ende ist wieder der Titelverteidiger der strahlende Sieger und peilt nach dem 4:6, 6:1, 6:4, 6:3 weiter den achten Triumph auf dem Heiligen Rasen an, mit dem er Roger Federers Rekord egalisieren würde. Eine Bestmarke des Schweizers egalisierte er bereits: Nur die beiden Alleskönner haben bei den Herren 46 Halbfinals bei Major-Turnieren erreicht.

Tommy Haas im Oldie-Duell

Vielleicht nicht das prestigeträchtigste, dafür das ehrlichste Wimbledon-Erlebnis findet jedoch woanders statt. 20 Schritte entfernt vom Henmann-Hill, auf dem Fans ohne Tickets für die Stadien die Matches auf einer Videoleinwand verfolgen. Hier, auf Platz 18, messen sich die Altstars beim Legenden-Cup, Invitation Doubles genannt. Tommy Haas, zu seiner besten Zeit Nummer 2 der Welt, spielt mit dem Australier Mark Philippoussis, in den 1990er-Jahren wegen seines harten Aufschlags den Spitznamen "Scud" genannt, nach der Scud-Rakete, gegen die Brasilianer Andre Sa und Bruno Soares.

Immer wieder schallt ein lautes, hämisches Lachen von Philippoussis über sich selbst über den Court. Er kann nicht glauben, was für Anfängerfehler ihm unterlaufen, auch wenn der Australier noch immer mit Wucht serviert. Die Fans lachen mit, sitzen nur wenige Meter entfernt von den Spielern. Es ist ihr persönlicher Blick hinter die Kulissen, hinter die Fassade der einstigen Superstars. Ein "Oh mein Gott ist das schlecht" von Haas, nachdem er den Ball über das Dach des Nebengebäudes keilt, sorgt für noch ausgelassenere Stimmung. Der Deutsche hat aber noch immer eine starke Vorhand und ein tolles Ballgefühl. "Nicht so doll", witzelt anschließend Philippoussis in Richtung Brasilianer, weil sie immer mehr Punkte sammeln.

Am Ende interessiert es hier nicht, wer gewinnt (Sa und Soares im Match-Tiebreak im 3. Satz), alle haben auf dem und neben dem Platz eine gute Zeit. Haas sieht von weitem immer noch aus wie ein College-Junge. Lange, nach hinten gekämmte Haare, versteckt unter einem rückwärts aufgesetztem Cap. Auf kürzere Distanz erkennt man doch ein paar Falten beim 45-Jährigen. Der 46 Jahre alte Philippoussis hat mittlerweile ein kleines Bäuchlein bekommen.

Haas gibt im Anschluss Autogramme, macht Selfies mit den Fans und schenkt einem Mädchen, das auf Deutsch nach einem Ball fragt, sein Schweißband. Deutsche Fans dürfen auch ein paar Plätze weiter jubeln: Dort zählt wieder, wer gewinnt, und Kevin Krawietz und Tim Pütz ziehen ins Viertelfinale im Doppel ein.

Zu einem Wimbledon-Tag gehört natürlich auch eine Regenpause. Wie damals im Finale vor 146 Jahren prasselt es am Nachmittag von oben hernieder. Doch das Regenchaos der ersten Turniertage bleibt aus, eine Stunde später kann es weitergehen. 1877 hätte man den romantischen Moment des Schutzsuchens im Sommerregen garantiert für einen Flirt genutzt.

Quelle: ntv.de

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