Sport

Turnerin Berger über Missbrauch "Alltag bestand aus essen, trainieren und kotzen"

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Eine Olympia-Medaille verpasst Janine Berger ganz knapp. Auch weil sie benachteiligt wird, so der Vorwurf der Turnerin. Doch für sie ist es der Beginn einer negativen Spirale. Es geht um Gewicht, um Schmerzen und gestrichene Fördergelder. Der Missbrauchsskandal trifft auch sie.

Im Sommer 2012 war Janine Berger auf dem Höhepunkt ihrer Karriere - und doch untröstlich. Gerade hatte die Turnerin bei den Olympischen Spielen in London am Sprung ganz knapp das Podest verpasst. 15,016 Punkte hatte die 16-Jährige von den Kampfrichtern zugesprochen bekommen. Doch Bronze ging mit 15,050 Punkte an die Russin Maria Paseka - ein Skandal für Berger. Denn Paseka war bei ihrem ersten Sprung, der mit 15,400 Punkten gewertet wurde, deutlich aus der Landezone getreten. Ein Fehler, der eigentlich 0,5 Punkte Abzug bedeutet, die Kampfrichter ahndeten es aber nicht. "Wenn es gerecht zugegangen wäre, wäre ich Dritte geworden", so Bergers Vorwurf. Sie könnte dann eine olympische Medaille ihr Eigen nennen.

Auch die damalige deutsche Cheftrainerin Ulla Koch sagte nach dem Wettkampf: "Es kann einfach nicht sein." Doch Berger beklagt nun, dass es nach innen ganz anders zugegangen ist. "Ich war da wirklich seelisch komplett am Boden. Ich habe mich als Versagerin gefühlt", erklärt sie im Interview mit RTL/ntv. Doch anstatt Unterstützung zu erhalten, sei sie angeprangert worden. Ihr Gewicht sei der Grund, warum sie Vierte geworden sei, habe es geheißen. "Und jetzt rückblickend schaue ich mir das an und lese, dass ich da einen Körperfettanteil von acht Prozent hatte und das ist halt was, wo ich sage, wie kann sowas sein?" Zum Vergleich: Bei erwachsenen Frauen liegt der Körperfettanteil Empfehlungen zufolge zwischen 20 und 30 Prozent.

"Man glaubt irgendwann selbst, dass man zu fett sei"

Als kleines Kind hatte Berger mit dem Turnen begonnen und schnell ihre Leidenschaft für den Sport entdeckt. 2009 wurde sie ins Jugend-Nationalteam berufen, 2012 war sie dann die Jüngste, die für Deutschland an den Start gehen durfte. Doch aus ihrem Traum von den Olympischen Spielen wurde ein Albtraum. Sie sei im Training ständig erniedrigt worden, dass sie zu fett sei, dass sie abnehmen müsse. "Bis hin, dass man verboten bekam, Wasser zu trinken." Und neben der Ernährung gab es noch einen weiteren Faktor: "Teils wurde mir auch meine finanzielle Förderung gestrichen aufgrund meines Gewichtes, obwohl im selben Bericht steht, dass ich gerade vom B- in den A-Kader aufgestiegen bin." Das sei doch völlig widersprüchlich, so Berger. "Also es steht da, dass mein Gewicht und meine Trainingseinstellung nicht passen. Und im gleichen Satz wird aber erwähnt, dass ich gerade in den A-Kader aufgestiegen bin."

Das Perfide sei: "Man glaubt irgendwann selbst, dass man zu fett sei, dass man wirklich abnehmen muss." Es habe Momente im Training gegeben, in denen sie nach einem nicht perfekten Sprung auf die Waage gestiegen sei. "Und wenn die nur 300 Gramm mehr angezeigt hat, dann war für mich okay klar, die Trainer haben recht, das kann gar nicht funktionieren." Alles habe sich nur noch um ihr Gewicht gedreht. Drei- bis viermal täglich habe sie auf die Waage steigen müssen. "Es war dann wirklich so weit, dass mein Alltag aus essen, trainieren und kotzen bestand. Also das ist vielleicht jetzt knallhart gesagt, aber so sieht es aus. Und ich weiß, dass ich kein Einzelfall bin."

Das zeigen die vielen Berichte von ehemaligen Teamkolleginnen seit dem Jahreswechsel eindrucksvoll. Noch immer kommen weitere Offenbarungen hinzu. Am Dienstag sprach das frühere Top-Talent Kim Janas über ihre persönliche Qual. Wie bei Berger ging es meist um ihr Gewicht. Sie sei "als Dicke dargestellt" worden, weil sie neun Prozent Körperfett hatte. Ihr seien Lebensmittel wie Brot, Aufstriche, Wurst und sogar Wasser verboten worden. 2016 beendete sie ihre Karriere mit gerade einmal 17 Jahren. Auch acht Jahre später sei sie "nicht ganz geheilt" von dem, was sie erlebt habe, schrieb Janas bei Instagram.

Gewicht bestimmte über den persönlichen Wert

Der Fokus der Vorwürfe liegt derzeit auf dem Bundesstützpunkt in Stuttgart. Schon 2020 hatte es einen Skandal in Chemnitz gegeben, in dessen Folge Trainerin Gabriele Frehse, die die Vorwürfe stets bestritten hatte, gehen musste. Die Staatsanwaltschaft Chemnitz stellte aber alle Ermittlungen ein. Berger ist sicher, dass nicht nur ein einzelner Stützpunkt betroffen ist, "sondern es ist normal in dieser Blase. Man wächst damit auf und hinterfragt sich auch nicht." So hatte es auch Kim Bui beschrieben. Sie sei lange gar nicht darauf gekommen, dass die ewige Drangsalierung keine Normalität im Leben ist. Doch die nun erschienenen Berichte anderer Turnerinnen rücken alles ins Licht.

Schwebebalken-Weltmeisterin Pauline Schäfer-Betz, die damals mit anderen Turnerinnen die Vorwürfe gegen Frehse öffentlich machte, veröffentlichte am Dienstag bei Instagram mehrere Kommentare und Berichte, die sie für ihre Vorwürfe anprangerten. Sie kommentiert diese nach den jüngsten Offenbarungen mit: "Unsere Geschichte war KEIN Einzelfall - und der Widerstand gegen Veränderungen bleibt erschreckend groß. Doch wir lassen uns nicht zum Schweigen bringen." Kim Bui, die in ihrem im März 2023 veröffentlichten Buch "45 Sekunden. Meine Leidenschaft fürs Turnen - und warum es nicht alles im Leben ist" über Missstände berichtet, hatte ebenfalls Gegenwind kassiert. Auch Berger betont bei RTL/ntv: "Also ich persönlich, ich kenne niemanden, mit dem ich rede, der sagt, er hatte dieses Problem nicht. Und das zeigt ja eigentlich schon, dass es keine fehlende Schwäche des Athleten ist, sondern des Systems und den Menschen dahinter."

Zwei Jahre nach den Olympischen Spielen gewann Berger 2014 in Cottbus den Sprung-Weltcup - "und trotzdem wurde mir gedroht, ich werde von Trainingslagern und Wettkämpfen ausgeschlossen, wenn mein Gewicht nicht runtergeht." Rückblickend habe sie inzwischen festgestellt, dass sie den Aufzeichnungen zufolge zwar zwei Kilogramm zugenommen, aber gleichzeitig drei Prozent Körperfett verloren habe. "Das heißt, ich habe Muskelmasse aufgebaut, die ich als sprungkräftige Athletin auch gebraucht habe. Und trotzdem war nur die Zahl auf der Waage entscheidend. Und die hat dir von den Trainern deinen Wert gegeben."

Knie zerstört, Olympiatraum geplatzt

Zur ständigen Drangsalierung aufgrund ihres Gewichts kam die Negierung von Schmerzen, so Berger. Die könne man unterdrücken, sei ihr eingetrichtert worden. Die Spirale führte bei ihr zu einem zerstörten Knie: Kreuzbandriss, Meniskusriss, Knorpelschaden. "Es ist ja logisch nachvollziehbar, wenn ich täglich sechs Stunden trainiere und dann nichts essen darf und das, was ich esse, wieder übergebe, dann fehlen dem Körper einfach so wichtige Nährstoffe. Und dass es dann zwangsläufig zu Verletzungen führt."

Ihr Knie war kaputt, die Olympischen Spiele 2016 fanden ohne sie statt. Ihr Traum, doch noch eine Olympia-Medaille zu erkämpfen, geplatzt. Die Folge: eine schwere Depression, so Berger über ihre Diagnose. "Da war es wirklich so, dass ich von morgens bis abends nicht mehr wusste, was ich jetzt eigentlich auf der Welt zu suchen habe. Also mein Sinn ist komplett verloren gegangen." Sie suchte sich Hilfe. Und empfiehlt es Leidensgenossinnen: "Man muss darüber reden. Und es ist, verdammt noch mal, keine Schwäche. Es ist kein fehlender Ehrgeiz oder eine Schwäche. Es ist eine Krankheit, die muss man angehen und dafür muss man sich nicht schämen."

Nach und nach sei ihr klar geworden, dass Härte zwar zum Leistungssport gehört und dass sie ihre eigenen Grenzen austesten und verschieben wolle. Aber: "Zwischen hartem Training und Machtdemonstrationen und psychischem Missbrauch, da liegen Unterschiede, und zwar gewaltige."

Turnerinnen skeptisch bei Veränderungen

Das müsse sich dringend für folgende Generationen festigen. Athletinnen müssten als mündige Menschen betrachtet werden, "und nicht als Produkt, das respektlos einfach benutzt werden kann." Denn sie habe die Erfahrung gemacht, dass sie selbst lange das System nicht anprangern wollte. "Ich wusste, wenn ich irgendwie was sage, natürlich werde ich dann rausgenommen aus dem System und somit wäre mein Traum zerstört gewesen und ich wüsste tatsächlich bis heute nicht, ob ich das jemals verziehen hätte." Hinzu kommt, dass die engsten Bezugspersonen früh die Trainer sind, die Eltern sind häufig weiter weg, wenn Turnerinnen früh ihre Familie verlassen und ins Internat ziehen.

In Stuttgart wurden inzwischen zwei Trainer zunächst für zwei Wochen suspendiert. Bundestrainer Gerben Wiersma wird zeitweise Trainingseinheiten übernehmen. Allerdings ist auch er kein unbeschriebenes Blatt. Als Trainer der Niederländerinnen wurden gegen ihn im Sommer 2021 Vorwürfe des körperlichen und emotionalen Missbrauchs erhoben. Diese bezogen sich auf Vorkommnisse im Jahr 2011. Im Oktober 2021 wurde er vom niederländischen Sportgerichtshof schuldig gesprochen, blieb aber straffrei, weil er zuvor als Trainer zurückgetreten war. 2022 wurde Wiersma dann Trainer der deutschen Turnerinnen. Angesichts dessen stellt Berger infrage, ob Wiersma die richtige Alternative ist.

Seine Vorgängerin Ulla Koch erhielt den "IOC Coach Lifetime Achievement Award", der ihr für ihren besonderen Einsatz für Athleten im Sinne des Olympischen Gedankens verliehen wurde. Doch die nun von so vielen Athletinnen angeprangerten Missstände datieren vor allem aus ihrer Zeit. Tabea Alt hatte Ende Dezember davon berichtet, dass sie schon vor drei Jahren einen ausführlichen Brief mit den Missständen auch an die damalige Bundestrainerin geschrieben habe. Es habe sich aber nichts verändert.

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Der Deutsche Turner-Bund und der Schwäbische Turnerbund sind dabei, die Geschehnisse aufzuarbeiten. Der DTB hat eine Untersuchung mit externer Unterstützung angekündigt und sich in einem Statement "betroffen" gezeigt. Schon nach früheren Vorwürfen habe es einen Kultur- und Strukturprozess gegeben, zudem Workshops etwa mit Sportpsychologinnen und weitere Veränderungen in der Arbeit mit den Turnerinnen.

Doch nicht nur Berger ist skeptisch, auch Bui und Schäfer-Betz äußerten ihre Zweifel. Die 28-Jährige, die weiterhin zu den Topathletinnen gehört, prangert "wiederholtes systematisches Versagen" an. Verantwortliche würden durch das System gedeckt. "Solange dies der Fall ist, wird es keine wirklichen Veränderungen geben."

Quelle: ntv.de

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