
Kim Bui steht ihren ehemaligen Teamkolleginnen bei.
(Foto: IMAGO/BSR Agency)
Zahlreiche Turnerinnen rütteln zum Jahreswechsel mit ihren intimen Einblicken auf. Beschreibungen von Missbrauch weisen auf ein krankes System im deutschen Turnen hin - in dem offenbar jahrelang weggeschaut wird. Denn der ehemaligen Vorzeigeturnerin Kim Bui ist alles tragischerweise altbekannt.
"Ich hielt es lange für normal, dass man mit Schmerzen und Verletzungen bei Wettkämpfen antritt. Dass man immerzu mit dem eigenen Gewicht ringt und sich ständig nach dem Essen übergibt. Dass Trainer dieses Verhalten mit ihren Kommentaren noch befeuern und sich sogar ins Intimleben von Sportlerinnen einmischen." Es sind Aussagen, die fassungslos machen. Für Kim Bui, jahrelang deutsche Vorzeigeturnerin, ist das lange ein Teil ihres Lebens, ihres Alltags, erklärte sie dem "Stern".
"So bin ich aufgewachsen, ich war mehr als 20 Jahre Teil dieses Systems. Ich dachte, so ist das eben. Man sieht und kennt ja gar nichts anderes, es ist wie eine geschlossene Welt, in der man lebt und turnt." Denn für viele Turnerinnen scheint dies - das Lebensfeindliche, die Ausbeutung des eigenen Körpers - weiterhin die Normalität zu sein. Buis Alltag ist keine Ausnahme, das zeigen auf erschütternde Weise die vielen Aussagen von ehemaligen deutschen Spitzenturnerinnen.
Den Anfang machte Meolie Jauch, die mit nur 17 Jahren die Reißleine zog. Kurz vor Weihnachten gab sie ihr Karriereende bekannt und begründete dies mit mentaler Erschöpfung. Sie schrieb bei Instagram von ständiger Überlastung, keinen Pausen und der Frage, wo sie sich selbst verloren hat. "Leistungssport ist hart - das ist mir klar - aber was ich erlebte, war eine andere Form der Erschöpfung." Zu Videos und Fotos, in denen sich Hoffnungen, Höhenflüge und Verletzungen, mentale Erschöpfung und Unfälle abwechseln, erklärte sie: "Ich höre auf meine innere Stimme und beende den Spitzensport. Nicht, weil ich nicht mehr kämpfen will, nicht, weil mein Körper nicht mehr kann - sondern weil es mental nicht mehr geht."
Emilie Petz veröffentlichte ihrerseits einen Post, in dem sie über ihre jahrelange Essstörung berichtet. Über das Gefühl, niemals gut genug zu sein, sich nicht zu trauen, das Wort zu ergreifen. Sie liebe den Sport, aber viele würden nicht sehen, was der Sport hinterlasse, schrieb die 21-Jährige, die ihren Start bei den Olympischen Spielen 2021 aufgrund einer Achillessehnenverletzung absagen musste, als sie bereits in Tokio war. Wegen der gesundheitlichen Folgen musste sie ihre Karriere vor einem Jahr beenden. "Meine Verletzung hat mir gezeigt, dass sich einige Leute nur für mich interessieren, wenn ich erfolgreich bin", schrieb sie nun.
"Essstörungen, Straftraining, Schmerzmittel"
Tabea Alt war es dann, die wenige Tage später richtig aufrüttelte. Die WM-Bronzemedaillengewinnerin mit dem Team von 2017 schrieb bei Instagram von "systematischem körperlichen und mentalen Missbrauch", der beim Deutschen Turner-Bund (DTB) und dem Schwäbischen Turnerbund (STB) geschehe. "Essstörungen, Straftraining, Schmerzmittel, Drohungen und Demütigungen waren an der Tagesordnung", schilderte Alt ihre Erfahrungen. Sogar mit Knochenbrüchen habe man sie noch turnen lassen. Bereits vor drei Jahren habe sie sich in einem "ausführlichen Brief" an ihre Trainer, die damalige Bundestrainerin Ulla Koch, den DTB-Präsidenten Alfons Hölzl, den Teamarzt und an weitere Verantwortliche gewendet und auf Missstände hingewiesen, so Alt, die ihre Karriere 2021 mit 21 Jahren aufgrund von Verletzungen beendete. Passiert sei nichts.
Nach diesem Statement am 28. Dezember ist eine Lawine losgebrochen. Michelle Timm etwa schrieb: "Niemand, der das Erzählte nicht selbst erlebt hat, kann nachvollziehen, was all das mit einem macht. Diese jahrelangen Missstände machen Menschen kaputt. Diese emotionale Abhängigkeit ist für Außenstehende kaum zu beschreiben und ich kann gar nicht zum Ausdruck bringen, was Kinder wie ich durchlebt haben."
Auch ihre ehemalige Stuttgarter Teamkollegin Carina Kröll meldete sich zu Wort: Die 23-Jährige, die bis 2022 für Deutschland turnte, sagte, sie sei im Alter von 17 Jahren dazu getrieben worden, innerhalb von Wochen fünf bis sechs Kilogramm an Gewicht zu verlieren, um vermeintlich konkurrenzfähig zu bleiben: "Ich war 'angeblich' am Limit. Zum Kontext: Ich war 1,64 Meter groß und wog 54 Kilogramm - ein komplett gesundes Gewicht. Trotzdem wurde ich als zu schwer eingestuft."
37 Kilogramm bei 1,60 Meter Körpergröße
Noch krasser ist die Erfahrung von Lara Hinsberger. Bei den deutschen Meisterschaften 2019 habe sie 37 Kilogramm gewogen bei 1,60 Meter Körpergröße, schrieb sie. "Geredet hatte darüber im deutschen Turnen wirklich jeder, eingeschritten, um mich zu schützen, ist aber leider niemand", prangerte sie an. "In Stuttgart wurde ich behandelt wie ein Gegenstand. Ich wurde benutzt und das so lange, bis ich körperlich und geistig so kaputt war, dass ich für die Trainer (und irgendwann auch für mich selbst) sämtlichen Wert verlor", schrieb die 20-Jährige in einem Post bei Instagram. "Seit der Zeit in Stuttgart bin ich in psychotherapeutischer Behandlung."
Teilweise habe sie damals auch verletzt trainiert, schilderte Hinsberger: "Ich trainierte immer weiter, bis ich irgendwann eine Stressfraktur im Schienbein mit zusätzlichem Meniskusriss im linken Bein erlitt. Als meine Mutter mit dem (sich in Stuttgart befindenden) Arzt telefonierte, wurde ihr gesagt, dass ich nicht trainieren dürfe. Dabei wurde sich über den ärztlichen Rat hinweggesetzt. Ich trainierte knapp 5 Stunden täglich nur noch Barren."
"Mit acht, neun Jahren Leistungssportlerin"
Die Turnerinnen zeichnen ein Bild, das sich nur schwer mit dem schönen, eleganten Sport in Einklang bringen lässt. Dem Sport, der für viele kleine Kinder der Einstieg ist. Eltern-Kind-Turnen ist beliebt, schult Bewegung, Koordination, Mobilität, Körpergefühl und macht Spaß. Nicht wenige Kinder werden angesprochen, ob sie nicht dabeibleiben wollen. Wer Talent hat, wird gefördert - und gerät offenbar nur allzu schnell in einen Teufelskreis. "Im Turnen ist man jedoch schon mit acht, neun Jahren Leistungssportlerin", so die 35 Jahre alte Bui, die seit dem Sommer der IOC-Athletenkommission angehört. "Wenn man es weit bringen will, misst man sich schon mit zwölf Jahren auf internationalen Wettkämpfen."
Aufgrund der Struktur der Leistungszentren in Deutschland ziehen junge Sportlerinnen und Sportler häufig früh ins Internat, verlassen ihr familiäres Umfeld, vielleicht den letzten Schutz. "Eine emotionale Abhängigkeit entsteht. Man ist noch so jung, man sieht die Ergebnisse, die Trainingsmethoden scheinen den Trainern rechtzugeben, also hinterfragt man nicht. Man verinnerlicht, dass man als Sportlerin den Mund zu halten und zu funktionieren hat", schilderte es Bui. "Wenn man sich später in der Pubertät dann doch mal auflehnt, wird man abgestempelt: Störenfried, Querkopf, Sensibelchen, ungeeignet für den Leistungssport. Dann droht Straftraining und mehr. Es ist ein System der Angst."
Schon Ende 2020 hatten Sportlerinnen des Bundesstützpunktes Chemnitz mit der ehemaligen Weltmeisterin am Schwebebalken, Pauline Schäfer-Betz, an der Spitze ihrer damaligen Trainerin Gabriele Frehse schwere Vorwürfe gemacht. Sie soll die Turnerinnen im Training schikaniert, Medikamente ohne ärztliche Verordnung verabreicht und keinen Widerspruch zugelassen haben. Frehse hatte die Vorwürfe stets bestritten. Der DTB trennte sich dennoch von ihr - doch nach einem gewonnenen Rechtsstreit um ihre Kündigung durch den Olympiastützpunkt Sachsen wurde sie vom österreichischen Verband engagiert und trainiert die Frauen-Riege. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft Chemnitz alle Ermittlungen eingestellt.
Bui kassierte Kritik für ihre Veröffentlichung
"Mit jeder weiteren Stimme wird es schwerer, die Berichte der Betroffenen als Einzelfälle abzutun, denn das sind sie nicht. Das ist hier größer, und es betrifft den gesamten Turnsport in Deutschland", so Bui gegenüber dem "Stern". "Hier geht es um ein System, das Sportlerinnen über Jahre manipuliert, erniedrigt und kaputtgemacht hat." Dass es schon vor den jüngsten Veröffentlichungen nicht nur in Chemnitz Missstände gab, schrieb Bui bereits in ihrem Buch "45 Sekunden. Meine Leidenschaft fürs Turnen - und warum es nicht alles im Leben ist". Im März 2023 wurde es veröffentlicht, sie schreibt darin von ihrer jahrelangen Bulimie, sie prangert den Leistungssport als unmenschlich an. Dem "Stern" sagte sie nun: "Ich glaube, Leistungssport kann nie wirklich gesund sein, schließlich verschiebt man permanent die Grenzen dessen, was der eigene Körper zu leisten imstande ist." Leistungssportler betreiben wissentlich Raubbau an ihrem Körper, einige - egal, in welchem Sport - sind nach der Karriere Sportinvaliden. Doch wer selbst so masochistisch eingestellt ist, bräuchte doch gerade das Korrektiv durch ein Trainerteam. So sieht es auch Bui: "Das Umfeld, in dem man das tut, muss gesünder werden. Das krasse Machtgefälle zwischen Trainern und Athletinnen muss aufgebrochen werden."
Das fordert auch ihre Freundin und langjährige Teamkollegin Elisabeth Seitz. Die inzwischen 31-Jährige ist seit vielen Jahren eine der besten Deutschen. Sie trainiert ebenfalls in Stuttgart, spricht aber nicht von persönlicher Betroffenheit. Doch die Aussagen, Vorwürfe und Beschuldigungen, die man in den letzten Tagen lesen musste, würde man leider nicht zum ersten Mal hören, schrieb die Ex-Europameisterin als Reaktion auf ihre Wegbegleiterinnen. "Früher dachte ich, das sei normal. Heute kann ich sagen: Es ist nicht normal. Es muss sich etwas ändern, um endlich ein gesundes Umfeld für alle zu schaffen."
Der Deutsche Turner-Bund hat eine Untersuchung mit externer Unterstützung angekündigt, verspricht Aufklärung. In einem Statement vom 31. Dezember zeigte man sich "betroffen", erklärte aber auch, dass früher getätigte Vorwürfe von Alt und Timm nicht folgenlos geblieben seien. Es habe einen Kultur- und Strukturprozess gegeben, zudem Workshops etwa mit Sportpsychologinnen und weitere Veränderungen in der Arbeit mit den Turnerinnen. Als neue Maßnahme wird Bundestrainer Gerben Wiersma Trainingseinsätze in Stuttgart erhalten.
Allerdings ist auch er kein unbeschriebenes Blatt. Als Trainer der Niederländerinnen wurden gegen ihn im Sommer 2021 Vorwürfe des körperlichen und emotionalen Missbrauchs erhoben. Diese bezogen sich auf Vorkommnisse im Jahr 2011. Im Oktober 2021 wurde er vom niederländischen Sportgerichtshof schuldig gesprochen, blieb aber straffrei, weil er zuvor als Trainer zurückgetreten war. 2022 wurde Wiersma dann Trainer der deutschen Turnerinnen.
Kim Bui befürchtet, es könne wieder einmal bei Arbeitsgruppen und Papieren bleiben. Sie habe nach der Veröffentlichung ihres Buches Kritik abbekommen. "Verantwortliche meinten: Wie kannst du nur so etwas sagen? Was fällt dir ein?" Ihr Urteil: "Nun sieht man: Es hat sich an den Trainingsmethoden womöglich nichts geändert."
Quelle: ntv.de