Sport

"Wirklich jeder redete darüber" Vorwürfe gegen deutsches Turnen werden immer dramatischer

Kim Bui turnte bei zahlreichen Großereignissen für Deutschland.

Kim Bui turnte bei zahlreichen Großereignissen für Deutschland.

(Foto: imago images/Schreyer)

Die dramatischen Wortmeldungen reißen nicht ab: Innerhalb weniger Tage berichten zahlreiche deutsche Turnerinnen von schwerem Missbrauch an einem einzelnen Stützpunkt. Doch das Problem sei allen bekannt gewesen - und betreffe "den gesamten Turnsport in Deutschland."

Das deutsche Turnen wird mal wieder von schweren Missbrauchsvorwürfen erschüttert. Ehemalige und aktuelle Turnerinnen berichten von Essstörungen, Schmerzmittelmissbrauch, Straftraining, Drohungen und Demütigungen im deutschen Profiturnen, insbesondere am Bundesstützpunkt Stuttgart.

Nun meldet sich die ehemalige deutsche Spitzenturnerin Kim Bui mit weiteren heftigen Vorwürfen zu Wort - und macht im Gespräch mit dem "Stern" deutlich: "Es betrifft den gesamten Turnsport in Deutschland." Und viele Verantwortliche hätten sich gegenseitig geschützt. Bui, die für Deutschland bei zahlreichen Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen turnte, spricht von einem System, das Sportlerinnen über Jahre "manipuliert, erniedrigt und kaputt gemacht" habe.

"Als Sportlerin hat man den Mund zu halten"

Als aktive Turnerin sei es schwierig, den psychischen Missbrauch zu erkennen, sagte Bui nun dem "Stern". "Man ist noch so jung, man sieht die Ergebnisse, die Trainingsmethoden scheinen den Trainern recht zu geben, also hinterfragt man nicht. Man verinnerlicht, dass man als Sportlerin den Mund zu halten und zu funktionieren hat." Bui forderte jetzt "arbeitsrechtliche Konsequenzen".

In Lara Hinsberger beklagte eine weitere deutsche Top-Turnerin grobe Missstände am Bundesstützpunkt Stuttgart. "In Stuttgart wurde ich behandelt wie ein Gegenstand. Ich wurde benutzt und das so lange, bis ich körperlich und geistig so kaputt war, dass ich für die Trainer (und irgendwann auch für mich selbst) sämtlichen Wert verlor", schreibt die 20 Jahre alte Saarländerin in einem am Silvestertag veröffentlichten Instagram-Post. "Seit der Zeit in Stuttgart bin ich in psychotherapeutischer Behandlung - und die Dinge, die zurückbleiben, werden wahrscheinlich immer ein Thema für mich bleiben".

Teilweise habe sie damals auch verletzt trainiert, schildert Hinsberger: "Ich trainierte immer weiter, bis ich irgendwann eine Stressfraktur im Schienbein mit zusätzlichem Meniskusriss im linken Bein erlitt. Als meine Mutter mit dem (sich in Stuttgart befindenden) Arzt telefonierte, wurde ihr gesagt, dass ich nicht trainieren dürfe. Dabei wurde sich über den ärztlichen Rat hinweggesetzt. Ich trainierte knapp 5 Stunden täglich nur noch Barren."

"Eingeschritten ist leider niemand"

Sorgen außenstehender Trainerinnen und Trainer seien ignoriert worden. Sie habe stattdessen immer weiter an Gewicht verloren. Bei den deutschen Meisterschaften 2019 habe sie 37 Kilogramm gewogen bei 1,60 Meter Körpergröße. "Geredet hatte darüber im deutschen Turnen wirklich jeder, eingeschritten, um mich zu schützen, ist aber leider niemand", schreibt Hinsberger. Kurz darauf seien bei der damals 14-Jährigen unter anderem Depressionen diagnostiziert worden. Als Erste reagierte die frühere EM-Dritte Kim Bui auf Hinsbergers Ausführungen. "Unfassbar deine Geschichte ... und unglaublich mutig, diese nun zu teilen", schrieb die 34-Jährige.

Der Deutsche Turner-Bund hatte beteuert, er habe schon vor drei Jahren auf Missstände reagiert, auf die die einstige Auswahlturnerin Tabea Alt 2021 in einem Brief aufmerksam gemacht hatte. Dieser sei erschreckend und zugleich hilfreich gewesen und nicht ohne Folgen geblieben, hieß es in einer weiteren Stellungnahme zu den von mehreren Athletinnen geäußerten Missbrauchsvorwürfen am Bundesstützpunkt Stuttgart.

"Körperlicher und mentaler Missbrauch"

Neben Alt hatte sich unter anderen auch Michelle Timm zuletzt öffentlich geäußert. Erwähnt wurden "systematischer körperlicher und mentaler Missbrauch" und "katastrophale Umstände". Alt hatte im Dezember erklärt, sie habe die Missstände in Stuttgart und im deutschen Frauenturnen im Allgemeinen klar benannt und bekannt gemacht. Sie habe mit Bedauern feststellen müssen, dass dies erfolglos gewesen sei und zu nichts geführt habe.

Bui, die ihre Karriere 2023 beendete und seit vergangenem Jahr Mitglied der IOC-Athletenkommission ist, trainierte selbst mehr als zwanzig Jahre lang in Stuttgart. Gegenüber dem "Stern" sagte sie, mit den aktuellen Berichten zahlreicher Turnerinnen könne man die Probleme nun nicht mehr als Einzelfälle abtun.

Der Deutsche und der Schwäbische Turnerbund (DTB und STB) hatten zuletzt auf die Vorwürfe der Turnerinnen reagiert. Man sei "betroffen über die zahlreichen Äußerungen von Turnerinnen". Man habe noch vor Weihnachten "vorläufige personelle Konsequenzen" gezogen. Allerdings müsse jetzt, nach der Kritik mehrerer Turnerinnen, "selbstkritisch die Sinnhaftigkeit und der Erfolg der bislang eingeleiteten Maßnahmen grundsätzlich auf den Prüfstand gestellt werden".

Quelle: ntv.de, ter

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